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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Alte Musikübung

Kinder, für die sie bestimmt ist, könnten auch wohl einmal aufmucken gegen
diese "Behandlung." Aus unsrer eignen Kindheit erinnern wir uns wenigstens
nnr zu gut, daß uns Bücher zum Lesen absolut uicht paßten, die uns so
pädagogisch in die Schere nehmen wollten mit onkelhafter Bevormundung und
kantigen Anreden. Ein ordentlicher Junge mochte womöglich für etwas größer
und vernünftiger genommen werden, als er ist, auf keinen Fall will er an¬
gealbert werden wie von einer alten Kindermuhme. Auch solche Geschichten
über größere Knaben, die "erzogen" werden, wie hier ein wohlgemeinter Auf¬
satz über die Kampfspiele der Knaben in Olympia, hätten uns gelangweilt;
wir wollten etwas hören von fertigen Menschen, die so waren, wie wir selbst
hätten werden mögen. Und in einem Buch mit einem so einfältig aussehenden
Jungen, wie er hier abgebildet ist, zuerst auf dem bunten Umschlag der Zeit¬
schrift als Brustbild mit Blumen im Haar, und dann noch einmal über dem
Text, grinsend, in voller Figur, hätten wir überhaupt schwerlich viel gelesen.
Auch hätten wir vermutlich gesagt, das kleine Mädchen da auf dem Dreifarben¬
druck, das sogenannte Sonnenkind, das in die Luft stiert, müßte blödsinnig
sein. Aber Kinder sind ja auch wieder lenksam und weich, und wenn man
ihnen immer wieder vorredet, daß diese Albernheiten Natur seien, so werden
sie am Ende selbst noch ebenso "eigenartig" (nettes Modewort!), wie diese
ganze künstlerische Kultur, von der wir vielleicht in einem nächsten Aufsatz
unsre Leser zu unterhalten Gelegenheit haben werden.




Alte Musikübung

le heute frisch aufblühende Musikwissenschaft bet
rachtet es als
ihre wichtigste Aufgabe, die Quellen zur Musikgeschichte zu ver¬
öffentlichen. Die hauptsächlichsten sind natürlich die Musikwerke
selbst. Die Neuausgabe von Kompositionen alter Meister wird
schon in den meisten europäischen Staaten eifrig betrieben.
Deutschland, das durch die monumentale" Bach- und Händelcmsgabeu den
Anstoß zu der Bewegung gegeben hat, wird, nachdem es sich in den letzten
Jahren von andern Staaten, namentlich Osterreich, hat überflügeln lassen,
voraussichtlich, namentlich dnrch die kürzlich nenbegründeten, vom preußischen
Staate unterstütztem "Denkmäler deutscher Tonkunst" bald wieder die führende
Rolle übernehmen. Von diesen "Denkmälern," von denen jährlich mehrere
Bünde erscheinen sollen (einige sind schon herausgekommen), darf man großes
erwarten, und es ist keine Übertreibung, wenn sie in der Buchhändleranzeige
der Firma Breitkopf und Härtel, die den Verlag übernommen hat, mit den
Nonumsntg. <?6mi!iniiz.s Hi8tori<zg. in Parallele gesetzt werden. Was diese
für die deutsche Geschichtschreibung geworden sind, versprechen jene für die
deutsche Musikgeschichte zu werden. Nachdem das große Unternehmen zustande
gekommen ist, darf man, so glaube ich wenigstens, der weitern Entwicklung


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Kinder, für die sie bestimmt ist, könnten auch wohl einmal aufmucken gegen
diese „Behandlung." Aus unsrer eignen Kindheit erinnern wir uns wenigstens
nnr zu gut, daß uns Bücher zum Lesen absolut uicht paßten, die uns so
pädagogisch in die Schere nehmen wollten mit onkelhafter Bevormundung und
kantigen Anreden. Ein ordentlicher Junge mochte womöglich für etwas größer
und vernünftiger genommen werden, als er ist, auf keinen Fall will er an¬
gealbert werden wie von einer alten Kindermuhme. Auch solche Geschichten
über größere Knaben, die „erzogen" werden, wie hier ein wohlgemeinter Auf¬
satz über die Kampfspiele der Knaben in Olympia, hätten uns gelangweilt;
wir wollten etwas hören von fertigen Menschen, die so waren, wie wir selbst
hätten werden mögen. Und in einem Buch mit einem so einfältig aussehenden
Jungen, wie er hier abgebildet ist, zuerst auf dem bunten Umschlag der Zeit¬
schrift als Brustbild mit Blumen im Haar, und dann noch einmal über dem
Text, grinsend, in voller Figur, hätten wir überhaupt schwerlich viel gelesen.
Auch hätten wir vermutlich gesagt, das kleine Mädchen da auf dem Dreifarben¬
druck, das sogenannte Sonnenkind, das in die Luft stiert, müßte blödsinnig
sein. Aber Kinder sind ja auch wieder lenksam und weich, und wenn man
ihnen immer wieder vorredet, daß diese Albernheiten Natur seien, so werden
sie am Ende selbst noch ebenso „eigenartig" (nettes Modewort!), wie diese
ganze künstlerische Kultur, von der wir vielleicht in einem nächsten Aufsatz
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Alte Musikübung

le heute frisch aufblühende Musikwissenschaft bet
rachtet es als
ihre wichtigste Aufgabe, die Quellen zur Musikgeschichte zu ver¬
öffentlichen. Die hauptsächlichsten sind natürlich die Musikwerke
selbst. Die Neuausgabe von Kompositionen alter Meister wird
schon in den meisten europäischen Staaten eifrig betrieben.
Deutschland, das durch die monumentale» Bach- und Händelcmsgabeu den
Anstoß zu der Bewegung gegeben hat, wird, nachdem es sich in den letzten
Jahren von andern Staaten, namentlich Osterreich, hat überflügeln lassen,
voraussichtlich, namentlich dnrch die kürzlich nenbegründeten, vom preußischen
Staate unterstütztem „Denkmäler deutscher Tonkunst" bald wieder die führende
Rolle übernehmen. Von diesen „Denkmälern," von denen jährlich mehrere
Bünde erscheinen sollen (einige sind schon herausgekommen), darf man großes
erwarten, und es ist keine Übertreibung, wenn sie in der Buchhändleranzeige
der Firma Breitkopf und Härtel, die den Verlag übernommen hat, mit den
Nonumsntg. <?6mi!iniiz.s Hi8tori<zg. in Parallele gesetzt werden. Was diese
für die deutsche Geschichtschreibung geworden sind, versprechen jene für die
deutsche Musikgeschichte zu werden. Nachdem das große Unternehmen zustande
gekommen ist, darf man, so glaube ich wenigstens, der weitern Entwicklung


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[0044] Alte Musikübung Kinder, für die sie bestimmt ist, könnten auch wohl einmal aufmucken gegen diese „Behandlung." Aus unsrer eignen Kindheit erinnern wir uns wenigstens nnr zu gut, daß uns Bücher zum Lesen absolut uicht paßten, die uns so pädagogisch in die Schere nehmen wollten mit onkelhafter Bevormundung und kantigen Anreden. Ein ordentlicher Junge mochte womöglich für etwas größer und vernünftiger genommen werden, als er ist, auf keinen Fall will er an¬ gealbert werden wie von einer alten Kindermuhme. Auch solche Geschichten über größere Knaben, die „erzogen" werden, wie hier ein wohlgemeinter Auf¬ satz über die Kampfspiele der Knaben in Olympia, hätten uns gelangweilt; wir wollten etwas hören von fertigen Menschen, die so waren, wie wir selbst hätten werden mögen. Und in einem Buch mit einem so einfältig aussehenden Jungen, wie er hier abgebildet ist, zuerst auf dem bunten Umschlag der Zeit¬ schrift als Brustbild mit Blumen im Haar, und dann noch einmal über dem Text, grinsend, in voller Figur, hätten wir überhaupt schwerlich viel gelesen. Auch hätten wir vermutlich gesagt, das kleine Mädchen da auf dem Dreifarben¬ druck, das sogenannte Sonnenkind, das in die Luft stiert, müßte blödsinnig sein. Aber Kinder sind ja auch wieder lenksam und weich, und wenn man ihnen immer wieder vorredet, daß diese Albernheiten Natur seien, so werden sie am Ende selbst noch ebenso „eigenartig" (nettes Modewort!), wie diese ganze künstlerische Kultur, von der wir vielleicht in einem nächsten Aufsatz unsre Leser zu unterhalten Gelegenheit haben werden. Alte Musikübung le heute frisch aufblühende Musikwissenschaft bet rachtet es als ihre wichtigste Aufgabe, die Quellen zur Musikgeschichte zu ver¬ öffentlichen. Die hauptsächlichsten sind natürlich die Musikwerke selbst. Die Neuausgabe von Kompositionen alter Meister wird schon in den meisten europäischen Staaten eifrig betrieben. Deutschland, das durch die monumentale» Bach- und Händelcmsgabeu den Anstoß zu der Bewegung gegeben hat, wird, nachdem es sich in den letzten Jahren von andern Staaten, namentlich Osterreich, hat überflügeln lassen, voraussichtlich, namentlich dnrch die kürzlich nenbegründeten, vom preußischen Staate unterstütztem „Denkmäler deutscher Tonkunst" bald wieder die führende Rolle übernehmen. Von diesen „Denkmälern," von denen jährlich mehrere Bünde erscheinen sollen (einige sind schon herausgekommen), darf man großes erwarten, und es ist keine Übertreibung, wenn sie in der Buchhändleranzeige der Firma Breitkopf und Härtel, die den Verlag übernommen hat, mit den Nonumsntg. <?6mi!iniiz.s Hi8tori<zg. in Parallele gesetzt werden. Was diese für die deutsche Geschichtschreibung geworden sind, versprechen jene für die deutsche Musikgeschichte zu werden. Nachdem das große Unternehmen zustande gekommen ist, darf man, so glaube ich wenigstens, der weitern Entwicklung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/44>, abgerufen am 29.04.2024.