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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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August Reichlüisxorgor

Die Entwicklung der Dinge um die Südtordillere dürfte demnach früher
oder später eine interessante Rolle auf dem politischen Theater zu spielen be¬
rufen sein. Die Streitfrage an sich bietet ein fesselndes Problem; die beiden
Partner sind zudem Staaten, die sich einer lebhaften Beachtung bei dem euro¬
päischen Bank-, Industrie- und Handelskapital erfreuen, und denen gewisse
weltwirtschaftliche Funktionen in der Rohstoff- und Nahrnngsmittelversorgung
der alten Kulturländer zufallen. Vor allem aber werden, wenn England seine
Politische Vermittlung ernsthaft zu betreiben gesonnen sein sollte, die Vereinigten
Staaten dies wahrscheinlich nicht ruhig mit ansehen, vielmehr die Gelegenheit
wahrnehmen, die jüngst von ihnen beliebte Auslegung der Monroedoktrin:
"Ganz Amerika den Nordamerikanern" -- das heißt Ausschluß jeder europäischen
Einmischung in nord- und südamerikanische Angelegenheiten -- mit Nachdruck
aufs neue geltend zu machen. Aus der Abwicklung der alsdann mit Not¬
wendigkeit eintretenden Interessenkonflikte dürften sich für die südamerikanische
wie für die gesamte Weltpolitik uicht unwichtige Lehren ergeben, vielleicht noch
wichtigere als aus dem gegenwärtigen Zwischenfall in Venezuela.

Südamerika darf uns nicht mehr ganz "Hekuba" sein.




August Reichensperger

n dem hohen Alter von 87 Jahren starb 1895 in Köln August
Reichensperger. Ob es hente noch viele sind, die eine lebendige
Erinnerung haben an den Einfluß, den der "Kölner Appellrat"
einst in der Konfliktszeit als Mitglied der zweiten Kammer hatte,
der er zuerst von 1851 bis 1863 angehörte? Später, zur Zeit
des Kulturkampfes, als er zum zweitenmal im Abgeordnetenhause und eben¬
falls im Reichstage saß (bis 1885) und persönlich nicht weniger leistete, trat
^ in der Popularität schon zurück, namentlich hinter die "kleine Exzellenz,"
die alle Eigenschaften dazu hatte, andern den Wind aus den Segeln zu nehmen.
dauerhaftesten und jedenfalls für uns alle am erfreulichsten wird sein
Ruhm als "Gotiker" sein. Der Spott, den er dafür einst auf sich nehmen
wußte, ist längst verstummt und vergessen, aber der vollendete Kölner Dom
und Hunderte von neugebauten oder restaurierten Kirchen sind unvergängliche
Zeugnisse seiner Verdienste um die Wiederbelebung der alten deutschen Kunst.
Als Kirchenpolitiker und Zentrnmsführcr verfolgte er Ziele, denen unsre Art
^on nationaler Empfindung widerstreben muß, und daß ihn die Seinen den
"deutschen Montalembert" nannten, scheint uns ein zweifelhafter Ruhm. Lieber
wollen wir ihn als den deutschen Ruskin ansehen; er war nicht so geistreich,
aber klarer und praktischer als sein jüngerer englischer Zeitgenosse. Die dank¬
bare Aufgabe, ein so inhaltvolles, an tausend Punkten mit der großen Zeit¬
geschichte verknüpftes Lebe" zu schildern, hat Professor Ludwig Pastor in Inns-


August Reichlüisxorgor

Die Entwicklung der Dinge um die Südtordillere dürfte demnach früher
oder später eine interessante Rolle auf dem politischen Theater zu spielen be¬
rufen sein. Die Streitfrage an sich bietet ein fesselndes Problem; die beiden
Partner sind zudem Staaten, die sich einer lebhaften Beachtung bei dem euro¬
päischen Bank-, Industrie- und Handelskapital erfreuen, und denen gewisse
weltwirtschaftliche Funktionen in der Rohstoff- und Nahrnngsmittelversorgung
der alten Kulturländer zufallen. Vor allem aber werden, wenn England seine
Politische Vermittlung ernsthaft zu betreiben gesonnen sein sollte, die Vereinigten
Staaten dies wahrscheinlich nicht ruhig mit ansehen, vielmehr die Gelegenheit
wahrnehmen, die jüngst von ihnen beliebte Auslegung der Monroedoktrin:
»Ganz Amerika den Nordamerikanern" — das heißt Ausschluß jeder europäischen
Einmischung in nord- und südamerikanische Angelegenheiten — mit Nachdruck
aufs neue geltend zu machen. Aus der Abwicklung der alsdann mit Not¬
wendigkeit eintretenden Interessenkonflikte dürften sich für die südamerikanische
wie für die gesamte Weltpolitik uicht unwichtige Lehren ergeben, vielleicht noch
wichtigere als aus dem gegenwärtigen Zwischenfall in Venezuela.

Südamerika darf uns nicht mehr ganz „Hekuba" sein.




August Reichensperger

n dem hohen Alter von 87 Jahren starb 1895 in Köln August
Reichensperger. Ob es hente noch viele sind, die eine lebendige
Erinnerung haben an den Einfluß, den der „Kölner Appellrat"
einst in der Konfliktszeit als Mitglied der zweiten Kammer hatte,
der er zuerst von 1851 bis 1863 angehörte? Später, zur Zeit
des Kulturkampfes, als er zum zweitenmal im Abgeordnetenhause und eben¬
falls im Reichstage saß (bis 1885) und persönlich nicht weniger leistete, trat
^ in der Popularität schon zurück, namentlich hinter die „kleine Exzellenz,"
die alle Eigenschaften dazu hatte, andern den Wind aus den Segeln zu nehmen.
dauerhaftesten und jedenfalls für uns alle am erfreulichsten wird sein
Ruhm als „Gotiker" sein. Der Spott, den er dafür einst auf sich nehmen
wußte, ist längst verstummt und vergessen, aber der vollendete Kölner Dom
und Hunderte von neugebauten oder restaurierten Kirchen sind unvergängliche
Zeugnisse seiner Verdienste um die Wiederbelebung der alten deutschen Kunst.
Als Kirchenpolitiker und Zentrnmsführcr verfolgte er Ziele, denen unsre Art
^on nationaler Empfindung widerstreben muß, und daß ihn die Seinen den
"deutschen Montalembert" nannten, scheint uns ein zweifelhafter Ruhm. Lieber
wollen wir ihn als den deutschen Ruskin ansehen; er war nicht so geistreich,
aber klarer und praktischer als sein jüngerer englischer Zeitgenosse. Die dank¬
bare Aufgabe, ein so inhaltvolles, an tausend Punkten mit der großen Zeit¬
geschichte verknüpftes Lebe» zu schildern, hat Professor Ludwig Pastor in Inns-


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[0595] August Reichlüisxorgor Die Entwicklung der Dinge um die Südtordillere dürfte demnach früher oder später eine interessante Rolle auf dem politischen Theater zu spielen be¬ rufen sein. Die Streitfrage an sich bietet ein fesselndes Problem; die beiden Partner sind zudem Staaten, die sich einer lebhaften Beachtung bei dem euro¬ päischen Bank-, Industrie- und Handelskapital erfreuen, und denen gewisse weltwirtschaftliche Funktionen in der Rohstoff- und Nahrnngsmittelversorgung der alten Kulturländer zufallen. Vor allem aber werden, wenn England seine Politische Vermittlung ernsthaft zu betreiben gesonnen sein sollte, die Vereinigten Staaten dies wahrscheinlich nicht ruhig mit ansehen, vielmehr die Gelegenheit wahrnehmen, die jüngst von ihnen beliebte Auslegung der Monroedoktrin: »Ganz Amerika den Nordamerikanern" — das heißt Ausschluß jeder europäischen Einmischung in nord- und südamerikanische Angelegenheiten — mit Nachdruck aufs neue geltend zu machen. Aus der Abwicklung der alsdann mit Not¬ wendigkeit eintretenden Interessenkonflikte dürften sich für die südamerikanische wie für die gesamte Weltpolitik uicht unwichtige Lehren ergeben, vielleicht noch wichtigere als aus dem gegenwärtigen Zwischenfall in Venezuela. Südamerika darf uns nicht mehr ganz „Hekuba" sein. August Reichensperger n dem hohen Alter von 87 Jahren starb 1895 in Köln August Reichensperger. Ob es hente noch viele sind, die eine lebendige Erinnerung haben an den Einfluß, den der „Kölner Appellrat" einst in der Konfliktszeit als Mitglied der zweiten Kammer hatte, der er zuerst von 1851 bis 1863 angehörte? Später, zur Zeit des Kulturkampfes, als er zum zweitenmal im Abgeordnetenhause und eben¬ falls im Reichstage saß (bis 1885) und persönlich nicht weniger leistete, trat ^ in der Popularität schon zurück, namentlich hinter die „kleine Exzellenz," die alle Eigenschaften dazu hatte, andern den Wind aus den Segeln zu nehmen. dauerhaftesten und jedenfalls für uns alle am erfreulichsten wird sein Ruhm als „Gotiker" sein. Der Spott, den er dafür einst auf sich nehmen wußte, ist längst verstummt und vergessen, aber der vollendete Kölner Dom und Hunderte von neugebauten oder restaurierten Kirchen sind unvergängliche Zeugnisse seiner Verdienste um die Wiederbelebung der alten deutschen Kunst. Als Kirchenpolitiker und Zentrnmsführcr verfolgte er Ziele, denen unsre Art ^on nationaler Empfindung widerstreben muß, und daß ihn die Seinen den "deutschen Montalembert" nannten, scheint uns ein zweifelhafter Ruhm. Lieber wollen wir ihn als den deutschen Ruskin ansehen; er war nicht so geistreich, aber klarer und praktischer als sein jüngerer englischer Zeitgenosse. Die dank¬ bare Aufgabe, ein so inhaltvolles, an tausend Punkten mit der großen Zeit¬ geschichte verknüpftes Lebe» zu schildern, hat Professor Ludwig Pastor in Inns-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/595>, abgerufen am 29.04.2024.