Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Uinnaßgebliches

den ausgewanderten Landsleuten zu bewahren." Nicht immer kann man aus Prinzipien
alle praktischen Konsequenzen zieh", wenn man sie auch theoretisch uicht aufgiebt. Der
Anspruch der römischen Kirche auf selbständige Abgrenzung ihres Machtkreises und
die Souveränität des modernen Staats stehn in prinzipiellem Widerspruch, aber
beide müssen sich praktisch doch immer wieder miteinander vertragen. Wir haben
in Deutschland schon so manches altehrwürdige Kriegsbeil begraben und müssen
damit fortfahren, wenn wir weiter leben wollen; kein Volk Europas hat das so nötig
wie wir. So mag dereinst vielleicht anch das jesuitische Kriegsbeil begraben werden,
und die Zeit mag kommen, wo die beiden Kirchen friedlich und freundlich neben¬
einander wetteifernd am Wohl unsers Volkes und damit der Menschheit arbeiten
werden, ohne ihre Besonderheiten, in denen ihre eigentümliche Kraft beruht, auf¬
zugeben. Aber dann muß sich erst die Meinung des protestantischen Volkes über
die Jesuiten ändern. Die bloße Polemik hilft hier gar nichts, vielleicht aber die
Belehrung, die ehrliche, sachliche Diskussion. Wie wäre es, wenn Herr Dr. Spahn,
der doch überzeugt ist, daß die heutigen deutschen Jesuiten die alten Vorwürfe
nicht mehr verdienen, zunächst eine möglichst allgemein verständliche und unbefangne
Darstellung ihres Wirkens als Lehrer, Missionare und Gelehrte in der Gegenwart
oder seit der Wiederherstellung des Ordens 1814 unternähme oder veranlaßte, die
einfach die Thatsachen reden ließe? Daß eine solche Darstellung in der protestan¬
tischen Presse totgeschwiegen würde, wäre kaum zu befürchten -- die Grenzboten
würden sie sicher nicht totschweigen --, und so würde sie auch allmählich auf die ge¬
bildeten Protestanten wirken. Denn auf diese kommt es zunächst an, nicht ans die
Massen. Änderte sich unser Urteil über die Jesuiten, könnten wir uns mit gutem
Grunde davon überzeugen, ..daß diese nicht mehr die Erzfeinde unsrer Kirche, sondern
nur treue Priester der katholischen Kirche und gute Deutsche sind, dann würde der
Boden bereitet, auf dem die Jesuiten den Rückweg ins Vaterland finden könnten.
Aber niemals darf diese Rückkehr eine Kapitulation des Deutschen Reichs und des
Protestantismus vor der römischen Kirche sein. -
Gelo Uaemmel


Die Studentenunrnhen an den russischen Hochschule".

Bei den
jetzt wiederholt in der Presse auftauchende" Notizen und unklaren Gerüchten über
die Unruhen an den russischen Hochschulen und bet den sich daran knüpfenden
Mntmaßuugen und Befürchtungen vor dem drohenden Gespenst der Revolution
wollen wir versuchen, dem deutschen Leser die den Unruhen zu Grunde liegenden
Ursachen verständlicher zu machen. Um den jungen russischen Studenten in seinem
stark ausgeprägten Triebe nach Befreiung von allen Fesseln und jedem Zwang
besser zu verstehn, ist es notwendig, einen kurzen Blick ans die seiner Studienzeit
vorausgehende Schulzeit zu werfen. Von dem Tage seines Eintritts in eine
öffentliche Schule bis zur Vollendung seines Studiums auf der Universität muß
der russische Jüngling in Uniform erscheinen; dieser Uniformzwang trägt wesentlich
dazu bei, daß sich der russische Schüler seinem gleichfalls uniformierten Lehrer gegen¬
über hauptsächlich als Untergebner fühlt, fast wie ein Soldat seinem Offizier
gegenüber. In den meisten Fällen tritt er infolgedessen während seiner ganzen
Schulzeit in gar keine nähern Beziehungen zu seinem Lehrer, dieser ist und bleibt für
ihn uur der strenge Richter und Vorgesetzte, der unerbittlich jedes Versehen straft
und durch eine schlechte Zensur sogar den häuslichen Frieden zu stören droht.
Das oft herzliche patriarchalische Verhältnis, wie es sich wohl auf deutschen Schulen
zwischen Lehrer und Schüler mit der Zeit auszubilden pflegt, ja häufig zu einer
Freundschaft für das ganze Leben wird, kennt der russische Zögling nicht; der Lehrer
ist und bleibt ihm ein Fremder, zumal wenn er, wie es sast immer der Fall zu
sein pflegt, aus einem andern, entfernten Gouvernement des ungeheuern Reiches
stammt. In Rußland kommt es nicht selten vor, daß z. B. ein Lehrer, der in
Kasan seine Studien betrieben hat und aus dem Ural stammt, nach Polen geschickt
wird; ein Pole wird nach Sibirien versetzt, ein Sibirier endlich soll erziehend auf


Maßgebliches und Uinnaßgebliches

den ausgewanderten Landsleuten zu bewahren." Nicht immer kann man aus Prinzipien
alle praktischen Konsequenzen zieh», wenn man sie auch theoretisch uicht aufgiebt. Der
Anspruch der römischen Kirche auf selbständige Abgrenzung ihres Machtkreises und
die Souveränität des modernen Staats stehn in prinzipiellem Widerspruch, aber
beide müssen sich praktisch doch immer wieder miteinander vertragen. Wir haben
in Deutschland schon so manches altehrwürdige Kriegsbeil begraben und müssen
damit fortfahren, wenn wir weiter leben wollen; kein Volk Europas hat das so nötig
wie wir. So mag dereinst vielleicht anch das jesuitische Kriegsbeil begraben werden,
und die Zeit mag kommen, wo die beiden Kirchen friedlich und freundlich neben¬
einander wetteifernd am Wohl unsers Volkes und damit der Menschheit arbeiten
werden, ohne ihre Besonderheiten, in denen ihre eigentümliche Kraft beruht, auf¬
zugeben. Aber dann muß sich erst die Meinung des protestantischen Volkes über
die Jesuiten ändern. Die bloße Polemik hilft hier gar nichts, vielleicht aber die
Belehrung, die ehrliche, sachliche Diskussion. Wie wäre es, wenn Herr Dr. Spahn,
der doch überzeugt ist, daß die heutigen deutschen Jesuiten die alten Vorwürfe
nicht mehr verdienen, zunächst eine möglichst allgemein verständliche und unbefangne
Darstellung ihres Wirkens als Lehrer, Missionare und Gelehrte in der Gegenwart
oder seit der Wiederherstellung des Ordens 1814 unternähme oder veranlaßte, die
einfach die Thatsachen reden ließe? Daß eine solche Darstellung in der protestan¬
tischen Presse totgeschwiegen würde, wäre kaum zu befürchten — die Grenzboten
würden sie sicher nicht totschweigen —, und so würde sie auch allmählich auf die ge¬
bildeten Protestanten wirken. Denn auf diese kommt es zunächst an, nicht ans die
Massen. Änderte sich unser Urteil über die Jesuiten, könnten wir uns mit gutem
Grunde davon überzeugen, ..daß diese nicht mehr die Erzfeinde unsrer Kirche, sondern
nur treue Priester der katholischen Kirche und gute Deutsche sind, dann würde der
Boden bereitet, auf dem die Jesuiten den Rückweg ins Vaterland finden könnten.
Aber niemals darf diese Rückkehr eine Kapitulation des Deutschen Reichs und des
Protestantismus vor der römischen Kirche sein. -
Gelo Uaemmel


Die Studentenunrnhen an den russischen Hochschule».

Bei den
jetzt wiederholt in der Presse auftauchende» Notizen und unklaren Gerüchten über
die Unruhen an den russischen Hochschulen und bet den sich daran knüpfenden
Mntmaßuugen und Befürchtungen vor dem drohenden Gespenst der Revolution
wollen wir versuchen, dem deutschen Leser die den Unruhen zu Grunde liegenden
Ursachen verständlicher zu machen. Um den jungen russischen Studenten in seinem
stark ausgeprägten Triebe nach Befreiung von allen Fesseln und jedem Zwang
besser zu verstehn, ist es notwendig, einen kurzen Blick ans die seiner Studienzeit
vorausgehende Schulzeit zu werfen. Von dem Tage seines Eintritts in eine
öffentliche Schule bis zur Vollendung seines Studiums auf der Universität muß
der russische Jüngling in Uniform erscheinen; dieser Uniformzwang trägt wesentlich
dazu bei, daß sich der russische Schüler seinem gleichfalls uniformierten Lehrer gegen¬
über hauptsächlich als Untergebner fühlt, fast wie ein Soldat seinem Offizier
gegenüber. In den meisten Fällen tritt er infolgedessen während seiner ganzen
Schulzeit in gar keine nähern Beziehungen zu seinem Lehrer, dieser ist und bleibt für
ihn uur der strenge Richter und Vorgesetzte, der unerbittlich jedes Versehen straft
und durch eine schlechte Zensur sogar den häuslichen Frieden zu stören droht.
Das oft herzliche patriarchalische Verhältnis, wie es sich wohl auf deutschen Schulen
zwischen Lehrer und Schüler mit der Zeit auszubilden pflegt, ja häufig zu einer
Freundschaft für das ganze Leben wird, kennt der russische Zögling nicht; der Lehrer
ist und bleibt ihm ein Fremder, zumal wenn er, wie es sast immer der Fall zu
sein pflegt, aus einem andern, entfernten Gouvernement des ungeheuern Reiches
stammt. In Rußland kommt es nicht selten vor, daß z. B. ein Lehrer, der in
Kasan seine Studien betrieben hat und aus dem Ural stammt, nach Polen geschickt
wird; ein Pole wird nach Sibirien versetzt, ein Sibirier endlich soll erziehend auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237636"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Uinnaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1781" prev="#ID_1780"> den ausgewanderten Landsleuten zu bewahren." Nicht immer kann man aus Prinzipien<lb/>
alle praktischen Konsequenzen zieh», wenn man sie auch theoretisch uicht aufgiebt. Der<lb/>
Anspruch der römischen Kirche auf selbständige Abgrenzung ihres Machtkreises und<lb/>
die Souveränität des modernen Staats stehn in prinzipiellem Widerspruch, aber<lb/>
beide müssen sich praktisch doch immer wieder miteinander vertragen. Wir haben<lb/>
in Deutschland schon so manches altehrwürdige Kriegsbeil begraben und müssen<lb/>
damit fortfahren, wenn wir weiter leben wollen; kein Volk Europas hat das so nötig<lb/>
wie wir. So mag dereinst vielleicht anch das jesuitische Kriegsbeil begraben werden,<lb/>
und die Zeit mag kommen, wo die beiden Kirchen friedlich und freundlich neben¬<lb/>
einander wetteifernd am Wohl unsers Volkes und damit der Menschheit arbeiten<lb/>
werden, ohne ihre Besonderheiten, in denen ihre eigentümliche Kraft beruht, auf¬<lb/>
zugeben. Aber dann muß sich erst die Meinung des protestantischen Volkes über<lb/>
die Jesuiten ändern. Die bloße Polemik hilft hier gar nichts, vielleicht aber die<lb/>
Belehrung, die ehrliche, sachliche Diskussion. Wie wäre es, wenn Herr Dr. Spahn,<lb/>
der doch überzeugt ist, daß die heutigen deutschen Jesuiten die alten Vorwürfe<lb/>
nicht mehr verdienen, zunächst eine möglichst allgemein verständliche und unbefangne<lb/>
Darstellung ihres Wirkens als Lehrer, Missionare und Gelehrte in der Gegenwart<lb/>
oder seit der Wiederherstellung des Ordens 1814 unternähme oder veranlaßte, die<lb/>
einfach die Thatsachen reden ließe? Daß eine solche Darstellung in der protestan¬<lb/>
tischen Presse totgeschwiegen würde, wäre kaum zu befürchten &#x2014; die Grenzboten<lb/>
würden sie sicher nicht totschweigen &#x2014;, und so würde sie auch allmählich auf die ge¬<lb/>
bildeten Protestanten wirken. Denn auf diese kommt es zunächst an, nicht ans die<lb/>
Massen. Änderte sich unser Urteil über die Jesuiten, könnten wir uns mit gutem<lb/>
Grunde davon überzeugen, ..daß diese nicht mehr die Erzfeinde unsrer Kirche, sondern<lb/>
nur treue Priester der katholischen Kirche und gute Deutsche sind, dann würde der<lb/>
Boden bereitet, auf dem die Jesuiten den Rückweg ins Vaterland finden könnten.<lb/>
Aber niemals darf diese Rückkehr eine Kapitulation des Deutschen Reichs und des<lb/>
Protestantismus vor der römischen Kirche sein. -<lb/><note type="byline"> Gelo Uaemmel</note><lb/></p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Die Studentenunrnhen an den russischen Hochschule».</head>
            <p xml:id="ID_1782" next="#ID_1783"> Bei den<lb/>
jetzt wiederholt in der Presse auftauchende» Notizen und unklaren Gerüchten über<lb/>
die Unruhen an den russischen Hochschulen und bet den sich daran knüpfenden<lb/>
Mntmaßuugen und Befürchtungen vor dem drohenden Gespenst der Revolution<lb/>
wollen wir versuchen, dem deutschen Leser die den Unruhen zu Grunde liegenden<lb/>
Ursachen verständlicher zu machen. Um den jungen russischen Studenten in seinem<lb/>
stark ausgeprägten Triebe nach Befreiung von allen Fesseln und jedem Zwang<lb/>
besser zu verstehn, ist es notwendig, einen kurzen Blick ans die seiner Studienzeit<lb/>
vorausgehende Schulzeit zu werfen. Von dem Tage seines Eintritts in eine<lb/>
öffentliche Schule bis zur Vollendung seines Studiums auf der Universität muß<lb/>
der russische Jüngling in Uniform erscheinen; dieser Uniformzwang trägt wesentlich<lb/>
dazu bei, daß sich der russische Schüler seinem gleichfalls uniformierten Lehrer gegen¬<lb/>
über hauptsächlich als Untergebner fühlt, fast wie ein Soldat seinem Offizier<lb/>
gegenüber. In den meisten Fällen tritt er infolgedessen während seiner ganzen<lb/>
Schulzeit in gar keine nähern Beziehungen zu seinem Lehrer, dieser ist und bleibt für<lb/>
ihn uur der strenge Richter und Vorgesetzte, der unerbittlich jedes Versehen straft<lb/>
und durch eine schlechte Zensur sogar den häuslichen Frieden zu stören droht.<lb/>
Das oft herzliche patriarchalische Verhältnis, wie es sich wohl auf deutschen Schulen<lb/>
zwischen Lehrer und Schüler mit der Zeit auszubilden pflegt, ja häufig zu einer<lb/>
Freundschaft für das ganze Leben wird, kennt der russische Zögling nicht; der Lehrer<lb/>
ist und bleibt ihm ein Fremder, zumal wenn er, wie es sast immer der Fall zu<lb/>
sein pflegt, aus einem andern, entfernten Gouvernement des ungeheuern Reiches<lb/>
stammt. In Rußland kommt es nicht selten vor, daß z. B. ein Lehrer, der in<lb/>
Kasan seine Studien betrieben hat und aus dem Ural stammt, nach Polen geschickt<lb/>
wird; ein Pole wird nach Sibirien versetzt, ein Sibirier endlich soll erziehend auf</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] Maßgebliches und Uinnaßgebliches den ausgewanderten Landsleuten zu bewahren." Nicht immer kann man aus Prinzipien alle praktischen Konsequenzen zieh», wenn man sie auch theoretisch uicht aufgiebt. Der Anspruch der römischen Kirche auf selbständige Abgrenzung ihres Machtkreises und die Souveränität des modernen Staats stehn in prinzipiellem Widerspruch, aber beide müssen sich praktisch doch immer wieder miteinander vertragen. Wir haben in Deutschland schon so manches altehrwürdige Kriegsbeil begraben und müssen damit fortfahren, wenn wir weiter leben wollen; kein Volk Europas hat das so nötig wie wir. So mag dereinst vielleicht anch das jesuitische Kriegsbeil begraben werden, und die Zeit mag kommen, wo die beiden Kirchen friedlich und freundlich neben¬ einander wetteifernd am Wohl unsers Volkes und damit der Menschheit arbeiten werden, ohne ihre Besonderheiten, in denen ihre eigentümliche Kraft beruht, auf¬ zugeben. Aber dann muß sich erst die Meinung des protestantischen Volkes über die Jesuiten ändern. Die bloße Polemik hilft hier gar nichts, vielleicht aber die Belehrung, die ehrliche, sachliche Diskussion. Wie wäre es, wenn Herr Dr. Spahn, der doch überzeugt ist, daß die heutigen deutschen Jesuiten die alten Vorwürfe nicht mehr verdienen, zunächst eine möglichst allgemein verständliche und unbefangne Darstellung ihres Wirkens als Lehrer, Missionare und Gelehrte in der Gegenwart oder seit der Wiederherstellung des Ordens 1814 unternähme oder veranlaßte, die einfach die Thatsachen reden ließe? Daß eine solche Darstellung in der protestan¬ tischen Presse totgeschwiegen würde, wäre kaum zu befürchten — die Grenzboten würden sie sicher nicht totschweigen —, und so würde sie auch allmählich auf die ge¬ bildeten Protestanten wirken. Denn auf diese kommt es zunächst an, nicht ans die Massen. Änderte sich unser Urteil über die Jesuiten, könnten wir uns mit gutem Grunde davon überzeugen, ..daß diese nicht mehr die Erzfeinde unsrer Kirche, sondern nur treue Priester der katholischen Kirche und gute Deutsche sind, dann würde der Boden bereitet, auf dem die Jesuiten den Rückweg ins Vaterland finden könnten. Aber niemals darf diese Rückkehr eine Kapitulation des Deutschen Reichs und des Protestantismus vor der römischen Kirche sein. - Gelo Uaemmel Die Studentenunrnhen an den russischen Hochschule». Bei den jetzt wiederholt in der Presse auftauchende» Notizen und unklaren Gerüchten über die Unruhen an den russischen Hochschulen und bet den sich daran knüpfenden Mntmaßuugen und Befürchtungen vor dem drohenden Gespenst der Revolution wollen wir versuchen, dem deutschen Leser die den Unruhen zu Grunde liegenden Ursachen verständlicher zu machen. Um den jungen russischen Studenten in seinem stark ausgeprägten Triebe nach Befreiung von allen Fesseln und jedem Zwang besser zu verstehn, ist es notwendig, einen kurzen Blick ans die seiner Studienzeit vorausgehende Schulzeit zu werfen. Von dem Tage seines Eintritts in eine öffentliche Schule bis zur Vollendung seines Studiums auf der Universität muß der russische Jüngling in Uniform erscheinen; dieser Uniformzwang trägt wesentlich dazu bei, daß sich der russische Schüler seinem gleichfalls uniformierten Lehrer gegen¬ über hauptsächlich als Untergebner fühlt, fast wie ein Soldat seinem Offizier gegenüber. In den meisten Fällen tritt er infolgedessen während seiner ganzen Schulzeit in gar keine nähern Beziehungen zu seinem Lehrer, dieser ist und bleibt für ihn uur der strenge Richter und Vorgesetzte, der unerbittlich jedes Versehen straft und durch eine schlechte Zensur sogar den häuslichen Frieden zu stören droht. Das oft herzliche patriarchalische Verhältnis, wie es sich wohl auf deutschen Schulen zwischen Lehrer und Schüler mit der Zeit auszubilden pflegt, ja häufig zu einer Freundschaft für das ganze Leben wird, kennt der russische Zögling nicht; der Lehrer ist und bleibt ihm ein Fremder, zumal wenn er, wie es sast immer der Fall zu sein pflegt, aus einem andern, entfernten Gouvernement des ungeheuern Reiches stammt. In Rußland kommt es nicht selten vor, daß z. B. ein Lehrer, der in Kasan seine Studien betrieben hat und aus dem Ural stammt, nach Polen geschickt wird; ein Pole wird nach Sibirien versetzt, ein Sibirier endlich soll erziehend auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/350>, abgerufen am 29.04.2024.