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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Drei Wiener Aunstbriefe

Über Beethovens musikalische Bedeutung und schöpferische Individualität aus
dem tiefsten Studium seiner Werke gewonnen hat? Dann müssen wir auch
die weitern Beigaben zu Rate ziehn und eine Antwort zurückhalten, bis wir
das Ganze in allen seinen Teilen kennen gelernt haben.

Und wenn wir zu Anfang auch den Vorstcllungslauf freilegen mußten,
der in den Köpfen derer, die Beethoven nicht im Gedächtnis tragen, not¬
wendig zum Austrag kommt und dem Genuß des Kunstwerks hinderlich im
Wege steht -- wie gern würden wir nun alle Voraussetzungen einfach an¬
nehmen und der Schöpfung des Künstlers die vollste Anerkennung zollen.


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Den näher kommenden Betrachter des Bildwerks beschäftigt notwendiger¬
weise der Gegensatz zwischen der weißen Marmvrfigur und den übrigen Bestand¬
teilen ans farbigem Material. Um so mehr, als er nicht im Zweifel darüber
bleiben kann, daß gerade der farbige Eindruck dieser verschiednen hier zusammen¬
gefügten Stoffe nach dem Sinn des Meisters eine der wesentlichen Eigenschaften
sei, aus denen sich die Entstehung des Ganzen erklärt. Mit Absicht ist in dein
Ausstellungsraum die Pracht des Kleinods in der Mitte dnrch die Einfachheit,
ja eine gewisse Öde der Wandung umher erst recht hervorgehoben -- ob ganz
mit Recht, ist eine andre Frage. Versuchen wir auch diesen Weg zum Ver¬
ständnis! Er führt uus unmittelbar von dem Sinnlichen, sozusagen Elemen¬
taren in die Geheimnisse des Empfindens und lehrt uns so vielleicht zuver¬
lässiger die Ausdrucksweise, die in Farbe geboren, sich nicht von dem Medium
losen will, solange es irgend geht.

Die Liebe zu deu wunderbaren Erzengnissen der unorganischen Natur,
diesen gestreiften und geäderten Marmorsorten oder dem leuchtenden, hier
durchsichtig gelben, dort milchweißen Gestein, das wie im Fluß der Massen
weich durcheinander geglitten, im Schoße der Berge zur Deinauthürtc erstarrt
ist und doch den Schein eine.r sanften Bewegung aus eigner Kraft, eines
lebendigen Wachstums von innen her bewahrt -- das Gefühl für die urzeit¬
lichen, den Gebilden erfinderischer Menschennrbeit so verwandten Stoffe hat
unverkennbar bei der Konzeption des Gesamteindrucks wie bei Gestalt und
Fügung der Teile bestimmend angesprochen, wenn nicht den Grundton
angegeben oder gar den entscheidenden Einfluß behalten. Und wer die innere
Bildung dieser Gesteine mit hingebenden Blick verfolgt, der bewundert gewiß
bald auch die Hand des Künstlers, die hier gewaltet hat. Mit welcher An¬
passung an die eigentümlichen Schönheiten dieser Gewächse ist sie bemüht
gewesen, so viel wie möglich zu schonen und die natürlichen Formen an der
Stelle, für die sie gewühlt worden sind, für sich selber wirken zu lassen. Es
sind Mysterien unsrer eignen sinnlich-geistigen Natur, in die wir bei solchem
Prozeß des Schaffens hineinsehen, und Grundfragen des Materiälstils und
seiner Machtsphüre drungen sich auf. An ihrer Grenze steht die verhängnis¬
volle Entscheidung, wie weit die Geisteskraft bewußten Schaffens sich diesem
dunklern Gestaltungsdrang vertrauen mag -- wie weit der gefundne Stein¬
block die Phantasie des Künstlers bei der Geburt der Form gefangen nehmen


Drei Wiener Aunstbriefe

Über Beethovens musikalische Bedeutung und schöpferische Individualität aus
dem tiefsten Studium seiner Werke gewonnen hat? Dann müssen wir auch
die weitern Beigaben zu Rate ziehn und eine Antwort zurückhalten, bis wir
das Ganze in allen seinen Teilen kennen gelernt haben.

Und wenn wir zu Anfang auch den Vorstcllungslauf freilegen mußten,
der in den Köpfen derer, die Beethoven nicht im Gedächtnis tragen, not¬
wendig zum Austrag kommt und dem Genuß des Kunstwerks hinderlich im
Wege steht — wie gern würden wir nun alle Voraussetzungen einfach an¬
nehmen und der Schöpfung des Künstlers die vollste Anerkennung zollen.


2

Den näher kommenden Betrachter des Bildwerks beschäftigt notwendiger¬
weise der Gegensatz zwischen der weißen Marmvrfigur und den übrigen Bestand¬
teilen ans farbigem Material. Um so mehr, als er nicht im Zweifel darüber
bleiben kann, daß gerade der farbige Eindruck dieser verschiednen hier zusammen¬
gefügten Stoffe nach dem Sinn des Meisters eine der wesentlichen Eigenschaften
sei, aus denen sich die Entstehung des Ganzen erklärt. Mit Absicht ist in dein
Ausstellungsraum die Pracht des Kleinods in der Mitte dnrch die Einfachheit,
ja eine gewisse Öde der Wandung umher erst recht hervorgehoben — ob ganz
mit Recht, ist eine andre Frage. Versuchen wir auch diesen Weg zum Ver¬
ständnis! Er führt uus unmittelbar von dem Sinnlichen, sozusagen Elemen¬
taren in die Geheimnisse des Empfindens und lehrt uns so vielleicht zuver¬
lässiger die Ausdrucksweise, die in Farbe geboren, sich nicht von dem Medium
losen will, solange es irgend geht.

Die Liebe zu deu wunderbaren Erzengnissen der unorganischen Natur,
diesen gestreiften und geäderten Marmorsorten oder dem leuchtenden, hier
durchsichtig gelben, dort milchweißen Gestein, das wie im Fluß der Massen
weich durcheinander geglitten, im Schoße der Berge zur Deinauthürtc erstarrt
ist und doch den Schein eine.r sanften Bewegung aus eigner Kraft, eines
lebendigen Wachstums von innen her bewahrt — das Gefühl für die urzeit¬
lichen, den Gebilden erfinderischer Menschennrbeit so verwandten Stoffe hat
unverkennbar bei der Konzeption des Gesamteindrucks wie bei Gestalt und
Fügung der Teile bestimmend angesprochen, wenn nicht den Grundton
angegeben oder gar den entscheidenden Einfluß behalten. Und wer die innere
Bildung dieser Gesteine mit hingebenden Blick verfolgt, der bewundert gewiß
bald auch die Hand des Künstlers, die hier gewaltet hat. Mit welcher An¬
passung an die eigentümlichen Schönheiten dieser Gewächse ist sie bemüht
gewesen, so viel wie möglich zu schonen und die natürlichen Formen an der
Stelle, für die sie gewühlt worden sind, für sich selber wirken zu lassen. Es
sind Mysterien unsrer eignen sinnlich-geistigen Natur, in die wir bei solchem
Prozeß des Schaffens hineinsehen, und Grundfragen des Materiälstils und
seiner Machtsphüre drungen sich auf. An ihrer Grenze steht die verhängnis¬
volle Entscheidung, wie weit die Geisteskraft bewußten Schaffens sich diesem
dunklern Gestaltungsdrang vertrauen mag — wie weit der gefundne Stein¬
block die Phantasie des Künstlers bei der Geburt der Form gefangen nehmen


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[0386] Drei Wiener Aunstbriefe Über Beethovens musikalische Bedeutung und schöpferische Individualität aus dem tiefsten Studium seiner Werke gewonnen hat? Dann müssen wir auch die weitern Beigaben zu Rate ziehn und eine Antwort zurückhalten, bis wir das Ganze in allen seinen Teilen kennen gelernt haben. Und wenn wir zu Anfang auch den Vorstcllungslauf freilegen mußten, der in den Köpfen derer, die Beethoven nicht im Gedächtnis tragen, not¬ wendig zum Austrag kommt und dem Genuß des Kunstwerks hinderlich im Wege steht — wie gern würden wir nun alle Voraussetzungen einfach an¬ nehmen und der Schöpfung des Künstlers die vollste Anerkennung zollen. 2 Den näher kommenden Betrachter des Bildwerks beschäftigt notwendiger¬ weise der Gegensatz zwischen der weißen Marmvrfigur und den übrigen Bestand¬ teilen ans farbigem Material. Um so mehr, als er nicht im Zweifel darüber bleiben kann, daß gerade der farbige Eindruck dieser verschiednen hier zusammen¬ gefügten Stoffe nach dem Sinn des Meisters eine der wesentlichen Eigenschaften sei, aus denen sich die Entstehung des Ganzen erklärt. Mit Absicht ist in dein Ausstellungsraum die Pracht des Kleinods in der Mitte dnrch die Einfachheit, ja eine gewisse Öde der Wandung umher erst recht hervorgehoben — ob ganz mit Recht, ist eine andre Frage. Versuchen wir auch diesen Weg zum Ver¬ ständnis! Er führt uus unmittelbar von dem Sinnlichen, sozusagen Elemen¬ taren in die Geheimnisse des Empfindens und lehrt uns so vielleicht zuver¬ lässiger die Ausdrucksweise, die in Farbe geboren, sich nicht von dem Medium losen will, solange es irgend geht. Die Liebe zu deu wunderbaren Erzengnissen der unorganischen Natur, diesen gestreiften und geäderten Marmorsorten oder dem leuchtenden, hier durchsichtig gelben, dort milchweißen Gestein, das wie im Fluß der Massen weich durcheinander geglitten, im Schoße der Berge zur Deinauthürtc erstarrt ist und doch den Schein eine.r sanften Bewegung aus eigner Kraft, eines lebendigen Wachstums von innen her bewahrt — das Gefühl für die urzeit¬ lichen, den Gebilden erfinderischer Menschennrbeit so verwandten Stoffe hat unverkennbar bei der Konzeption des Gesamteindrucks wie bei Gestalt und Fügung der Teile bestimmend angesprochen, wenn nicht den Grundton angegeben oder gar den entscheidenden Einfluß behalten. Und wer die innere Bildung dieser Gesteine mit hingebenden Blick verfolgt, der bewundert gewiß bald auch die Hand des Künstlers, die hier gewaltet hat. Mit welcher An¬ passung an die eigentümlichen Schönheiten dieser Gewächse ist sie bemüht gewesen, so viel wie möglich zu schonen und die natürlichen Formen an der Stelle, für die sie gewühlt worden sind, für sich selber wirken zu lassen. Es sind Mysterien unsrer eignen sinnlich-geistigen Natur, in die wir bei solchem Prozeß des Schaffens hineinsehen, und Grundfragen des Materiälstils und seiner Machtsphüre drungen sich auf. An ihrer Grenze steht die verhängnis¬ volle Entscheidung, wie weit die Geisteskraft bewußten Schaffens sich diesem dunklern Gestaltungsdrang vertrauen mag — wie weit der gefundne Stein¬ block die Phantasie des Künstlers bei der Geburt der Form gefangen nehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/386>, abgerufen am 29.04.2024.