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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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ZVinterfeldzüge

vorsichtig sein, wer sich aus ihnen über den Stand der heutigen musikalischen
Populürschriftstellerei unterrichten will, gelangt dadurch auf das Bild: alte
und neue Zeit, schöner Schein und Solidität teilen sich noch in die Arbeit.




Winterfeldzuge

irzherzog Karl schrieb einst: "Da Winterfeldzuge meistens den
beinahe unausweichlichen Ruin der Armeen zur Folge haben,
so dürfen sie nur dann unternommen werden, wenn dringende
Notwendigkeit der Selbstverteidigung oder ganz besondre Vor¬
teile, die man dadurch erlaugt, diesen Nachteil überwiegen, zum
Beispiel, wenn die Armee des Feindes so geschlagen ist, daß man sich schmeicheln
kann, sie durch Fortsetzung des Feldzugs gänzlich zu vernichten" usw. Wir
denken heute vielfach anders über die Winterfeldzuge, da das Auftreten der
Volks- und Mnssenheere dazu zwingt, im gegebnen Augenblick ohne Rücksicht
auf die Jahreszeit die schnellste Entscheidung durch Waffengewalt herbei¬
zuführen, die nicht durch einen Winterschlaf gehemmt oder unterbrochen werden
darf. Wenn wir nun auch infolge der wachsenden Kultur immer mehr gelernt
haben, die Schrecken des Winters zu besiegen, so werden doch durch den Ein¬
fluß der kalten Jahreszeit die Schwierigkeiten der Kriegsunternehmungen be¬
sonders erhöht. Der Winter ist dann für einen Erfolg mindestens ebenso ent¬
scheidend wie der Zustand des Geländes, denn er ändert den physischen wie
den moralischen Zustand der Truppen und verbraucht ihre Kräfte rascher.
Die Heeresleitung muß deshalb alles aufbieten, was die Anstrengungen er¬
leichtern und zur Erhaltung der Streitkräfte beitragen kann, sonst entstehn
Katastrophen.

Karl XII. wie Napoleon I. gingen daran zu Grunde, daß sie diese un¬
erläßliche Forderung nicht erfüllten. Karl vernichtete den Kern seines Heeres
im Winterfeldzuge 1708/9, und auf dem kurzen, dabei nichts entscheidenden
Zuge zwischen Nvmny und Weyrik kamen auf den Lagerplätzen in den eisigen
Winternächten und bei mangelnder Verpflegung mehr Soldaten um als in den
Gefechten. Dies war um so bedenklicher, als die Verluste nicht rasch genug
aus der Heimat ersetzt werden konnten. So fehlte es für den entscheidenden
Sommerfeldzug ins Innere Rußlands an Kräften, und bei Poltawa wurde das
Schicksal des über ein Jahrhundert lang siegreichen Schwedens besiegelt. Napoleon
verlor 1812 auf den Schneefeldern Rußlands binnen einem Vierteljahr etwa
340000 Mann und kam nur mit einem Fünftel seines Heeres bei Moskau an.
Als dort und auf den: Rückmarsch auch diese 95000 Streiter vernichtet wurden,
bedeutete das nicht nur den Verlust des Feldzugs, sondern auch die Krisis
in der Laufbahn des gewaltigen Eroberers. Die Feldzüge dieser beiden großen
Feldherren sind um so lehrreicher für uns, als sie auf einem auch für uns


ZVinterfeldzüge

vorsichtig sein, wer sich aus ihnen über den Stand der heutigen musikalischen
Populürschriftstellerei unterrichten will, gelangt dadurch auf das Bild: alte
und neue Zeit, schöner Schein und Solidität teilen sich noch in die Arbeit.




Winterfeldzuge

irzherzog Karl schrieb einst: „Da Winterfeldzuge meistens den
beinahe unausweichlichen Ruin der Armeen zur Folge haben,
so dürfen sie nur dann unternommen werden, wenn dringende
Notwendigkeit der Selbstverteidigung oder ganz besondre Vor¬
teile, die man dadurch erlaugt, diesen Nachteil überwiegen, zum
Beispiel, wenn die Armee des Feindes so geschlagen ist, daß man sich schmeicheln
kann, sie durch Fortsetzung des Feldzugs gänzlich zu vernichten" usw. Wir
denken heute vielfach anders über die Winterfeldzuge, da das Auftreten der
Volks- und Mnssenheere dazu zwingt, im gegebnen Augenblick ohne Rücksicht
auf die Jahreszeit die schnellste Entscheidung durch Waffengewalt herbei¬
zuführen, die nicht durch einen Winterschlaf gehemmt oder unterbrochen werden
darf. Wenn wir nun auch infolge der wachsenden Kultur immer mehr gelernt
haben, die Schrecken des Winters zu besiegen, so werden doch durch den Ein¬
fluß der kalten Jahreszeit die Schwierigkeiten der Kriegsunternehmungen be¬
sonders erhöht. Der Winter ist dann für einen Erfolg mindestens ebenso ent¬
scheidend wie der Zustand des Geländes, denn er ändert den physischen wie
den moralischen Zustand der Truppen und verbraucht ihre Kräfte rascher.
Die Heeresleitung muß deshalb alles aufbieten, was die Anstrengungen er¬
leichtern und zur Erhaltung der Streitkräfte beitragen kann, sonst entstehn
Katastrophen.

Karl XII. wie Napoleon I. gingen daran zu Grunde, daß sie diese un¬
erläßliche Forderung nicht erfüllten. Karl vernichtete den Kern seines Heeres
im Winterfeldzuge 1708/9, und auf dem kurzen, dabei nichts entscheidenden
Zuge zwischen Nvmny und Weyrik kamen auf den Lagerplätzen in den eisigen
Winternächten und bei mangelnder Verpflegung mehr Soldaten um als in den
Gefechten. Dies war um so bedenklicher, als die Verluste nicht rasch genug
aus der Heimat ersetzt werden konnten. So fehlte es für den entscheidenden
Sommerfeldzug ins Innere Rußlands an Kräften, und bei Poltawa wurde das
Schicksal des über ein Jahrhundert lang siegreichen Schwedens besiegelt. Napoleon
verlor 1812 auf den Schneefeldern Rußlands binnen einem Vierteljahr etwa
340000 Mann und kam nur mit einem Fünftel seines Heeres bei Moskau an.
Als dort und auf den: Rückmarsch auch diese 95000 Streiter vernichtet wurden,
bedeutete das nicht nur den Verlust des Feldzugs, sondern auch die Krisis
in der Laufbahn des gewaltigen Eroberers. Die Feldzüge dieser beiden großen
Feldherren sind um so lehrreicher für uns, als sie auf einem auch für uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/44>, abgerufen am 29.04.2024.