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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Rückständiges in unsrer deutschen Wehrverfassung

lie grundlegenden Neuschöpfungen im Staatsleben verletzen
Sonderinteressen eines Teiles der Bevölkerung. Um auffällige
Harten zu vermeiden, pflegt man dann zunächst Einschränkungen
und Abschwächungen zuzulassen, in der zuversichtlichen Hoffnung,
sie später bei gelegner Zeit los zu werden. Aber oft findet sich
nachher die Beamtenschaft mit dem einmal Eingeführten so gut ab, daß sie
das, was eigentlich nur ein Übergang sein sollte, mit Lust und Liebe ver¬
teidigt, weil sie von dein unter ihrer BewnßtseinSsphäre wirksamen Widerwillen
gegen Neuerungen geleitet wird.

Solche betriebstörende Ruinen finden sich nun anch in unsrer sonst so
vortrefflichen Wehrverfassung. Einige davon will ich aufweisen, damit vielleicht
ein einflußreicher Leser zum allgemeinen Besten ihre Niederlegung anbahnt.

Manchem der sich mit dem Gedanken beruhigt hat, daß bei uns eme
allgemeine Wehrpflicht herrsche, und sich deshalb mit der Sache nicht näher
befaßt hat. wird es unglaublich vorkommen, daß bei uns noch heutzutage das
Los darüber entscheidet. ob ein Militärpflichtiger dienen soll. Denn es wurde
ja niemand einfallen, die allgemeine Schulpflicht so aufzufassen, daß die
Kinder, je nachdem sie eine höhere oder niedrigere Losnummer zögen, in die
Schule gebracht würden oder schulfrei blieben, sondern die Schule wird eben
vergrößert, bis alle Schüler Platz haben. Bei der Wehrpflicht ist es leider
noch anders.

So lange jeder Kanton in Preußen mir eine bestimmte Zahl von Rekruten
aufzubringen hatte beugte die Lösung persönlichen Willkürlich leiten vor. Mit
grundsätzlichen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hätte sie eigentlich
fallen müssen Aber 1807 war das Land nicht imstande, auf einmal alte
wehrfähigen Jünglinge einzustellen. Bei dem zunächst herrschenden Krümper-
Wcm erschien es anch gleichgiltig. in welcher Reihenfolge die Krümper heran¬
gezogen wurden. und es blieb also bei der Losung. Nach den Freiheitskriegen
aber war die Erschöpfung so groß, daß man den neuen Grundsatz der allge-


Grenzboten II 1902


Rückständiges in unsrer deutschen Wehrverfassung

lie grundlegenden Neuschöpfungen im Staatsleben verletzen
Sonderinteressen eines Teiles der Bevölkerung. Um auffällige
Harten zu vermeiden, pflegt man dann zunächst Einschränkungen
und Abschwächungen zuzulassen, in der zuversichtlichen Hoffnung,
sie später bei gelegner Zeit los zu werden. Aber oft findet sich
nachher die Beamtenschaft mit dem einmal Eingeführten so gut ab, daß sie
das, was eigentlich nur ein Übergang sein sollte, mit Lust und Liebe ver¬
teidigt, weil sie von dein unter ihrer BewnßtseinSsphäre wirksamen Widerwillen
gegen Neuerungen geleitet wird.

Solche betriebstörende Ruinen finden sich nun anch in unsrer sonst so
vortrefflichen Wehrverfassung. Einige davon will ich aufweisen, damit vielleicht
ein einflußreicher Leser zum allgemeinen Besten ihre Niederlegung anbahnt.

Manchem der sich mit dem Gedanken beruhigt hat, daß bei uns eme
allgemeine Wehrpflicht herrsche, und sich deshalb mit der Sache nicht näher
befaßt hat. wird es unglaublich vorkommen, daß bei uns noch heutzutage das
Los darüber entscheidet. ob ein Militärpflichtiger dienen soll. Denn es wurde
ja niemand einfallen, die allgemeine Schulpflicht so aufzufassen, daß die
Kinder, je nachdem sie eine höhere oder niedrigere Losnummer zögen, in die
Schule gebracht würden oder schulfrei blieben, sondern die Schule wird eben
vergrößert, bis alle Schüler Platz haben. Bei der Wehrpflicht ist es leider
noch anders.

So lange jeder Kanton in Preußen mir eine bestimmte Zahl von Rekruten
aufzubringen hatte beugte die Lösung persönlichen Willkürlich leiten vor. Mit
grundsätzlichen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hätte sie eigentlich
fallen müssen Aber 1807 war das Land nicht imstande, auf einmal alte
wehrfähigen Jünglinge einzustellen. Bei dem zunächst herrschenden Krümper-
Wcm erschien es anch gleichgiltig. in welcher Reihenfolge die Krümper heran¬
gezogen wurden. und es blieb also bei der Losung. Nach den Freiheitskriegen
aber war die Erschöpfung so groß, daß man den neuen Grundsatz der allge-


Grenzboten II 1902
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[0465] [Abbildung] Rückständiges in unsrer deutschen Wehrverfassung lie grundlegenden Neuschöpfungen im Staatsleben verletzen Sonderinteressen eines Teiles der Bevölkerung. Um auffällige Harten zu vermeiden, pflegt man dann zunächst Einschränkungen und Abschwächungen zuzulassen, in der zuversichtlichen Hoffnung, sie später bei gelegner Zeit los zu werden. Aber oft findet sich nachher die Beamtenschaft mit dem einmal Eingeführten so gut ab, daß sie das, was eigentlich nur ein Übergang sein sollte, mit Lust und Liebe ver¬ teidigt, weil sie von dein unter ihrer BewnßtseinSsphäre wirksamen Widerwillen gegen Neuerungen geleitet wird. Solche betriebstörende Ruinen finden sich nun anch in unsrer sonst so vortrefflichen Wehrverfassung. Einige davon will ich aufweisen, damit vielleicht ein einflußreicher Leser zum allgemeinen Besten ihre Niederlegung anbahnt. Manchem der sich mit dem Gedanken beruhigt hat, daß bei uns eme allgemeine Wehrpflicht herrsche, und sich deshalb mit der Sache nicht näher befaßt hat. wird es unglaublich vorkommen, daß bei uns noch heutzutage das Los darüber entscheidet. ob ein Militärpflichtiger dienen soll. Denn es wurde ja niemand einfallen, die allgemeine Schulpflicht so aufzufassen, daß die Kinder, je nachdem sie eine höhere oder niedrigere Losnummer zögen, in die Schule gebracht würden oder schulfrei blieben, sondern die Schule wird eben vergrößert, bis alle Schüler Platz haben. Bei der Wehrpflicht ist es leider noch anders. So lange jeder Kanton in Preußen mir eine bestimmte Zahl von Rekruten aufzubringen hatte beugte die Lösung persönlichen Willkürlich leiten vor. Mit grundsätzlichen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hätte sie eigentlich fallen müssen Aber 1807 war das Land nicht imstande, auf einmal alte wehrfähigen Jünglinge einzustellen. Bei dem zunächst herrschenden Krümper- Wcm erschien es anch gleichgiltig. in welcher Reihenfolge die Krümper heran¬ gezogen wurden. und es blieb also bei der Losung. Nach den Freiheitskriegen aber war die Erschöpfung so groß, daß man den neuen Grundsatz der allge- Grenzboten II 1902

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/465>, abgerufen am 29.04.2024.