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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Schwachbegabten auf den höhern Schulen

!ein Jahr, wo nicht einige nicht versetzte Schüler der höher"
Schulen Selbstmord verüben. In diesem Jahre haben sich nicht
weniger als drei solcher Schüler in Posen erschossen oder zu er¬
schießen versucht. Mir ist noch ein vierter Fall aus der Provinz
I Sachsen, der nicht durch die Zeitungen gegangen ist, bekannt.
So schrecklich nun anch für die Eltern solche Vorkommnisse sind, so können
sie doch unser Mitgefühl nicht in vollem Maße beanspruchen. Es liegt
doch auch viel eignes Verschulden und eine frevelnde Dnmmejungeuhaftigkeit
vor, die im Trotz oder in der Feigheit das Leben wegwirft, wie ein Ding,
dessen Wert man nicht begriffen hat. Viel mehr verdienen unser Mitgefühl
die armen Jungen, von denen man nichts erfährt, die ihre ganze schöne
Jugend opfern, die sich mühsam von Klasse zu Klasse schleppen, die in der
Schule, weil sie nichts leisten, mit Verachtung als Last angesehen werden,
und die zu Haus bittern Vorwürfen, als wenn sie Verlorne Söhne wären, be¬
gegnen, denen jedes Extemporale schlecht Wetter zur Folge hat, denen jedes
Weihnachtsfest vergällt und verdorben wird, denen die Osterversetzung ein Tag
ist, dem man mit Zittern und Zagen entgegensieht, die von der Schulzeit
her für ihr ganzes Leben eine Erinnerung behalten, die wie ein Alp auf ihnen
liegt, und die vielleicht dazu noch ruinierte Nerven und einen stechen Körper
davontragen.

Die Zahl derer, die unter der Schule zu leiden haben, ist nicht gering, und
es sind sowohl Schüler als mich Eltern. Man kann nicht bestreiten, daß eine
empfindliche Spannung zwischen Schule und Haus eingetreten ist. Das Haus
betrachtet die Schule als eine Plage, und die Schule beklagt sich über schlechtes
Schülermaterial und unverständige Eltern. Die Überbürdungsfrage steht seit
Jahren auf der Tagesordnung. Daß die Schüler überbürdet seien, wird auf
der einen Seite ebenso bestimmt behauptet, wie es auf der andern Seite be¬
stritten wird. Was liegt nun diesem unzweifelhaft vorhandnen Notstände zu
Grunde? Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß unsre Schüler körper¬
lich und geistig weniger leistungsfähig sind als frühere Geschlechter, aber auch
die Frage stellen: Setzen unsre Lehrpläne nicht vielleicht einen Normalschüler
voraus, den es gar nicht giebt?

Über die Schwachbegabten auf den höhern Schulen hat Herr Dr. osa.
Benda in Berlin kürzlich im Berliner Verein für Schulgesnndheitspflege")



*) Gesunde Jugend. Zeitschrift für Gesundheitspflege in Schule und Haus. Zweiter
Jahrgang, Ur. 1--2, S. 68. Leipzig, B. G. Teubner.


Die Schwachbegabten auf den höhern Schulen

!ein Jahr, wo nicht einige nicht versetzte Schüler der höher»
Schulen Selbstmord verüben. In diesem Jahre haben sich nicht
weniger als drei solcher Schüler in Posen erschossen oder zu er¬
schießen versucht. Mir ist noch ein vierter Fall aus der Provinz
I Sachsen, der nicht durch die Zeitungen gegangen ist, bekannt.
So schrecklich nun anch für die Eltern solche Vorkommnisse sind, so können
sie doch unser Mitgefühl nicht in vollem Maße beanspruchen. Es liegt
doch auch viel eignes Verschulden und eine frevelnde Dnmmejungeuhaftigkeit
vor, die im Trotz oder in der Feigheit das Leben wegwirft, wie ein Ding,
dessen Wert man nicht begriffen hat. Viel mehr verdienen unser Mitgefühl
die armen Jungen, von denen man nichts erfährt, die ihre ganze schöne
Jugend opfern, die sich mühsam von Klasse zu Klasse schleppen, die in der
Schule, weil sie nichts leisten, mit Verachtung als Last angesehen werden,
und die zu Haus bittern Vorwürfen, als wenn sie Verlorne Söhne wären, be¬
gegnen, denen jedes Extemporale schlecht Wetter zur Folge hat, denen jedes
Weihnachtsfest vergällt und verdorben wird, denen die Osterversetzung ein Tag
ist, dem man mit Zittern und Zagen entgegensieht, die von der Schulzeit
her für ihr ganzes Leben eine Erinnerung behalten, die wie ein Alp auf ihnen
liegt, und die vielleicht dazu noch ruinierte Nerven und einen stechen Körper
davontragen.

Die Zahl derer, die unter der Schule zu leiden haben, ist nicht gering, und
es sind sowohl Schüler als mich Eltern. Man kann nicht bestreiten, daß eine
empfindliche Spannung zwischen Schule und Haus eingetreten ist. Das Haus
betrachtet die Schule als eine Plage, und die Schule beklagt sich über schlechtes
Schülermaterial und unverständige Eltern. Die Überbürdungsfrage steht seit
Jahren auf der Tagesordnung. Daß die Schüler überbürdet seien, wird auf
der einen Seite ebenso bestimmt behauptet, wie es auf der andern Seite be¬
stritten wird. Was liegt nun diesem unzweifelhaft vorhandnen Notstände zu
Grunde? Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß unsre Schüler körper¬
lich und geistig weniger leistungsfähig sind als frühere Geschlechter, aber auch
die Frage stellen: Setzen unsre Lehrpläne nicht vielleicht einen Normalschüler
voraus, den es gar nicht giebt?

Über die Schwachbegabten auf den höhern Schulen hat Herr Dr. osa.
Benda in Berlin kürzlich im Berliner Verein für Schulgesnndheitspflege")



*) Gesunde Jugend. Zeitschrift für Gesundheitspflege in Schule und Haus. Zweiter
Jahrgang, Ur. 1—2, S. 68. Leipzig, B. G. Teubner.
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[0488] [Abbildung] Die Schwachbegabten auf den höhern Schulen !ein Jahr, wo nicht einige nicht versetzte Schüler der höher» Schulen Selbstmord verüben. In diesem Jahre haben sich nicht weniger als drei solcher Schüler in Posen erschossen oder zu er¬ schießen versucht. Mir ist noch ein vierter Fall aus der Provinz I Sachsen, der nicht durch die Zeitungen gegangen ist, bekannt. So schrecklich nun anch für die Eltern solche Vorkommnisse sind, so können sie doch unser Mitgefühl nicht in vollem Maße beanspruchen. Es liegt doch auch viel eignes Verschulden und eine frevelnde Dnmmejungeuhaftigkeit vor, die im Trotz oder in der Feigheit das Leben wegwirft, wie ein Ding, dessen Wert man nicht begriffen hat. Viel mehr verdienen unser Mitgefühl die armen Jungen, von denen man nichts erfährt, die ihre ganze schöne Jugend opfern, die sich mühsam von Klasse zu Klasse schleppen, die in der Schule, weil sie nichts leisten, mit Verachtung als Last angesehen werden, und die zu Haus bittern Vorwürfen, als wenn sie Verlorne Söhne wären, be¬ gegnen, denen jedes Extemporale schlecht Wetter zur Folge hat, denen jedes Weihnachtsfest vergällt und verdorben wird, denen die Osterversetzung ein Tag ist, dem man mit Zittern und Zagen entgegensieht, die von der Schulzeit her für ihr ganzes Leben eine Erinnerung behalten, die wie ein Alp auf ihnen liegt, und die vielleicht dazu noch ruinierte Nerven und einen stechen Körper davontragen. Die Zahl derer, die unter der Schule zu leiden haben, ist nicht gering, und es sind sowohl Schüler als mich Eltern. Man kann nicht bestreiten, daß eine empfindliche Spannung zwischen Schule und Haus eingetreten ist. Das Haus betrachtet die Schule als eine Plage, und die Schule beklagt sich über schlechtes Schülermaterial und unverständige Eltern. Die Überbürdungsfrage steht seit Jahren auf der Tagesordnung. Daß die Schüler überbürdet seien, wird auf der einen Seite ebenso bestimmt behauptet, wie es auf der andern Seite be¬ stritten wird. Was liegt nun diesem unzweifelhaft vorhandnen Notstände zu Grunde? Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß unsre Schüler körper¬ lich und geistig weniger leistungsfähig sind als frühere Geschlechter, aber auch die Frage stellen: Setzen unsre Lehrpläne nicht vielleicht einen Normalschüler voraus, den es gar nicht giebt? Über die Schwachbegabten auf den höhern Schulen hat Herr Dr. osa. Benda in Berlin kürzlich im Berliner Verein für Schulgesnndheitspflege") *) Gesunde Jugend. Zeitschrift für Gesundheitspflege in Schule und Haus. Zweiter Jahrgang, Ur. 1—2, S. 68. Leipzig, B. G. Teubner.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/488>, abgerufen am 29.04.2024.