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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Individualismus

Gottesdienst, der den Glauben ein die Götter voraussetze, als die erste Pflicht
des Monarchen und stellt ihm die Sonne, die der Redner mit der Mehrzahl
seiner Zeitgenossen für ein göttliches Wesen hält, als Muster der Pflichter¬
füllung vor Augen, Weil der Kosmos, wenn der Sonnengott auch nur ein
wenig von seiner Bahn abwiche, in ein häßliches Chaos verwandelt werden
würde, halte er diese seine Bahn mit solcher Genauigkeit und Pünktlichkeit
und so unermüdlich inne, daß sein Dasein als die härteste Knechtschaft erscheine.
Für den vierten Vortrag hat Dio als Einkleidung ein Gespräch zwischen Dio¬
genes und Alexander gewühlt. Der Philosoph schmettert den von dem Hoch¬
gefühl seiner Kraft und Macht geschwellten jungen Herrscher nieder, indem er
ihm zeigt, daß er noch gar kein König sei. Das Sinnbild des wahren Königs
sei der Bienenweisel, der sein Volk beglücke, ohne einen Stachel zu haben;
"du aber scheinst sogar in Waffen zu schlafen. Kennst du nicht das Saken-
fest der Perser? Sie nehmen einen zum Tode verurteilten Gefangnen, setzen
ihn auf einen Thron, schmücken ihn mit königlichen Gewändern, lassen ihn
essen, trinken, die königlichen Kebsweiber gebrauchen, lassen ihn thun, was ihm
beliebt, einige Tage lang; dann ziehn sie ihn aus, geißeln und hängen
ihn. Was wollen sie damit versinnbildlichen? Doch wohl, daß oft Unver¬
ständige und Schlechte die Königswürde erlangen, und nachdem sie eine Zeit
lang in Übermut geschwelgt haben, elend umkommen." Wahrer König werde
Alexander nicht eher sein, als bis er sich für seinen guten, den echt königliche"
Dämon entschieden habe. Die Dämonen müsse man aber nicht außerhalb des
Menschen denken, sondern sie seien seine eignen Anlagen, Neigungen und
Leidenschaften. Unter den bösen Dämonen seien die mächtigsten Sinnenlust,
Habsucht und Ehrgeiz (Fleischeslust, Augenlust und Hoffart nennt sie der
erste Johannesbrief), und da man alle Künste aufwenden, alle passenden und
packenden Bilder und Gleichnisse benutzen müsse, um vom Schlechten abzu-
ziehn und zur Tugend hinzuführen, so schildert er ihm diese drei Dämonen
unter den Bildern eines buhlerischen Weibes, eines unseligen und verachteten
Geizhalses und des Ikarus; auch als Ixion, der von seinem Rade abwechselnd
in die Höhe getragen und in die Tiefe geschleudert werde, könne man sich den
Ruhmsüchtigen vorstellen. folgt)




Individualismus
v L. Trampe on

! n seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sagt Breysig, es werde sehr
häufig der allgemeinen, deduktiv verfahrenden Forschung vor¬
geworfen, sie stelle eine Einzelheit falsch dar. Er giebt die Be¬
rechtigung des Vorwurfs in vielen Fällen zu, erklärt aber zu¬
gleich, daß meist der Angegriffne auch nicht Unrecht habe, denn
beide Widersacher -- so erläutert er seinen Ausgleichssatz -- sähen den Streit¬
gegenstand gewöhnlich unter anderm "Gesichtswinkel" oder in verschiedner Seh-


Individualismus

Gottesdienst, der den Glauben ein die Götter voraussetze, als die erste Pflicht
des Monarchen und stellt ihm die Sonne, die der Redner mit der Mehrzahl
seiner Zeitgenossen für ein göttliches Wesen hält, als Muster der Pflichter¬
füllung vor Augen, Weil der Kosmos, wenn der Sonnengott auch nur ein
wenig von seiner Bahn abwiche, in ein häßliches Chaos verwandelt werden
würde, halte er diese seine Bahn mit solcher Genauigkeit und Pünktlichkeit
und so unermüdlich inne, daß sein Dasein als die härteste Knechtschaft erscheine.
Für den vierten Vortrag hat Dio als Einkleidung ein Gespräch zwischen Dio¬
genes und Alexander gewühlt. Der Philosoph schmettert den von dem Hoch¬
gefühl seiner Kraft und Macht geschwellten jungen Herrscher nieder, indem er
ihm zeigt, daß er noch gar kein König sei. Das Sinnbild des wahren Königs
sei der Bienenweisel, der sein Volk beglücke, ohne einen Stachel zu haben;
„du aber scheinst sogar in Waffen zu schlafen. Kennst du nicht das Saken-
fest der Perser? Sie nehmen einen zum Tode verurteilten Gefangnen, setzen
ihn auf einen Thron, schmücken ihn mit königlichen Gewändern, lassen ihn
essen, trinken, die königlichen Kebsweiber gebrauchen, lassen ihn thun, was ihm
beliebt, einige Tage lang; dann ziehn sie ihn aus, geißeln und hängen
ihn. Was wollen sie damit versinnbildlichen? Doch wohl, daß oft Unver¬
ständige und Schlechte die Königswürde erlangen, und nachdem sie eine Zeit
lang in Übermut geschwelgt haben, elend umkommen." Wahrer König werde
Alexander nicht eher sein, als bis er sich für seinen guten, den echt königliche«
Dämon entschieden habe. Die Dämonen müsse man aber nicht außerhalb des
Menschen denken, sondern sie seien seine eignen Anlagen, Neigungen und
Leidenschaften. Unter den bösen Dämonen seien die mächtigsten Sinnenlust,
Habsucht und Ehrgeiz (Fleischeslust, Augenlust und Hoffart nennt sie der
erste Johannesbrief), und da man alle Künste aufwenden, alle passenden und
packenden Bilder und Gleichnisse benutzen müsse, um vom Schlechten abzu-
ziehn und zur Tugend hinzuführen, so schildert er ihm diese drei Dämonen
unter den Bildern eines buhlerischen Weibes, eines unseligen und verachteten
Geizhalses und des Ikarus; auch als Ixion, der von seinem Rade abwechselnd
in die Höhe getragen und in die Tiefe geschleudert werde, könne man sich den
Ruhmsüchtigen vorstellen. folgt)




Individualismus
v L. Trampe on

! n seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sagt Breysig, es werde sehr
häufig der allgemeinen, deduktiv verfahrenden Forschung vor¬
geworfen, sie stelle eine Einzelheit falsch dar. Er giebt die Be¬
rechtigung des Vorwurfs in vielen Fällen zu, erklärt aber zu¬
gleich, daß meist der Angegriffne auch nicht Unrecht habe, denn
beide Widersacher — so erläutert er seinen Ausgleichssatz — sähen den Streit¬
gegenstand gewöhnlich unter anderm „Gesichtswinkel" oder in verschiedner Seh-


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[0602] Individualismus Gottesdienst, der den Glauben ein die Götter voraussetze, als die erste Pflicht des Monarchen und stellt ihm die Sonne, die der Redner mit der Mehrzahl seiner Zeitgenossen für ein göttliches Wesen hält, als Muster der Pflichter¬ füllung vor Augen, Weil der Kosmos, wenn der Sonnengott auch nur ein wenig von seiner Bahn abwiche, in ein häßliches Chaos verwandelt werden würde, halte er diese seine Bahn mit solcher Genauigkeit und Pünktlichkeit und so unermüdlich inne, daß sein Dasein als die härteste Knechtschaft erscheine. Für den vierten Vortrag hat Dio als Einkleidung ein Gespräch zwischen Dio¬ genes und Alexander gewühlt. Der Philosoph schmettert den von dem Hoch¬ gefühl seiner Kraft und Macht geschwellten jungen Herrscher nieder, indem er ihm zeigt, daß er noch gar kein König sei. Das Sinnbild des wahren Königs sei der Bienenweisel, der sein Volk beglücke, ohne einen Stachel zu haben; „du aber scheinst sogar in Waffen zu schlafen. Kennst du nicht das Saken- fest der Perser? Sie nehmen einen zum Tode verurteilten Gefangnen, setzen ihn auf einen Thron, schmücken ihn mit königlichen Gewändern, lassen ihn essen, trinken, die königlichen Kebsweiber gebrauchen, lassen ihn thun, was ihm beliebt, einige Tage lang; dann ziehn sie ihn aus, geißeln und hängen ihn. Was wollen sie damit versinnbildlichen? Doch wohl, daß oft Unver¬ ständige und Schlechte die Königswürde erlangen, und nachdem sie eine Zeit lang in Übermut geschwelgt haben, elend umkommen." Wahrer König werde Alexander nicht eher sein, als bis er sich für seinen guten, den echt königliche« Dämon entschieden habe. Die Dämonen müsse man aber nicht außerhalb des Menschen denken, sondern sie seien seine eignen Anlagen, Neigungen und Leidenschaften. Unter den bösen Dämonen seien die mächtigsten Sinnenlust, Habsucht und Ehrgeiz (Fleischeslust, Augenlust und Hoffart nennt sie der erste Johannesbrief), und da man alle Künste aufwenden, alle passenden und packenden Bilder und Gleichnisse benutzen müsse, um vom Schlechten abzu- ziehn und zur Tugend hinzuführen, so schildert er ihm diese drei Dämonen unter den Bildern eines buhlerischen Weibes, eines unseligen und verachteten Geizhalses und des Ikarus; auch als Ixion, der von seinem Rade abwechselnd in die Höhe getragen und in die Tiefe geschleudert werde, könne man sich den Ruhmsüchtigen vorstellen. folgt) Individualismus v L. Trampe on ! n seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sagt Breysig, es werde sehr häufig der allgemeinen, deduktiv verfahrenden Forschung vor¬ geworfen, sie stelle eine Einzelheit falsch dar. Er giebt die Be¬ rechtigung des Vorwurfs in vielen Fällen zu, erklärt aber zu¬ gleich, daß meist der Angegriffne auch nicht Unrecht habe, denn beide Widersacher — so erläutert er seinen Ausgleichssatz — sähen den Streit¬ gegenstand gewöhnlich unter anderm „Gesichtswinkel" oder in verschiedner Seh-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/602>, abgerufen am 29.04.2024.