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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Uiunasjgebliches

Sprung, ohne in alle dem, worüber man hinaus sein null, jemals drin gewesen
zu sein. So wird der gedankenlose Modedünkel, der sich um jeden Preis den
vordersten Platz sichern möchte, zur Verlogenheit, und der kokette Schein des Über¬
drusses zur wirklichen Blasiertheit: denn blasiert ist niemals der geistig Reiche,
sondern immer nur der geistig Arme, der sein kleines Vermögen bald ausgegeben
hat, und weil es ihm an Reserven fehlt, leicht bankrott wird."


Die Erde und das Leben.*)

Wir haben i" Heft 49 des Jahrgangs 1901
den ersten Band dieses großartigen Werks begrüßt, des ersten, das mit den Mitteln
der heutigen Wissenschaft die Erde und alles, was auf ihr lebt, als ein Ganzes
darstellt. Erst in diesem zweiten Teile, der von der Luft- und Wasserbütte handelt,
vollendet sich die Anschauung der innigen Wechselwirkung aller geographischen Lebens¬
bedingungen und ihrer Gesamtwirkung auf das Menschendasein. Auch in diesem
Bande werden manche Ansichten zerstört, die in Laienkreisen Glaubensartikel ge¬
worden sind, z. B., daß der Föhn aus der Sahara stamme, daß der Wald "unmittel-
bar und überall die Niederschlage vermehre," daß die allmähliche Abkühlung der
Erde eine unbezweifelbare Tatsache sei (um die auch jetzt noch geglaubt wird, trotz¬
dem daß es allbekannt ist, daß die Erde mehrere Eiszeiten durchgemacht hat). Wir
drucken zwei Stellen ab, um von der Lebendigkeit, Wärme und Schönheit der Dar¬
stellung einen Begriff zu geben. "Lange, ehe die Menschen wußten, was Quellen
sind, und wie Quellen entsteh", hat ihr Geist unter dem Einfluß geheimnisvollen
Hervortretens des Wassers aus den Erdtiefen gestanden. Mit dem Meer, mit dem
Luftkreis, mit dem Mond und mit dem Erdinnersten wurden die Quellen in Ver¬
bindung gebracht. Es ist erstaunlich, wie lange sich der Glaube an die gesetzmäßige
Beständigkeit ihres Ergusses und ihrer Temperatur erhielt. Aber ist nicht in der
Tat die Quelle das Bild der Beständigkeit in ihrem leichten, regelmäßigen Auf¬
wallen und Abfließen? Sie verbreitet den Eindruck der Ruhe um sich her, zarte
Wasserpflanzen wachsen auf ihrem Grunde, Moos überzieht die Felsen, über die
sie ihr Wasser hinlcitet. Mitten im steingrauen Kalkschutt oder Geschröff erfreut
uns ein branngrüner Moosfleck, eine verschwindend kleine Oase; das ist die Stelle
und Spur, wo einst eine Quelle sprudelte, die jetzt vielleicht längst vertrocknet oder
erst im letzten Frühsommer mit der letzten Schneeschmelze versiegt ist. Welch starker,
aber erfreulicher Gegensatz zu demi wilden Walten der Gebirgsbäche! Das Be¬
ständige der Quellen geht noch tiefer, es spricht sich auch in der Gleichmäßigkeit
ihrer Temperatur aus. Im Sommer spenden sie Kühlung inmitten der glühenden
Hitze, deren Pfeile von den kahlen Bergwänden abprallen und den Wandrer er¬
matten. Im Winter sieht man von weitem schon über der Quelle wie weißgraue
Gewänder die Nebelstreifen wallen; die Quelle raucht, ihre Temperatur, wesentlich
dieselbe wie im Sommer, steht nnn vielleicht 39 Grad über der Temperatur der
Luft, die immer kälter und kälter sich in die Talkessel eingesenkt hat." (S. 58.)
"Das bewegliche Wasser ist der Bote, der Nachrichten von oben nach unten trägt,
vom Gebirg hinab ins Tal und vom Lande Hinalls ins Meer. Jeder Gebirgsbach
flößt Pflanzenkeime ins Flachland hinaus, und so hat das Jsartal selbst bei München
eine Menge von Alpenpflanzen. Die Reinheit und die lichten Farben des Wassers
sind auch Botschaften aus der Höhe, wo es aus Gletschertoren oder mindestens aus
Firnflecken entsprungen ist. Wer gar aus deu feuchtwarmen Wäldern Assams an
den Brahmaputra tritt, den erinnert der kühle Hauch des den Mississippi an Breite
übertreffenden Stromes, daß er den Abfluß der Gletscher vor sich hat. Aber merk¬
würdig und folgenreich vor allem ist die Verbindung, die in trocknen Ländern der
wie ein Fremdling aus dem Gebirge herabsteigende Bach mit deu Ebnen am Fuße



*) Die Erde und das Leben. Eine vergleichende Erdkunde von Professor Dr. Friedrich
Ratzel. Zweiter Band. Mit 223 Abbildungen und Karten im Text, 12 Kartenbeilagen
und 23 Tafeln in Farbendruck, Holzschnitt und Atzung. Leipzig und Wien, Bibliographisches
Institut, 1902.
Maßgebliches und Uiunasjgebliches

Sprung, ohne in alle dem, worüber man hinaus sein null, jemals drin gewesen
zu sein. So wird der gedankenlose Modedünkel, der sich um jeden Preis den
vordersten Platz sichern möchte, zur Verlogenheit, und der kokette Schein des Über¬
drusses zur wirklichen Blasiertheit: denn blasiert ist niemals der geistig Reiche,
sondern immer nur der geistig Arme, der sein kleines Vermögen bald ausgegeben
hat, und weil es ihm an Reserven fehlt, leicht bankrott wird."


Die Erde und das Leben.*)

Wir haben i» Heft 49 des Jahrgangs 1901
den ersten Band dieses großartigen Werks begrüßt, des ersten, das mit den Mitteln
der heutigen Wissenschaft die Erde und alles, was auf ihr lebt, als ein Ganzes
darstellt. Erst in diesem zweiten Teile, der von der Luft- und Wasserbütte handelt,
vollendet sich die Anschauung der innigen Wechselwirkung aller geographischen Lebens¬
bedingungen und ihrer Gesamtwirkung auf das Menschendasein. Auch in diesem
Bande werden manche Ansichten zerstört, die in Laienkreisen Glaubensartikel ge¬
worden sind, z. B., daß der Föhn aus der Sahara stamme, daß der Wald „unmittel-
bar und überall die Niederschlage vermehre," daß die allmähliche Abkühlung der
Erde eine unbezweifelbare Tatsache sei (um die auch jetzt noch geglaubt wird, trotz¬
dem daß es allbekannt ist, daß die Erde mehrere Eiszeiten durchgemacht hat). Wir
drucken zwei Stellen ab, um von der Lebendigkeit, Wärme und Schönheit der Dar¬
stellung einen Begriff zu geben. „Lange, ehe die Menschen wußten, was Quellen
sind, und wie Quellen entsteh», hat ihr Geist unter dem Einfluß geheimnisvollen
Hervortretens des Wassers aus den Erdtiefen gestanden. Mit dem Meer, mit dem
Luftkreis, mit dem Mond und mit dem Erdinnersten wurden die Quellen in Ver¬
bindung gebracht. Es ist erstaunlich, wie lange sich der Glaube an die gesetzmäßige
Beständigkeit ihres Ergusses und ihrer Temperatur erhielt. Aber ist nicht in der
Tat die Quelle das Bild der Beständigkeit in ihrem leichten, regelmäßigen Auf¬
wallen und Abfließen? Sie verbreitet den Eindruck der Ruhe um sich her, zarte
Wasserpflanzen wachsen auf ihrem Grunde, Moos überzieht die Felsen, über die
sie ihr Wasser hinlcitet. Mitten im steingrauen Kalkschutt oder Geschröff erfreut
uns ein branngrüner Moosfleck, eine verschwindend kleine Oase; das ist die Stelle
und Spur, wo einst eine Quelle sprudelte, die jetzt vielleicht längst vertrocknet oder
erst im letzten Frühsommer mit der letzten Schneeschmelze versiegt ist. Welch starker,
aber erfreulicher Gegensatz zu demi wilden Walten der Gebirgsbäche! Das Be¬
ständige der Quellen geht noch tiefer, es spricht sich auch in der Gleichmäßigkeit
ihrer Temperatur aus. Im Sommer spenden sie Kühlung inmitten der glühenden
Hitze, deren Pfeile von den kahlen Bergwänden abprallen und den Wandrer er¬
matten. Im Winter sieht man von weitem schon über der Quelle wie weißgraue
Gewänder die Nebelstreifen wallen; die Quelle raucht, ihre Temperatur, wesentlich
dieselbe wie im Sommer, steht nnn vielleicht 39 Grad über der Temperatur der
Luft, die immer kälter und kälter sich in die Talkessel eingesenkt hat." (S. 58.)
„Das bewegliche Wasser ist der Bote, der Nachrichten von oben nach unten trägt,
vom Gebirg hinab ins Tal und vom Lande Hinalls ins Meer. Jeder Gebirgsbach
flößt Pflanzenkeime ins Flachland hinaus, und so hat das Jsartal selbst bei München
eine Menge von Alpenpflanzen. Die Reinheit und die lichten Farben des Wassers
sind auch Botschaften aus der Höhe, wo es aus Gletschertoren oder mindestens aus
Firnflecken entsprungen ist. Wer gar aus deu feuchtwarmen Wäldern Assams an
den Brahmaputra tritt, den erinnert der kühle Hauch des den Mississippi an Breite
übertreffenden Stromes, daß er den Abfluß der Gletscher vor sich hat. Aber merk¬
würdig und folgenreich vor allem ist die Verbindung, die in trocknen Ländern der
wie ein Fremdling aus dem Gebirge herabsteigende Bach mit deu Ebnen am Fuße



*) Die Erde und das Leben. Eine vergleichende Erdkunde von Professor Dr. Friedrich
Ratzel. Zweiter Band. Mit 223 Abbildungen und Karten im Text, 12 Kartenbeilagen
und 23 Tafeln in Farbendruck, Holzschnitt und Atzung. Leipzig und Wien, Bibliographisches
Institut, 1902.
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[0306] Maßgebliches und Uiunasjgebliches Sprung, ohne in alle dem, worüber man hinaus sein null, jemals drin gewesen zu sein. So wird der gedankenlose Modedünkel, der sich um jeden Preis den vordersten Platz sichern möchte, zur Verlogenheit, und der kokette Schein des Über¬ drusses zur wirklichen Blasiertheit: denn blasiert ist niemals der geistig Reiche, sondern immer nur der geistig Arme, der sein kleines Vermögen bald ausgegeben hat, und weil es ihm an Reserven fehlt, leicht bankrott wird." Die Erde und das Leben.*) Wir haben i» Heft 49 des Jahrgangs 1901 den ersten Band dieses großartigen Werks begrüßt, des ersten, das mit den Mitteln der heutigen Wissenschaft die Erde und alles, was auf ihr lebt, als ein Ganzes darstellt. Erst in diesem zweiten Teile, der von der Luft- und Wasserbütte handelt, vollendet sich die Anschauung der innigen Wechselwirkung aller geographischen Lebens¬ bedingungen und ihrer Gesamtwirkung auf das Menschendasein. Auch in diesem Bande werden manche Ansichten zerstört, die in Laienkreisen Glaubensartikel ge¬ worden sind, z. B., daß der Föhn aus der Sahara stamme, daß der Wald „unmittel- bar und überall die Niederschlage vermehre," daß die allmähliche Abkühlung der Erde eine unbezweifelbare Tatsache sei (um die auch jetzt noch geglaubt wird, trotz¬ dem daß es allbekannt ist, daß die Erde mehrere Eiszeiten durchgemacht hat). Wir drucken zwei Stellen ab, um von der Lebendigkeit, Wärme und Schönheit der Dar¬ stellung einen Begriff zu geben. „Lange, ehe die Menschen wußten, was Quellen sind, und wie Quellen entsteh», hat ihr Geist unter dem Einfluß geheimnisvollen Hervortretens des Wassers aus den Erdtiefen gestanden. Mit dem Meer, mit dem Luftkreis, mit dem Mond und mit dem Erdinnersten wurden die Quellen in Ver¬ bindung gebracht. Es ist erstaunlich, wie lange sich der Glaube an die gesetzmäßige Beständigkeit ihres Ergusses und ihrer Temperatur erhielt. Aber ist nicht in der Tat die Quelle das Bild der Beständigkeit in ihrem leichten, regelmäßigen Auf¬ wallen und Abfließen? Sie verbreitet den Eindruck der Ruhe um sich her, zarte Wasserpflanzen wachsen auf ihrem Grunde, Moos überzieht die Felsen, über die sie ihr Wasser hinlcitet. Mitten im steingrauen Kalkschutt oder Geschröff erfreut uns ein branngrüner Moosfleck, eine verschwindend kleine Oase; das ist die Stelle und Spur, wo einst eine Quelle sprudelte, die jetzt vielleicht längst vertrocknet oder erst im letzten Frühsommer mit der letzten Schneeschmelze versiegt ist. Welch starker, aber erfreulicher Gegensatz zu demi wilden Walten der Gebirgsbäche! Das Be¬ ständige der Quellen geht noch tiefer, es spricht sich auch in der Gleichmäßigkeit ihrer Temperatur aus. Im Sommer spenden sie Kühlung inmitten der glühenden Hitze, deren Pfeile von den kahlen Bergwänden abprallen und den Wandrer er¬ matten. Im Winter sieht man von weitem schon über der Quelle wie weißgraue Gewänder die Nebelstreifen wallen; die Quelle raucht, ihre Temperatur, wesentlich dieselbe wie im Sommer, steht nnn vielleicht 39 Grad über der Temperatur der Luft, die immer kälter und kälter sich in die Talkessel eingesenkt hat." (S. 58.) „Das bewegliche Wasser ist der Bote, der Nachrichten von oben nach unten trägt, vom Gebirg hinab ins Tal und vom Lande Hinalls ins Meer. Jeder Gebirgsbach flößt Pflanzenkeime ins Flachland hinaus, und so hat das Jsartal selbst bei München eine Menge von Alpenpflanzen. Die Reinheit und die lichten Farben des Wassers sind auch Botschaften aus der Höhe, wo es aus Gletschertoren oder mindestens aus Firnflecken entsprungen ist. Wer gar aus deu feuchtwarmen Wäldern Assams an den Brahmaputra tritt, den erinnert der kühle Hauch des den Mississippi an Breite übertreffenden Stromes, daß er den Abfluß der Gletscher vor sich hat. Aber merk¬ würdig und folgenreich vor allem ist die Verbindung, die in trocknen Ländern der wie ein Fremdling aus dem Gebirge herabsteigende Bach mit deu Ebnen am Fuße *) Die Erde und das Leben. Eine vergleichende Erdkunde von Professor Dr. Friedrich Ratzel. Zweiter Band. Mit 223 Abbildungen und Karten im Text, 12 Kartenbeilagen und 23 Tafeln in Farbendruck, Holzschnitt und Atzung. Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut, 1902.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/306>, abgerufen am 04.05.2024.