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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Privatgewissens, der Scelendiät, der Pädagogik und allenfalls der Polizei handelt,
gefährden die falsch gestellten und falsch gelösten Probleme eines Ibsen das öffent¬
liche Recht und die Gesellschaftsordnung. Um unsern Lesern unsre Auffassung ins
Gedächtnis zurückzurufen, wollen wir doch aus dem Abschnitt über Nora in der
erwähnten Artikelreihe wenigstens eine Stelle wiederholen (S. 542 und 543 des
3. Bandes des Jahrgangs 1900). "Daß ein Zusammenleben ohne inneres gegen¬
seitiges Verständnis, ohne den Austausch aller Lebensinteressen und aller wichtigen
Gedanken und Empfindungen keine richtige Ehe ist, das wird am wenigsten der
ernste Christ leugnen. Aber nach Ibsen ist das überhaupt keine Ehe, und weil
keine Ehe vorhanden ist, so hat jedes der beiden Zusammenlebenden jederzeit das
Recht fortzulaufen und die etwa vorhandnen Kinder dem andern zu überlassen.
Eine solche Theorie hebt nicht bloß die Ehe, sondern die ganze Rechtsordnung auf.
Die Ehe ist ein Vertrag, und Verträge gelten auch dann, wenn nachträglich der
eine Teil findet, daß er besser getan hätte, ihn nicht zu schließen. Der einmal ge¬
schlossene Vertrag bindet so lange, als er uicht in ordnungsmäßiger Weise auf¬
gelöst ist. Es gibt Verhältnisse, die die Auflösung vor dem Gewissen rechtfertigen
oder sogar zur Pflicht machen, aber ohne Beobachtung der gesetzlichen Formen von
den Kindern weglaufen, das ist selbst dann unentschuldbar, wenn die Frau vom
Manne Mißhandlungen zu erdulden hat. Heimer erinnert Nora an ihre Pflichten
gegen Mann und Kinder, sie aber antwortet: "Ich habe andre ebenso heilige
Pflichten, die Pflichten gegen mich selbst; daß ich vor allem Gattin und Mutter
sei, das glaube ich nicht mehr, vor allem bin ich ein menschliches Wesen." Es ist
eben der Grundirrtnm dieses modernen Idealismus, der übrigens an der katho¬
lischen, aus der Welt, d. h. aus alleu Familienbanden hinaus ins Kloster treibenden
Sorge für die eigne Seele seine Vorgängerin hat, daß man Pflichten gegen sich
selbst erfülle" könne, ohne Glied einer gesetzlichen menschlichen Ordnung zu sein.
Nora gibt natürlich anch nichts auf Formen, wie alle diese modernen Weiber, aber
ohne anerkannte Formen ist keine gesetzliche Ordnung möglich. Daß der Mensch,
von Leidenschaft oder Not überwältigt, diese Formen verletzt, das kommt alle Tage
bor, und das wirft die gesetzliche Ordnung nicht über deu Haufen; im Gegenteil:
der Diebstahl bekräftigt die Eigentumsordnung. Aber wenn sich die Ansicht ver¬
breitet: Formen gelten nichts, so kann das den Gesellschaftsbau untergrabe", und
niemand würde schlechter fahren als die Ehefrauen, wenn es keine gesetzlichen Formen
An ihrem Schutz mehr gäbe."


Geschichte der Familie vou Kalb.*)


Das Buch ist eine fleißige, wenn
muh nicht lückenlose Bearbeitung der Familiengeschichte des bekannten Geschlechts.
Den Mittelpunkt nimmt natürlich Charlotte von Kalb, die Freundin Schillers
und Jenn Pauls ein. Ein eignes Dunkel herrscht über diese interessante Per¬
sönlichkeit, aber dazu hat sie freilich durch Vernichtung aller ihr zugänglichen
Dokumente, die ihre Herzensangelegenheiten betrafen, und durch Einwirkung auf
andre, die im Besitz solcher Urkunden waren, das Möglichste beigetragen. Auch
muß man es ihr zuschreiben, daß in dem von den Erben Jean Pauls veran-
stalteten Briefwechsel des Dichters mit Otto wichtige Angaben unterdrückt worden
sind, und man ihren Namen oft nur mit Kreuzchen bezeichnet hat. (Vergl. meine
Publikation des Nachlasses Jean Pauls im Euphorion 1899 und 1900.) Daß es
mit deu Briefen Schillers an Körner ähnlich geschehn ist, zeigt Klarmanu Seite 244
w der Note. sein Werk bietet sehr wertvolle Ergänzungen zu dem Lebenslnlde
Charlottes und zahlreiche Korrekturen zu Palleskes ..Gedenkblättern." Leider ver¬
schweigt der Verfasser in dem edelmütigen Bestreben, möglichst viel Lache auf d:e
Kalbsche Familie zu werfen, wichtige Dinge, so das Urteil Schillers über Char¬
lottens Unaufrichtigkeit <S. 334 ist nur der schonendere Anfang des Satzes zitiert).



^ ") Geschichte der Familie von Kalb aus Kalbsrieth. Von Johann Ludwig Klarmann.
Erlangen, Junge und Sohn, 1902.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Privatgewissens, der Scelendiät, der Pädagogik und allenfalls der Polizei handelt,
gefährden die falsch gestellten und falsch gelösten Probleme eines Ibsen das öffent¬
liche Recht und die Gesellschaftsordnung. Um unsern Lesern unsre Auffassung ins
Gedächtnis zurückzurufen, wollen wir doch aus dem Abschnitt über Nora in der
erwähnten Artikelreihe wenigstens eine Stelle wiederholen (S. 542 und 543 des
3. Bandes des Jahrgangs 1900). „Daß ein Zusammenleben ohne inneres gegen¬
seitiges Verständnis, ohne den Austausch aller Lebensinteressen und aller wichtigen
Gedanken und Empfindungen keine richtige Ehe ist, das wird am wenigsten der
ernste Christ leugnen. Aber nach Ibsen ist das überhaupt keine Ehe, und weil
keine Ehe vorhanden ist, so hat jedes der beiden Zusammenlebenden jederzeit das
Recht fortzulaufen und die etwa vorhandnen Kinder dem andern zu überlassen.
Eine solche Theorie hebt nicht bloß die Ehe, sondern die ganze Rechtsordnung auf.
Die Ehe ist ein Vertrag, und Verträge gelten auch dann, wenn nachträglich der
eine Teil findet, daß er besser getan hätte, ihn nicht zu schließen. Der einmal ge¬
schlossene Vertrag bindet so lange, als er uicht in ordnungsmäßiger Weise auf¬
gelöst ist. Es gibt Verhältnisse, die die Auflösung vor dem Gewissen rechtfertigen
oder sogar zur Pflicht machen, aber ohne Beobachtung der gesetzlichen Formen von
den Kindern weglaufen, das ist selbst dann unentschuldbar, wenn die Frau vom
Manne Mißhandlungen zu erdulden hat. Heimer erinnert Nora an ihre Pflichten
gegen Mann und Kinder, sie aber antwortet: »Ich habe andre ebenso heilige
Pflichten, die Pflichten gegen mich selbst; daß ich vor allem Gattin und Mutter
sei, das glaube ich nicht mehr, vor allem bin ich ein menschliches Wesen.« Es ist
eben der Grundirrtnm dieses modernen Idealismus, der übrigens an der katho¬
lischen, aus der Welt, d. h. aus alleu Familienbanden hinaus ins Kloster treibenden
Sorge für die eigne Seele seine Vorgängerin hat, daß man Pflichten gegen sich
selbst erfülle» könne, ohne Glied einer gesetzlichen menschlichen Ordnung zu sein.
Nora gibt natürlich anch nichts auf Formen, wie alle diese modernen Weiber, aber
ohne anerkannte Formen ist keine gesetzliche Ordnung möglich. Daß der Mensch,
von Leidenschaft oder Not überwältigt, diese Formen verletzt, das kommt alle Tage
bor, und das wirft die gesetzliche Ordnung nicht über deu Haufen; im Gegenteil:
der Diebstahl bekräftigt die Eigentumsordnung. Aber wenn sich die Ansicht ver¬
breitet: Formen gelten nichts, so kann das den Gesellschaftsbau untergrabe», und
niemand würde schlechter fahren als die Ehefrauen, wenn es keine gesetzlichen Formen
An ihrem Schutz mehr gäbe."


Geschichte der Familie vou Kalb.*)


Das Buch ist eine fleißige, wenn
muh nicht lückenlose Bearbeitung der Familiengeschichte des bekannten Geschlechts.
Den Mittelpunkt nimmt natürlich Charlotte von Kalb, die Freundin Schillers
und Jenn Pauls ein. Ein eignes Dunkel herrscht über diese interessante Per¬
sönlichkeit, aber dazu hat sie freilich durch Vernichtung aller ihr zugänglichen
Dokumente, die ihre Herzensangelegenheiten betrafen, und durch Einwirkung auf
andre, die im Besitz solcher Urkunden waren, das Möglichste beigetragen. Auch
muß man es ihr zuschreiben, daß in dem von den Erben Jean Pauls veran-
stalteten Briefwechsel des Dichters mit Otto wichtige Angaben unterdrückt worden
sind, und man ihren Namen oft nur mit Kreuzchen bezeichnet hat. (Vergl. meine
Publikation des Nachlasses Jean Pauls im Euphorion 1899 und 1900.) Daß es
mit deu Briefen Schillers an Körner ähnlich geschehn ist, zeigt Klarmanu Seite 244
w der Note. sein Werk bietet sehr wertvolle Ergänzungen zu dem Lebenslnlde
Charlottes und zahlreiche Korrekturen zu Palleskes ..Gedenkblättern." Leider ver¬
schweigt der Verfasser in dem edelmütigen Bestreben, möglichst viel Lache auf d:e
Kalbsche Familie zu werfen, wichtige Dinge, so das Urteil Schillers über Char¬
lottens Unaufrichtigkeit <S. 334 ist nur der schonendere Anfang des Satzes zitiert).



^ ") Geschichte der Familie von Kalb aus Kalbsrieth. Von Johann Ludwig Klarmann.
Erlangen, Junge und Sohn, 1902.
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[0373] Maßgebliches und Unmaßgebliches Privatgewissens, der Scelendiät, der Pädagogik und allenfalls der Polizei handelt, gefährden die falsch gestellten und falsch gelösten Probleme eines Ibsen das öffent¬ liche Recht und die Gesellschaftsordnung. Um unsern Lesern unsre Auffassung ins Gedächtnis zurückzurufen, wollen wir doch aus dem Abschnitt über Nora in der erwähnten Artikelreihe wenigstens eine Stelle wiederholen (S. 542 und 543 des 3. Bandes des Jahrgangs 1900). „Daß ein Zusammenleben ohne inneres gegen¬ seitiges Verständnis, ohne den Austausch aller Lebensinteressen und aller wichtigen Gedanken und Empfindungen keine richtige Ehe ist, das wird am wenigsten der ernste Christ leugnen. Aber nach Ibsen ist das überhaupt keine Ehe, und weil keine Ehe vorhanden ist, so hat jedes der beiden Zusammenlebenden jederzeit das Recht fortzulaufen und die etwa vorhandnen Kinder dem andern zu überlassen. Eine solche Theorie hebt nicht bloß die Ehe, sondern die ganze Rechtsordnung auf. Die Ehe ist ein Vertrag, und Verträge gelten auch dann, wenn nachträglich der eine Teil findet, daß er besser getan hätte, ihn nicht zu schließen. Der einmal ge¬ schlossene Vertrag bindet so lange, als er uicht in ordnungsmäßiger Weise auf¬ gelöst ist. Es gibt Verhältnisse, die die Auflösung vor dem Gewissen rechtfertigen oder sogar zur Pflicht machen, aber ohne Beobachtung der gesetzlichen Formen von den Kindern weglaufen, das ist selbst dann unentschuldbar, wenn die Frau vom Manne Mißhandlungen zu erdulden hat. Heimer erinnert Nora an ihre Pflichten gegen Mann und Kinder, sie aber antwortet: »Ich habe andre ebenso heilige Pflichten, die Pflichten gegen mich selbst; daß ich vor allem Gattin und Mutter sei, das glaube ich nicht mehr, vor allem bin ich ein menschliches Wesen.« Es ist eben der Grundirrtnm dieses modernen Idealismus, der übrigens an der katho¬ lischen, aus der Welt, d. h. aus alleu Familienbanden hinaus ins Kloster treibenden Sorge für die eigne Seele seine Vorgängerin hat, daß man Pflichten gegen sich selbst erfülle» könne, ohne Glied einer gesetzlichen menschlichen Ordnung zu sein. Nora gibt natürlich anch nichts auf Formen, wie alle diese modernen Weiber, aber ohne anerkannte Formen ist keine gesetzliche Ordnung möglich. Daß der Mensch, von Leidenschaft oder Not überwältigt, diese Formen verletzt, das kommt alle Tage bor, und das wirft die gesetzliche Ordnung nicht über deu Haufen; im Gegenteil: der Diebstahl bekräftigt die Eigentumsordnung. Aber wenn sich die Ansicht ver¬ breitet: Formen gelten nichts, so kann das den Gesellschaftsbau untergrabe», und niemand würde schlechter fahren als die Ehefrauen, wenn es keine gesetzlichen Formen An ihrem Schutz mehr gäbe." Geschichte der Familie vou Kalb.*) Das Buch ist eine fleißige, wenn muh nicht lückenlose Bearbeitung der Familiengeschichte des bekannten Geschlechts. Den Mittelpunkt nimmt natürlich Charlotte von Kalb, die Freundin Schillers und Jenn Pauls ein. Ein eignes Dunkel herrscht über diese interessante Per¬ sönlichkeit, aber dazu hat sie freilich durch Vernichtung aller ihr zugänglichen Dokumente, die ihre Herzensangelegenheiten betrafen, und durch Einwirkung auf andre, die im Besitz solcher Urkunden waren, das Möglichste beigetragen. Auch muß man es ihr zuschreiben, daß in dem von den Erben Jean Pauls veran- stalteten Briefwechsel des Dichters mit Otto wichtige Angaben unterdrückt worden sind, und man ihren Namen oft nur mit Kreuzchen bezeichnet hat. (Vergl. meine Publikation des Nachlasses Jean Pauls im Euphorion 1899 und 1900.) Daß es mit deu Briefen Schillers an Körner ähnlich geschehn ist, zeigt Klarmanu Seite 244 w der Note. sein Werk bietet sehr wertvolle Ergänzungen zu dem Lebenslnlde Charlottes und zahlreiche Korrekturen zu Palleskes ..Gedenkblättern." Leider ver¬ schweigt der Verfasser in dem edelmütigen Bestreben, möglichst viel Lache auf d:e Kalbsche Familie zu werfen, wichtige Dinge, so das Urteil Schillers über Char¬ lottens Unaufrichtigkeit <S. 334 ist nur der schonendere Anfang des Satzes zitiert). ^ ") Geschichte der Familie von Kalb aus Kalbsrieth. Von Johann Ludwig Klarmann. Erlangen, Junge und Sohn, 1902.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/373>, abgerufen am 04.05.2024.