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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Erinnerungen an die Paulskirche l.3^3

Urteil. Darum herrscht bei ihm die politische Phrase mehr als anderswo,
weil ihm das Rüstzeug zur politischen Kritik abgeht, die nur durch die Kenntnis
der Geschichte gewonnen werden kann. Das österreichische Deutschtum ist
infolgedessen im Begriffe, sich geradezu waffenlos zu machen, weil es sich ver¬
wirren läßt durch staatsrechtliche Doktorfragen, durch ethnologische Möglich¬
keiten und Unmöglichkeiten, weil es dadurch sich selbst und das hinter ihm
liegende Deutsche Reich mit eiuer geistigen chinesischen Mauer umgibt, die dann
die besser unterrichteten nud positiv handelnden östlichen Völker an den
schwachen Stellen ohne Mühe übersteigen werden. Sie lassen sich immer
wieder in den unfruchtbaren Sprachenkampf verwickeln und weiter darin fest¬
halten, weil es im Interesse der um den Einfluß im Staate ringenden
Gruppen -- dem Feudaladel, der als Camarilla, und der Finanzaristokratie,
die als "geheime Nebenregierung" tätig ist -- liegt, daß der Kampf um einige
Beamtenstellen mehr oder weniger in Böhmen zwischen den Beamten fortdauert
und die "heiligsten Interessen" der Völker als gefährdet hingestellt werden,
während der wirtschaftliche Wohlstand und die Hebung der Sittlichkeit leiden
und gar nicht zu Worte kommen. Dadurch ist auch der Haß entstanden, der
es angeblich dem deutschböhmischen Beamten unmöglich macht, die Sprache
seines Todfeindes zu erlernen. Was soll denn aus dem Haß eigentlich werden,
der von der einen Seite aus politischem Unverstand und von der andern in
der bestimmten Absicht, daß der Streit fortdaure, eifrig geschürt wird? Wollen
sich die Deutschen und die Tschechen schließlich totschlagen? Das wollen sie
doch im Ernst nicht, und schließlich würde es der Staat nicht leiden. Es muß
also endlich zu einem vernünftigen Ausgleich kommen, und es ist hohe Zeit,
daß sich die Deutschösterreicher, namentlich aber die Deutschböhmen, über den
Ernst ihrer Lage klar werden, nicht immer alles der Regierung in die Schuhe
schieben oder gar auf die Einmischung Deutschlands rechnen, sondern die Ge¬
schichte ihrer Vergangenheit studieren, die damals begangnen Fehler einsehen
und sich mit den geeigneten Mitteln ausrüsten, damit sie in Zukunft nicht
wieder in eine ähnliche Lage geraten können.

(Schluß folgt)




Erinnerungen an die Paulskirche ^8^8
I. S epp von in dem letzten Bayern aus der ersten deutschen Nationalversammlung")
1^. Liberale, Konservative. Erster Flottenplan

le erste deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt war die un¬
gefälschte Repräsentation des Volkes der Deutschen, wie es leibte
und lebte. Sie kam infolge der Pariser Revolution und der März-
bewegnng so rasch zustande, daß ein Einfluß maßgebender
Parteien bei den Wahlen ausgeschlossen war. Die vorwiegende
Stimmung war gegen den ohnmächtigen, auch bei einer Verfafsungsverletzuug,
wie in Hannover, inkompetenten Bundestag gerichtet, die Schaffung der



') Der greise Gelehrte hat diese Erinnerungen in seinem siebemmdachtzigsten Lebensjahre
niedergeschrieben.
Erinnerungen an die Paulskirche l.3^3

Urteil. Darum herrscht bei ihm die politische Phrase mehr als anderswo,
weil ihm das Rüstzeug zur politischen Kritik abgeht, die nur durch die Kenntnis
der Geschichte gewonnen werden kann. Das österreichische Deutschtum ist
infolgedessen im Begriffe, sich geradezu waffenlos zu machen, weil es sich ver¬
wirren läßt durch staatsrechtliche Doktorfragen, durch ethnologische Möglich¬
keiten und Unmöglichkeiten, weil es dadurch sich selbst und das hinter ihm
liegende Deutsche Reich mit eiuer geistigen chinesischen Mauer umgibt, die dann
die besser unterrichteten nud positiv handelnden östlichen Völker an den
schwachen Stellen ohne Mühe übersteigen werden. Sie lassen sich immer
wieder in den unfruchtbaren Sprachenkampf verwickeln und weiter darin fest¬
halten, weil es im Interesse der um den Einfluß im Staate ringenden
Gruppen — dem Feudaladel, der als Camarilla, und der Finanzaristokratie,
die als „geheime Nebenregierung" tätig ist — liegt, daß der Kampf um einige
Beamtenstellen mehr oder weniger in Böhmen zwischen den Beamten fortdauert
und die „heiligsten Interessen" der Völker als gefährdet hingestellt werden,
während der wirtschaftliche Wohlstand und die Hebung der Sittlichkeit leiden
und gar nicht zu Worte kommen. Dadurch ist auch der Haß entstanden, der
es angeblich dem deutschböhmischen Beamten unmöglich macht, die Sprache
seines Todfeindes zu erlernen. Was soll denn aus dem Haß eigentlich werden,
der von der einen Seite aus politischem Unverstand und von der andern in
der bestimmten Absicht, daß der Streit fortdaure, eifrig geschürt wird? Wollen
sich die Deutschen und die Tschechen schließlich totschlagen? Das wollen sie
doch im Ernst nicht, und schließlich würde es der Staat nicht leiden. Es muß
also endlich zu einem vernünftigen Ausgleich kommen, und es ist hohe Zeit,
daß sich die Deutschösterreicher, namentlich aber die Deutschböhmen, über den
Ernst ihrer Lage klar werden, nicht immer alles der Regierung in die Schuhe
schieben oder gar auf die Einmischung Deutschlands rechnen, sondern die Ge¬
schichte ihrer Vergangenheit studieren, die damals begangnen Fehler einsehen
und sich mit den geeigneten Mitteln ausrüsten, damit sie in Zukunft nicht
wieder in eine ähnliche Lage geraten können.

(Schluß folgt)




Erinnerungen an die Paulskirche ^8^8
I. S epp von in dem letzten Bayern aus der ersten deutschen Nationalversammlung")
1^. Liberale, Konservative. Erster Flottenplan

le erste deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt war die un¬
gefälschte Repräsentation des Volkes der Deutschen, wie es leibte
und lebte. Sie kam infolge der Pariser Revolution und der März-
bewegnng so rasch zustande, daß ein Einfluß maßgebender
Parteien bei den Wahlen ausgeschlossen war. Die vorwiegende
Stimmung war gegen den ohnmächtigen, auch bei einer Verfafsungsverletzuug,
wie in Hannover, inkompetenten Bundestag gerichtet, die Schaffung der



') Der greise Gelehrte hat diese Erinnerungen in seinem siebemmdachtzigsten Lebensjahre
niedergeschrieben.
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[0724] Erinnerungen an die Paulskirche l.3^3 Urteil. Darum herrscht bei ihm die politische Phrase mehr als anderswo, weil ihm das Rüstzeug zur politischen Kritik abgeht, die nur durch die Kenntnis der Geschichte gewonnen werden kann. Das österreichische Deutschtum ist infolgedessen im Begriffe, sich geradezu waffenlos zu machen, weil es sich ver¬ wirren läßt durch staatsrechtliche Doktorfragen, durch ethnologische Möglich¬ keiten und Unmöglichkeiten, weil es dadurch sich selbst und das hinter ihm liegende Deutsche Reich mit eiuer geistigen chinesischen Mauer umgibt, die dann die besser unterrichteten nud positiv handelnden östlichen Völker an den schwachen Stellen ohne Mühe übersteigen werden. Sie lassen sich immer wieder in den unfruchtbaren Sprachenkampf verwickeln und weiter darin fest¬ halten, weil es im Interesse der um den Einfluß im Staate ringenden Gruppen — dem Feudaladel, der als Camarilla, und der Finanzaristokratie, die als „geheime Nebenregierung" tätig ist — liegt, daß der Kampf um einige Beamtenstellen mehr oder weniger in Böhmen zwischen den Beamten fortdauert und die „heiligsten Interessen" der Völker als gefährdet hingestellt werden, während der wirtschaftliche Wohlstand und die Hebung der Sittlichkeit leiden und gar nicht zu Worte kommen. Dadurch ist auch der Haß entstanden, der es angeblich dem deutschböhmischen Beamten unmöglich macht, die Sprache seines Todfeindes zu erlernen. Was soll denn aus dem Haß eigentlich werden, der von der einen Seite aus politischem Unverstand und von der andern in der bestimmten Absicht, daß der Streit fortdaure, eifrig geschürt wird? Wollen sich die Deutschen und die Tschechen schließlich totschlagen? Das wollen sie doch im Ernst nicht, und schließlich würde es der Staat nicht leiden. Es muß also endlich zu einem vernünftigen Ausgleich kommen, und es ist hohe Zeit, daß sich die Deutschösterreicher, namentlich aber die Deutschböhmen, über den Ernst ihrer Lage klar werden, nicht immer alles der Regierung in die Schuhe schieben oder gar auf die Einmischung Deutschlands rechnen, sondern die Ge¬ schichte ihrer Vergangenheit studieren, die damals begangnen Fehler einsehen und sich mit den geeigneten Mitteln ausrüsten, damit sie in Zukunft nicht wieder in eine ähnliche Lage geraten können. (Schluß folgt) Erinnerungen an die Paulskirche ^8^8 I. S epp von in dem letzten Bayern aus der ersten deutschen Nationalversammlung") 1^. Liberale, Konservative. Erster Flottenplan le erste deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt war die un¬ gefälschte Repräsentation des Volkes der Deutschen, wie es leibte und lebte. Sie kam infolge der Pariser Revolution und der März- bewegnng so rasch zustande, daß ein Einfluß maßgebender Parteien bei den Wahlen ausgeschlossen war. Die vorwiegende Stimmung war gegen den ohnmächtigen, auch bei einer Verfafsungsverletzuug, wie in Hannover, inkompetenten Bundestag gerichtet, die Schaffung der ') Der greise Gelehrte hat diese Erinnerungen in seinem siebemmdachtzigsten Lebensjahre niedergeschrieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/724>, abgerufen am 02.05.2024.