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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackte in der Kunst

8

Als Frucht unsrer Untersuchung ergibt sich uns hiernach die allen land¬
läufigen Meinungen widerstreitende Erkenntnis, daß in Wahrheit das Nackte
zu deu schwierigsten und undankbarsten Problemen künstlerischer Darstellung
gehört, weil es fast notwendig in dem männlichen Beschauer die geschlechtliche
Empfindung und in dein weiblichen die Schamhaftigkeit aufstört, eine künst¬
lerische Wirkung aber erst möglich wird, wenn solche Erregungen überwunden
sind. Wir haben gesehen, daß die Möglichkeit ihrer Überwindung weniger
in dem Belieben des Betrachters liegt als in der Hand des Künstlers, da
nur eine meisterhafte Behandlung des Nackten seinen stofflichen Reiz durch
die reine Schönheit der Form aufzusaugen vermag. Es heißt deshalb freilich
über das Ziel hinausschießen, wenn man dem Nackten seinen Platz unter den
Erscheinungen der Wirklichkeit anweist, die außerhalb des rechtmäßigen Dar-
stellungsgcbicts der Künste liegen. Grundsätzliche Vermeidung der Wiedergabe
des Nackten ist keineswegs geboten. Absichtliche Umgehung nackter Schilde¬
rungen mit Hilfe von erklügelten Notbehelfen ist sogar ein künstlerischer Fehler,
denn sie beeinträchtigt die Ungezwungenheit des Kunstwerks und damit eine
seiner unentbehrlichsten Eigenschaften. Darüber aber dürfen wir uns keiner
Täuschung hingeben, daß eine Behandlung des Nackten, wie sie gegenwärtig
vorherrscht, unter den mancherlei Anzeichen eines Niedergangs der bildenden
Künste eine hervorragende Stelle einnimmt.

Die unverkennbaren Eigentümlichkeiten der modernen Kunst in ihren
Darstellungen des Nackten sind einmal deren Häufigkeit, die an der wirklichen
Physiognomie unsrer Kultur keinen Anhalt findet, und zweitens in der Wieder¬
gabe des Nackten ein ungesundes Übergewicht des sinnlichen Elements; worunter
für die ästhetische Betrachtung nichts andres zu versteh"? ist als eine merkbare
Absicht, durch die Nacktheit als solche zu wirken, also nicht mehr, wie es die
Alten verstanden, durch die Schönheit der unverhüllten Gestalt, sondern durch
ihre Uuvcrhülltheit.

In diesen beiden Neigungen beobachten wir an der Stelle des überlegneu
künstlerischen Instinkts, der jeden ihm zusagenden Stoff ergriff und meisterte,
ein unsicheres und unruhiges Umhertasten nach seltnen und neuen Reizen.
Das Bedürfnis, den endlich erhaschten Eindruck dem Stein oder der Leinwand
ungeschwächt zu vermitteln, verlangt und erzieht eine Kunst, die ihre höchste
Stärke und ihren Wertmesser in der Genauigkeit der Nachahmung sieht. Der
Geist des Griechentums und der Geist der Renaissance sind in solcher Ver¬
wendung des Nackten nicht mehr tätig.




'Seltsam genug erscheint in dem Lichte der ästhetischen Tatsachen, an die
wir uns in dem Vorstehenden erinnert haben, die verletzte Empfindlichkeit, mit
der so viele Künstler und eingebildete Kunstfreunde jeden Widerspruch gegen
Darstellungen des Nackten wie einen Angriff auf das Allerheiligste der Kunst
zurückweisen. Ein wohlgemeinter, aber in jedem Sinne mißglückter Gesetz¬
entwurf entsandte vor wenig Jahren um den Gegenstand unsrer Untersuchung


Das Nackte in der Kunst

8

Als Frucht unsrer Untersuchung ergibt sich uns hiernach die allen land¬
läufigen Meinungen widerstreitende Erkenntnis, daß in Wahrheit das Nackte
zu deu schwierigsten und undankbarsten Problemen künstlerischer Darstellung
gehört, weil es fast notwendig in dem männlichen Beschauer die geschlechtliche
Empfindung und in dein weiblichen die Schamhaftigkeit aufstört, eine künst¬
lerische Wirkung aber erst möglich wird, wenn solche Erregungen überwunden
sind. Wir haben gesehen, daß die Möglichkeit ihrer Überwindung weniger
in dem Belieben des Betrachters liegt als in der Hand des Künstlers, da
nur eine meisterhafte Behandlung des Nackten seinen stofflichen Reiz durch
die reine Schönheit der Form aufzusaugen vermag. Es heißt deshalb freilich
über das Ziel hinausschießen, wenn man dem Nackten seinen Platz unter den
Erscheinungen der Wirklichkeit anweist, die außerhalb des rechtmäßigen Dar-
stellungsgcbicts der Künste liegen. Grundsätzliche Vermeidung der Wiedergabe
des Nackten ist keineswegs geboten. Absichtliche Umgehung nackter Schilde¬
rungen mit Hilfe von erklügelten Notbehelfen ist sogar ein künstlerischer Fehler,
denn sie beeinträchtigt die Ungezwungenheit des Kunstwerks und damit eine
seiner unentbehrlichsten Eigenschaften. Darüber aber dürfen wir uns keiner
Täuschung hingeben, daß eine Behandlung des Nackten, wie sie gegenwärtig
vorherrscht, unter den mancherlei Anzeichen eines Niedergangs der bildenden
Künste eine hervorragende Stelle einnimmt.

Die unverkennbaren Eigentümlichkeiten der modernen Kunst in ihren
Darstellungen des Nackten sind einmal deren Häufigkeit, die an der wirklichen
Physiognomie unsrer Kultur keinen Anhalt findet, und zweitens in der Wieder¬
gabe des Nackten ein ungesundes Übergewicht des sinnlichen Elements; worunter
für die ästhetische Betrachtung nichts andres zu versteh«? ist als eine merkbare
Absicht, durch die Nacktheit als solche zu wirken, also nicht mehr, wie es die
Alten verstanden, durch die Schönheit der unverhüllten Gestalt, sondern durch
ihre Uuvcrhülltheit.

In diesen beiden Neigungen beobachten wir an der Stelle des überlegneu
künstlerischen Instinkts, der jeden ihm zusagenden Stoff ergriff und meisterte,
ein unsicheres und unruhiges Umhertasten nach seltnen und neuen Reizen.
Das Bedürfnis, den endlich erhaschten Eindruck dem Stein oder der Leinwand
ungeschwächt zu vermitteln, verlangt und erzieht eine Kunst, die ihre höchste
Stärke und ihren Wertmesser in der Genauigkeit der Nachahmung sieht. Der
Geist des Griechentums und der Geist der Renaissance sind in solcher Ver¬
wendung des Nackten nicht mehr tätig.




'Seltsam genug erscheint in dem Lichte der ästhetischen Tatsachen, an die
wir uns in dem Vorstehenden erinnert haben, die verletzte Empfindlichkeit, mit
der so viele Künstler und eingebildete Kunstfreunde jeden Widerspruch gegen
Darstellungen des Nackten wie einen Angriff auf das Allerheiligste der Kunst
zurückweisen. Ein wohlgemeinter, aber in jedem Sinne mißglückter Gesetz¬
entwurf entsandte vor wenig Jahren um den Gegenstand unsrer Untersuchung


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[0384] Das Nackte in der Kunst 8 Als Frucht unsrer Untersuchung ergibt sich uns hiernach die allen land¬ läufigen Meinungen widerstreitende Erkenntnis, daß in Wahrheit das Nackte zu deu schwierigsten und undankbarsten Problemen künstlerischer Darstellung gehört, weil es fast notwendig in dem männlichen Beschauer die geschlechtliche Empfindung und in dein weiblichen die Schamhaftigkeit aufstört, eine künst¬ lerische Wirkung aber erst möglich wird, wenn solche Erregungen überwunden sind. Wir haben gesehen, daß die Möglichkeit ihrer Überwindung weniger in dem Belieben des Betrachters liegt als in der Hand des Künstlers, da nur eine meisterhafte Behandlung des Nackten seinen stofflichen Reiz durch die reine Schönheit der Form aufzusaugen vermag. Es heißt deshalb freilich über das Ziel hinausschießen, wenn man dem Nackten seinen Platz unter den Erscheinungen der Wirklichkeit anweist, die außerhalb des rechtmäßigen Dar- stellungsgcbicts der Künste liegen. Grundsätzliche Vermeidung der Wiedergabe des Nackten ist keineswegs geboten. Absichtliche Umgehung nackter Schilde¬ rungen mit Hilfe von erklügelten Notbehelfen ist sogar ein künstlerischer Fehler, denn sie beeinträchtigt die Ungezwungenheit des Kunstwerks und damit eine seiner unentbehrlichsten Eigenschaften. Darüber aber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben, daß eine Behandlung des Nackten, wie sie gegenwärtig vorherrscht, unter den mancherlei Anzeichen eines Niedergangs der bildenden Künste eine hervorragende Stelle einnimmt. Die unverkennbaren Eigentümlichkeiten der modernen Kunst in ihren Darstellungen des Nackten sind einmal deren Häufigkeit, die an der wirklichen Physiognomie unsrer Kultur keinen Anhalt findet, und zweitens in der Wieder¬ gabe des Nackten ein ungesundes Übergewicht des sinnlichen Elements; worunter für die ästhetische Betrachtung nichts andres zu versteh«? ist als eine merkbare Absicht, durch die Nacktheit als solche zu wirken, also nicht mehr, wie es die Alten verstanden, durch die Schönheit der unverhüllten Gestalt, sondern durch ihre Uuvcrhülltheit. In diesen beiden Neigungen beobachten wir an der Stelle des überlegneu künstlerischen Instinkts, der jeden ihm zusagenden Stoff ergriff und meisterte, ein unsicheres und unruhiges Umhertasten nach seltnen und neuen Reizen. Das Bedürfnis, den endlich erhaschten Eindruck dem Stein oder der Leinwand ungeschwächt zu vermitteln, verlangt und erzieht eine Kunst, die ihre höchste Stärke und ihren Wertmesser in der Genauigkeit der Nachahmung sieht. Der Geist des Griechentums und der Geist der Renaissance sind in solcher Ver¬ wendung des Nackten nicht mehr tätig. 'Seltsam genug erscheint in dem Lichte der ästhetischen Tatsachen, an die wir uns in dem Vorstehenden erinnert haben, die verletzte Empfindlichkeit, mit der so viele Künstler und eingebildete Kunstfreunde jeden Widerspruch gegen Darstellungen des Nackten wie einen Angriff auf das Allerheiligste der Kunst zurückweisen. Ein wohlgemeinter, aber in jedem Sinne mißglückter Gesetz¬ entwurf entsandte vor wenig Jahren um den Gegenstand unsrer Untersuchung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/384>, abgerufen am 05.05.2024.