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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Verwaltung, Behörden und Stunde in Rußland

Selbstverwaltung gab. Die jetzt angestrebte Schaffung eines höhern, einigenden
Organismus setzt voraus, daß sich die Minderheit der Mehrheit unterwirft.
Über den einzelnen Teilen muß das Ganze herrschen, namentlich in kritischen
Zeiten. Ob dann aber gemeinschaftliche Willensäußerungen auf so entfernt
liegende und verschiedne Bestandteile wie das Mutterland, Kanada, Westindien,
Südafrika und Australien ausgedehnt werden können, das ist nicht so ganz sicher,
wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Man denke nur einmal an einen
Krieg mit Gegnern, die zur See ernstlich in Betracht kommen -- und auf einen
solchen Fall ist der Plan ja gerade zugeschnitten. Wenn Englands Flotte nicht
überall sein kann, so sind entlegne Häfen und die Handelsschiffe auf offner See
nicht sicher vor Handstreichen feindlicher Kreuzer. Dann wird z. B. an Australien
die Frage herantreten, ob es sich diesen Gefahren aussetzen, oder ob es durch
eine Uuabhängigkeitserklärung mit einemmal Ruhe gewinnen solle. Je mehr
für England darauf ankäme, desto wahrscheinlicher wird ein unerwünschter
Entschluß.

Kanada vollends ist ein Besitz, der in dem Augenblick aufs äußerste ge¬
fährdet wird, wo ein Krieg Englands mit den Vereinigten Staaten ausbricht.
Eine Verteidigung der Grenze ist undenkbar. England kann Quebec, Montreal,
Winnipcg und Vancouver nur verteidigen, indem es Newyork, Boston, Ncw-
orleans und San Francisco angreift. Kommt es zum Kriege, so werden sich
Univustruppcn sofort Kanadas bemächtigen. Wenn dieses nicht etwa durch eine
Unabhängigkeitserklärung der Annexion zuvorkommt, so ist ihm die liebevolle
Umarmung sicher.




Verwaltung, Behörden und stände in jRußland )

las große russische Reich erscheint mit seinen vielen in Sprache,
Sitte und Religion verschiednen Völkern wie ein buntes Mosaik,
das durch einen verbindenden Kitt zu einem einzigen Stein
geworden ist. Es macht in politischer Beziehung ein unteilbares
6? Ganzes aus, worin nur der Wille des selbsthcrrschenden Kaisers
maßgebend sein soll. Dieses Negierungsprinzip wurzelt ebenso tief in der
Geschichte des russischen Volks, wie in den geographischen Verhältnissen
des Landes: in dem Maße, wie das Großfürstentum Moskau erstarkte und
sich in das große allrussische Reich auswuchs, nahm die Herrschergewalt des
Zaren zu und befestigte sich die mit ihr verbundne Zentralisation der Ver¬
waltung. Die weiten Ebnen Osteuropas aber begünstigen diese Zentralisation
ebenso, wie sie die politische Einigung erleichtert haben. Nur mit Hilfe einer
festgefügten Vcrwaltungsmaschiue, mit Hilfe des viel und oft mit Recht ge¬
schmähten Tschiuownitschestwo, des Beamtentums, konnte es jedoch gelingen,
die Masse der auch in ihrer Abstammung so gruudverschiednen Volkselemente
in ein einheitliches Volk zu verschmelzen. Auch nur durch die Vercimguug



Nach KowalewM, Rußland am Ende dos neunzehnten Jahrhunderts.
Verwaltung, Behörden und Stunde in Rußland

Selbstverwaltung gab. Die jetzt angestrebte Schaffung eines höhern, einigenden
Organismus setzt voraus, daß sich die Minderheit der Mehrheit unterwirft.
Über den einzelnen Teilen muß das Ganze herrschen, namentlich in kritischen
Zeiten. Ob dann aber gemeinschaftliche Willensäußerungen auf so entfernt
liegende und verschiedne Bestandteile wie das Mutterland, Kanada, Westindien,
Südafrika und Australien ausgedehnt werden können, das ist nicht so ganz sicher,
wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Man denke nur einmal an einen
Krieg mit Gegnern, die zur See ernstlich in Betracht kommen — und auf einen
solchen Fall ist der Plan ja gerade zugeschnitten. Wenn Englands Flotte nicht
überall sein kann, so sind entlegne Häfen und die Handelsschiffe auf offner See
nicht sicher vor Handstreichen feindlicher Kreuzer. Dann wird z. B. an Australien
die Frage herantreten, ob es sich diesen Gefahren aussetzen, oder ob es durch
eine Uuabhängigkeitserklärung mit einemmal Ruhe gewinnen solle. Je mehr
für England darauf ankäme, desto wahrscheinlicher wird ein unerwünschter
Entschluß.

Kanada vollends ist ein Besitz, der in dem Augenblick aufs äußerste ge¬
fährdet wird, wo ein Krieg Englands mit den Vereinigten Staaten ausbricht.
Eine Verteidigung der Grenze ist undenkbar. England kann Quebec, Montreal,
Winnipcg und Vancouver nur verteidigen, indem es Newyork, Boston, Ncw-
orleans und San Francisco angreift. Kommt es zum Kriege, so werden sich
Univustruppcn sofort Kanadas bemächtigen. Wenn dieses nicht etwa durch eine
Unabhängigkeitserklärung der Annexion zuvorkommt, so ist ihm die liebevolle
Umarmung sicher.




Verwaltung, Behörden und stände in jRußland )

las große russische Reich erscheint mit seinen vielen in Sprache,
Sitte und Religion verschiednen Völkern wie ein buntes Mosaik,
das durch einen verbindenden Kitt zu einem einzigen Stein
geworden ist. Es macht in politischer Beziehung ein unteilbares
6? Ganzes aus, worin nur der Wille des selbsthcrrschenden Kaisers
maßgebend sein soll. Dieses Negierungsprinzip wurzelt ebenso tief in der
Geschichte des russischen Volks, wie in den geographischen Verhältnissen
des Landes: in dem Maße, wie das Großfürstentum Moskau erstarkte und
sich in das große allrussische Reich auswuchs, nahm die Herrschergewalt des
Zaren zu und befestigte sich die mit ihr verbundne Zentralisation der Ver¬
waltung. Die weiten Ebnen Osteuropas aber begünstigen diese Zentralisation
ebenso, wie sie die politische Einigung erleichtert haben. Nur mit Hilfe einer
festgefügten Vcrwaltungsmaschiue, mit Hilfe des viel und oft mit Recht ge¬
schmähten Tschiuownitschestwo, des Beamtentums, konnte es jedoch gelingen,
die Masse der auch in ihrer Abstammung so gruudverschiednen Volkselemente
in ein einheitliches Volk zu verschmelzen. Auch nur durch die Vercimguug



Nach KowalewM, Rußland am Ende dos neunzehnten Jahrhunderts.
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[0488] Verwaltung, Behörden und Stunde in Rußland Selbstverwaltung gab. Die jetzt angestrebte Schaffung eines höhern, einigenden Organismus setzt voraus, daß sich die Minderheit der Mehrheit unterwirft. Über den einzelnen Teilen muß das Ganze herrschen, namentlich in kritischen Zeiten. Ob dann aber gemeinschaftliche Willensäußerungen auf so entfernt liegende und verschiedne Bestandteile wie das Mutterland, Kanada, Westindien, Südafrika und Australien ausgedehnt werden können, das ist nicht so ganz sicher, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Man denke nur einmal an einen Krieg mit Gegnern, die zur See ernstlich in Betracht kommen — und auf einen solchen Fall ist der Plan ja gerade zugeschnitten. Wenn Englands Flotte nicht überall sein kann, so sind entlegne Häfen und die Handelsschiffe auf offner See nicht sicher vor Handstreichen feindlicher Kreuzer. Dann wird z. B. an Australien die Frage herantreten, ob es sich diesen Gefahren aussetzen, oder ob es durch eine Uuabhängigkeitserklärung mit einemmal Ruhe gewinnen solle. Je mehr für England darauf ankäme, desto wahrscheinlicher wird ein unerwünschter Entschluß. Kanada vollends ist ein Besitz, der in dem Augenblick aufs äußerste ge¬ fährdet wird, wo ein Krieg Englands mit den Vereinigten Staaten ausbricht. Eine Verteidigung der Grenze ist undenkbar. England kann Quebec, Montreal, Winnipcg und Vancouver nur verteidigen, indem es Newyork, Boston, Ncw- orleans und San Francisco angreift. Kommt es zum Kriege, so werden sich Univustruppcn sofort Kanadas bemächtigen. Wenn dieses nicht etwa durch eine Unabhängigkeitserklärung der Annexion zuvorkommt, so ist ihm die liebevolle Umarmung sicher. Verwaltung, Behörden und stände in jRußland ) las große russische Reich erscheint mit seinen vielen in Sprache, Sitte und Religion verschiednen Völkern wie ein buntes Mosaik, das durch einen verbindenden Kitt zu einem einzigen Stein geworden ist. Es macht in politischer Beziehung ein unteilbares 6? Ganzes aus, worin nur der Wille des selbsthcrrschenden Kaisers maßgebend sein soll. Dieses Negierungsprinzip wurzelt ebenso tief in der Geschichte des russischen Volks, wie in den geographischen Verhältnissen des Landes: in dem Maße, wie das Großfürstentum Moskau erstarkte und sich in das große allrussische Reich auswuchs, nahm die Herrschergewalt des Zaren zu und befestigte sich die mit ihr verbundne Zentralisation der Ver¬ waltung. Die weiten Ebnen Osteuropas aber begünstigen diese Zentralisation ebenso, wie sie die politische Einigung erleichtert haben. Nur mit Hilfe einer festgefügten Vcrwaltungsmaschiue, mit Hilfe des viel und oft mit Recht ge¬ schmähten Tschiuownitschestwo, des Beamtentums, konnte es jedoch gelingen, die Masse der auch in ihrer Abstammung so gruudverschiednen Volkselemente in ein einheitliches Volk zu verschmelzen. Auch nur durch die Vercimguug Nach KowalewM, Rußland am Ende dos neunzehnten Jahrhunderts.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/488>, abgerufen am 05.05.2024.