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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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glauben, daß das Deutsche Reich es vertragen kann, wenn man, ohne das
Gesetz selbst in Frage zu stellen, es einer seiner am meisten verwundenden Spitzen
entkleidet.




Herbert Spencers System
Z. Soziologie und Ethik

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ZMW>le drei starke Bünde füllende Soziologie können wir kurz
! abfertigen, weil die Grenzboten schon in zwei Beleuchtungen
der neuerdings bei uns Mode gewordnen politischen Anthro¬
pologie das Wesentliche von dem gesagt haben, was sich
!über und gegen dergleichen Versuche sagen läßt. Gewiß, der
Geist entwickelt sich im und am Organischen, aber ist er fertig, so folgt er
dann seinen eignen Gesetzen. Gewiß, in seinen Lebensäußerungen, zu denen
die sozialen gehören, walten auch solche Gesetze, die ein Analogon von mathe¬
matischen, mechanischen und sonstigen physikalischen Gesetzen sind, und sofern
das soziale Leben als ein Gewebe von Leibern und Seckel?, von Natur und
Geist entsteht, unterliegt es nicht bloß einem Analogon von Naturgesetzen,
sondern diesen selbst; aber so interessant es sein mag, dem Walten dieser
Gesetze in der Gesellschaft nachzuspüren, Regeln für die Politik lassen sich
daraus gar nicht oder nur sehr im allgemeinen und darum ohne sonderlichen
Nutzen für die Praxis ableiten. Bei Spencer nimmt nun noch dazu das
Ethnologische einen sehr breiten Raum ein; für jede soziale Erscheinung, für
jedes soziale Verhältnis stellt er die seiner Meinung nach passenden Beispiele
aus der Geschichte der alten Griechen, der Jnkareiche, Chinas, der neuern
europäischen Völker und aus den Sitten und Bräuchen der Naturvölker neben¬
einander. Dieses Verfahren verdunkelt aber die für uns brennenden Fragen
mehr, als es sie aufhellt; denn wenn sich anch, was nicht der Fall ist, der
Unterschied zwischen unserm Leben und dem der Naturvölker auf die größere
Komplexität unsers Gesellschaftszustandes beschränkte, so würde schon darum
das Heranziehn nrznstüudlicher Sitten und Verhältnisse nutzlos für uns sein,
weil sich eben in ihnen das Komplexe, wofür wir Maßregeln brauchen, nicht
findet; es ist, wie wenn man in einer Abhandlung über die Pflege der Kopf¬
haut, der Augen und der Zähne auf die Qualle zurückgehn wollte, die weder
einen Kopf, noch Augen, uoch Zähne hat. Bei den Fidschiinsulanern können
nur uus keinen Rat holen für unsern Zolltarif, für ein preußisches Gesetz über
die Schulunterhaltungspflicht, für die Entscheidung der Frage, ob Konfessions¬
oder Simultanschule, für die Regelung der böhmischen Sprachenfrage und für
den österreichisch-ungarischen Ausgleich. Jedermann weiß heute, daß alle
sozialen Bildungen in einem Differcnziernngs- und Jntegrationsprozeß vor
sich gehn; aber das hilft uns für die Praxis nichts, und für die Theorie
nur insofern, als daraus die Unvernunft derer hervorgeht, die zugleich den


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glauben, daß das Deutsche Reich es vertragen kann, wenn man, ohne das
Gesetz selbst in Frage zu stellen, es einer seiner am meisten verwundenden Spitzen
entkleidet.




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Z. Soziologie und Ethik

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! abfertigen, weil die Grenzboten schon in zwei Beleuchtungen
der neuerdings bei uns Mode gewordnen politischen Anthro¬
pologie das Wesentliche von dem gesagt haben, was sich
!über und gegen dergleichen Versuche sagen läßt. Gewiß, der
Geist entwickelt sich im und am Organischen, aber ist er fertig, so folgt er
dann seinen eignen Gesetzen. Gewiß, in seinen Lebensäußerungen, zu denen
die sozialen gehören, walten auch solche Gesetze, die ein Analogon von mathe¬
matischen, mechanischen und sonstigen physikalischen Gesetzen sind, und sofern
das soziale Leben als ein Gewebe von Leibern und Seckel?, von Natur und
Geist entsteht, unterliegt es nicht bloß einem Analogon von Naturgesetzen,
sondern diesen selbst; aber so interessant es sein mag, dem Walten dieser
Gesetze in der Gesellschaft nachzuspüren, Regeln für die Politik lassen sich
daraus gar nicht oder nur sehr im allgemeinen und darum ohne sonderlichen
Nutzen für die Praxis ableiten. Bei Spencer nimmt nun noch dazu das
Ethnologische einen sehr breiten Raum ein; für jede soziale Erscheinung, für
jedes soziale Verhältnis stellt er die seiner Meinung nach passenden Beispiele
aus der Geschichte der alten Griechen, der Jnkareiche, Chinas, der neuern
europäischen Völker und aus den Sitten und Bräuchen der Naturvölker neben¬
einander. Dieses Verfahren verdunkelt aber die für uns brennenden Fragen
mehr, als es sie aufhellt; denn wenn sich anch, was nicht der Fall ist, der
Unterschied zwischen unserm Leben und dem der Naturvölker auf die größere
Komplexität unsers Gesellschaftszustandes beschränkte, so würde schon darum
das Heranziehn nrznstüudlicher Sitten und Verhältnisse nutzlos für uns sein,
weil sich eben in ihnen das Komplexe, wofür wir Maßregeln brauchen, nicht
findet; es ist, wie wenn man in einer Abhandlung über die Pflege der Kopf¬
haut, der Augen und der Zähne auf die Qualle zurückgehn wollte, die weder
einen Kopf, noch Augen, uoch Zähne hat. Bei den Fidschiinsulanern können
nur uus keinen Rat holen für unsern Zolltarif, für ein preußisches Gesetz über
die Schulunterhaltungspflicht, für die Entscheidung der Frage, ob Konfessions¬
oder Simultanschule, für die Regelung der böhmischen Sprachenfrage und für
den österreichisch-ungarischen Ausgleich. Jedermann weiß heute, daß alle
sozialen Bildungen in einem Differcnziernngs- und Jntegrationsprozeß vor
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/700>, abgerufen am 06.05.2024.