Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bilder aus der englischen Kulturgeschichte

Ein jeder hat nun zwar seinen eignen geistigen Horizont, aber die meisten haben
einen sehr kleinen und wirren; und wollen sie mehr und deutlicher seyen, so müssen
sie sich eine geistige Brille aufsetzen, die ihnen mehr und andres leistet als eine
von Glas, sie müssen die Wcltdurcl, das System eiues selbständigen Denkers
beschauen. Unter den Systemen aber sind die wertvollsten solche, die am besten
unsre praktischen Bedürfnisse befriedigen: unser Gemüt beruhigen und uns zum
Richtighandeln anleiten. Nach diesem Kriterium urteilend, können wir Spencers
System als Philosophie, als Lebensweisheit im höchsten Sinne des Worts nicht
anerkennen, wenn auch unendlich viel einzelne Weisheitslehren und naturwissen¬
schaftliche Erkenntnisse darin aufgehäuft liegen. Vor der Großartigkeit seines,
freilich von vornherein verfehlten Unternehmens, und vor der beharrlichen Energie
und dem Opfermut, mit dem er es in beinahe fünfzigjähriger Arbeit durchgeführt
hat, muß man Ehrfurcht hegen. Auch soll es ihm unvergessen bleiben, daß er
mit seiner kleinen Schrift über Erziehung, die in deutscher Übersetzung bei uns
viel gelesen wird, die Verbesserung des Erziehungs- und Unterrichtswesens nicht
wenig gefördert hat." Solchen, die das Büchlein noch nicht kennen, empfehlen
wir besonders das Studium der darin entwickelten Straftheorie. Deren Grund¬
satz lautet: Die Eltern sollen, als Diener der Natur, dafür sorgen, daß ihre
Kinder jederzeit die natürlichen Folgen ihrer Handlungen, die natürlichen Rück¬
wirkungen (Beulen und Verletzungen, Mühe des Aufräumens der umhergestreuten
Sachen, Wiedervergeltung jeder Unfreundlichkeit durch gleiches Benehmen der
Kameraden oder Dienstboten usw.) erfahren; diese natürlichen Strafen sollen sie
weder abwenden (lebens- und sehr gesundheitsgefährliche ausgenommen) noch
verschärfen oder durch willkürliche ersetzen




Bilder aus der englischen Kulturgeschichte
von Karl Feyerabend ^. Die königliche Gabe

in vierten Akte des "Macbeth" hat Shakespeare in das ziemlich
wörtlich seiner Quelle, Holinsheds Geschichte Schottlands, ent¬
lehnte Gespräch zwischen Malcolm und Macduff mit feiner Kunst
eine selbständige Zutat eingefügt. Am Hofe Edwards des Be-
^!kenncrs finden sich die durch die Grausamkeit des schottischen
Thronräubcrs Bedrohten und Vertriebnen hilfesuchend zusammen. Vor dem
Palaste (nicht, wie die alte Bühnenanweisung will, in einem Zimmer) sucht
Macduff den Prinzen Malcolm auf, um ihn für das Werk der Befreiung,
als dessen Lohn der väterliche Thron winkt, zu gewinnen. Malcolm muß in
ven Flüchtling zunächst einen Späher Macbeths sehen, der ihn in eine Falle
locken will, und gibt seine wahre Gesinnung erst zu erkennen, als er sich über¬
zeugt hat, daß hier kein Verrat droht. Für ihr Unternehmen brauchen sie die
Hilfe des englischen Königs, auf dessen Erscheinen sie warten, und nach dem
sie den heraustretenden Arzt fragen.


Bilder aus der englischen Kulturgeschichte

Ein jeder hat nun zwar seinen eignen geistigen Horizont, aber die meisten haben
einen sehr kleinen und wirren; und wollen sie mehr und deutlicher seyen, so müssen
sie sich eine geistige Brille aufsetzen, die ihnen mehr und andres leistet als eine
von Glas, sie müssen die Wcltdurcl, das System eiues selbständigen Denkers
beschauen. Unter den Systemen aber sind die wertvollsten solche, die am besten
unsre praktischen Bedürfnisse befriedigen: unser Gemüt beruhigen und uns zum
Richtighandeln anleiten. Nach diesem Kriterium urteilend, können wir Spencers
System als Philosophie, als Lebensweisheit im höchsten Sinne des Worts nicht
anerkennen, wenn auch unendlich viel einzelne Weisheitslehren und naturwissen¬
schaftliche Erkenntnisse darin aufgehäuft liegen. Vor der Großartigkeit seines,
freilich von vornherein verfehlten Unternehmens, und vor der beharrlichen Energie
und dem Opfermut, mit dem er es in beinahe fünfzigjähriger Arbeit durchgeführt
hat, muß man Ehrfurcht hegen. Auch soll es ihm unvergessen bleiben, daß er
mit seiner kleinen Schrift über Erziehung, die in deutscher Übersetzung bei uns
viel gelesen wird, die Verbesserung des Erziehungs- und Unterrichtswesens nicht
wenig gefördert hat." Solchen, die das Büchlein noch nicht kennen, empfehlen
wir besonders das Studium der darin entwickelten Straftheorie. Deren Grund¬
satz lautet: Die Eltern sollen, als Diener der Natur, dafür sorgen, daß ihre
Kinder jederzeit die natürlichen Folgen ihrer Handlungen, die natürlichen Rück¬
wirkungen (Beulen und Verletzungen, Mühe des Aufräumens der umhergestreuten
Sachen, Wiedervergeltung jeder Unfreundlichkeit durch gleiches Benehmen der
Kameraden oder Dienstboten usw.) erfahren; diese natürlichen Strafen sollen sie
weder abwenden (lebens- und sehr gesundheitsgefährliche ausgenommen) noch
verschärfen oder durch willkürliche ersetzen




Bilder aus der englischen Kulturgeschichte
von Karl Feyerabend ^. Die königliche Gabe

in vierten Akte des „Macbeth" hat Shakespeare in das ziemlich
wörtlich seiner Quelle, Holinsheds Geschichte Schottlands, ent¬
lehnte Gespräch zwischen Malcolm und Macduff mit feiner Kunst
eine selbständige Zutat eingefügt. Am Hofe Edwards des Be-
^!kenncrs finden sich die durch die Grausamkeit des schottischen
Thronräubcrs Bedrohten und Vertriebnen hilfesuchend zusammen. Vor dem
Palaste (nicht, wie die alte Bühnenanweisung will, in einem Zimmer) sucht
Macduff den Prinzen Malcolm auf, um ihn für das Werk der Befreiung,
als dessen Lohn der väterliche Thron winkt, zu gewinnen. Malcolm muß in
ven Flüchtling zunächst einen Späher Macbeths sehen, der ihn in eine Falle
locken will, und gibt seine wahre Gesinnung erst zu erkennen, als er sich über¬
zeugt hat, daß hier kein Verrat droht. Für ihr Unternehmen brauchen sie die
Hilfe des englischen Königs, auf dessen Erscheinen sie warten, und nach dem
sie den heraustretenden Arzt fragen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0711" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293510"/>
          <fw type="header" place="top"> Bilder aus der englischen Kulturgeschichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_4028" prev="#ID_4027"> Ein jeder hat nun zwar seinen eignen geistigen Horizont, aber die meisten haben<lb/>
einen sehr kleinen und wirren; und wollen sie mehr und deutlicher seyen, so müssen<lb/>
sie sich eine geistige Brille aufsetzen, die ihnen mehr und andres leistet als eine<lb/>
von Glas, sie müssen die Wcltdurcl, das System eiues selbständigen Denkers<lb/>
beschauen. Unter den Systemen aber sind die wertvollsten solche, die am besten<lb/>
unsre praktischen Bedürfnisse befriedigen: unser Gemüt beruhigen und uns zum<lb/>
Richtighandeln anleiten. Nach diesem Kriterium urteilend, können wir Spencers<lb/>
System als Philosophie, als Lebensweisheit im höchsten Sinne des Worts nicht<lb/>
anerkennen, wenn auch unendlich viel einzelne Weisheitslehren und naturwissen¬<lb/>
schaftliche Erkenntnisse darin aufgehäuft liegen.  Vor der Großartigkeit seines,<lb/>
freilich von vornherein verfehlten Unternehmens, und vor der beharrlichen Energie<lb/>
und dem Opfermut, mit dem er es in beinahe fünfzigjähriger Arbeit durchgeführt<lb/>
hat, muß man Ehrfurcht hegen.  Auch soll es ihm unvergessen bleiben, daß er<lb/>
mit seiner kleinen Schrift über Erziehung, die in deutscher Übersetzung bei uns<lb/>
viel gelesen wird, die Verbesserung des Erziehungs- und Unterrichtswesens nicht<lb/>
wenig gefördert hat." Solchen, die das Büchlein noch nicht kennen, empfehlen<lb/>
wir besonders das Studium der darin entwickelten Straftheorie. Deren Grund¬<lb/>
satz lautet: Die Eltern sollen, als Diener der Natur, dafür sorgen, daß ihre<lb/>
Kinder jederzeit die natürlichen Folgen ihrer Handlungen, die natürlichen Rück¬<lb/>
wirkungen (Beulen und Verletzungen, Mühe des Aufräumens der umhergestreuten<lb/>
Sachen, Wiedervergeltung jeder Unfreundlichkeit durch gleiches Benehmen der<lb/>
Kameraden oder Dienstboten usw.) erfahren; diese natürlichen Strafen sollen sie<lb/>
weder abwenden (lebens- und sehr gesundheitsgefährliche ausgenommen) noch<lb/>
verschärfen oder durch willkürliche ersetzen</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Bilder aus der englischen Kulturgeschichte<lb/><note type="byline"> von Karl Feyerabend</note> ^. Die königliche Gabe</head><lb/>
          <p xml:id="ID_4029"> in vierten Akte des &#x201E;Macbeth" hat Shakespeare in das ziemlich<lb/>
wörtlich seiner Quelle, Holinsheds Geschichte Schottlands, ent¬<lb/>
lehnte Gespräch zwischen Malcolm und Macduff mit feiner Kunst<lb/>
eine selbständige Zutat eingefügt. Am Hofe Edwards des Be-<lb/>
^!kenncrs finden sich die durch die Grausamkeit des schottischen<lb/>
Thronräubcrs Bedrohten und Vertriebnen hilfesuchend zusammen. Vor dem<lb/>
Palaste (nicht, wie die alte Bühnenanweisung will, in einem Zimmer) sucht<lb/>
Macduff den Prinzen Malcolm auf, um ihn für das Werk der Befreiung,<lb/>
als dessen Lohn der väterliche Thron winkt, zu gewinnen. Malcolm muß in<lb/>
ven Flüchtling zunächst einen Späher Macbeths sehen, der ihn in eine Falle<lb/>
locken will, und gibt seine wahre Gesinnung erst zu erkennen, als er sich über¬<lb/>
zeugt hat, daß hier kein Verrat droht. Für ihr Unternehmen brauchen sie die<lb/>
Hilfe des englischen Königs, auf dessen Erscheinen sie warten, und nach dem<lb/>
sie den heraustretenden Arzt fragen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0711] Bilder aus der englischen Kulturgeschichte Ein jeder hat nun zwar seinen eignen geistigen Horizont, aber die meisten haben einen sehr kleinen und wirren; und wollen sie mehr und deutlicher seyen, so müssen sie sich eine geistige Brille aufsetzen, die ihnen mehr und andres leistet als eine von Glas, sie müssen die Wcltdurcl, das System eiues selbständigen Denkers beschauen. Unter den Systemen aber sind die wertvollsten solche, die am besten unsre praktischen Bedürfnisse befriedigen: unser Gemüt beruhigen und uns zum Richtighandeln anleiten. Nach diesem Kriterium urteilend, können wir Spencers System als Philosophie, als Lebensweisheit im höchsten Sinne des Worts nicht anerkennen, wenn auch unendlich viel einzelne Weisheitslehren und naturwissen¬ schaftliche Erkenntnisse darin aufgehäuft liegen. Vor der Großartigkeit seines, freilich von vornherein verfehlten Unternehmens, und vor der beharrlichen Energie und dem Opfermut, mit dem er es in beinahe fünfzigjähriger Arbeit durchgeführt hat, muß man Ehrfurcht hegen. Auch soll es ihm unvergessen bleiben, daß er mit seiner kleinen Schrift über Erziehung, die in deutscher Übersetzung bei uns viel gelesen wird, die Verbesserung des Erziehungs- und Unterrichtswesens nicht wenig gefördert hat." Solchen, die das Büchlein noch nicht kennen, empfehlen wir besonders das Studium der darin entwickelten Straftheorie. Deren Grund¬ satz lautet: Die Eltern sollen, als Diener der Natur, dafür sorgen, daß ihre Kinder jederzeit die natürlichen Folgen ihrer Handlungen, die natürlichen Rück¬ wirkungen (Beulen und Verletzungen, Mühe des Aufräumens der umhergestreuten Sachen, Wiedervergeltung jeder Unfreundlichkeit durch gleiches Benehmen der Kameraden oder Dienstboten usw.) erfahren; diese natürlichen Strafen sollen sie weder abwenden (lebens- und sehr gesundheitsgefährliche ausgenommen) noch verschärfen oder durch willkürliche ersetzen Bilder aus der englischen Kulturgeschichte von Karl Feyerabend ^. Die königliche Gabe in vierten Akte des „Macbeth" hat Shakespeare in das ziemlich wörtlich seiner Quelle, Holinsheds Geschichte Schottlands, ent¬ lehnte Gespräch zwischen Malcolm und Macduff mit feiner Kunst eine selbständige Zutat eingefügt. Am Hofe Edwards des Be- ^!kenncrs finden sich die durch die Grausamkeit des schottischen Thronräubcrs Bedrohten und Vertriebnen hilfesuchend zusammen. Vor dem Palaste (nicht, wie die alte Bühnenanweisung will, in einem Zimmer) sucht Macduff den Prinzen Malcolm auf, um ihn für das Werk der Befreiung, als dessen Lohn der väterliche Thron winkt, zu gewinnen. Malcolm muß in ven Flüchtling zunächst einen Späher Macbeths sehen, der ihn in eine Falle locken will, und gibt seine wahre Gesinnung erst zu erkennen, als er sich über¬ zeugt hat, daß hier kein Verrat droht. Für ihr Unternehmen brauchen sie die Hilfe des englischen Königs, auf dessen Erscheinen sie warten, und nach dem sie den heraustretenden Arzt fragen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/711
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/711>, abgerufen am 06.05.2024.