Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Johann Friedrich Reichardt

trächtigen, sonst fehlt unsrer Bildung noch zu lange die feste nationale Grund¬
lage. Auf allen höhern Schulen*) sollen und können die beiden größten Männer
des neunzehnten Jahrhunderts, Goethe und Vismarck, den Herzen menschlich
nahe gebracht und auch dadurch Gedankenliebe und Tatenlust angefacht werden.
Selten sind einem Volke solche wahrhaft genialen Geister beschieden, und so
bald werden sie nicht wieder erstehn. Daß sie Deutsche waren, das muß uns
ein Sporn sein und bleiben, beider Erbe ungeschmälert zu erhalten, nicht
einseitig Politik über Kunst und Wissenschaft zu stellen oder umgekehrt. Viel¬
mehr gilt es, nach Bismarcks Vorbilde kräftiges Nationalbewußtsein allezeit
willig zu beendigen und dieses reale Schaffen im Dienste des Vaterlandes
durch das Licht aus Goethes schöner, die ganze Menschheit umfassender, von
Humanität durchdrungner Dichterwelt zu verklären. Die Keime zu solchem
vertieften und veredelten Deutschtum müssen auf jeder höhern Lehranstalt ge¬
pflanzt werden. Dann befolgen dankbare Enkel die Mahnung, die in dem
großen Jahre 1870, als sich deutsche Gedanken und deutsche Taten zu wunder¬
vollem Einklang vereinten, der Dichter ergehn ließ, in dem uach seinem
freudigen Bekenntnis eines waren der Heitere, der Christ und der Deutsche,
die Mahnung:


L. Stutzer


Johann Friedrich Reichardt
Otto Tschirch von

lese Studie will ein ganz verblaßtes Bild mit Farben des Lebens
wieder auffrischen, eine fast verschollnc Persönlichkeit dem Em¬
pfinden weiterer Kreise von neuem nahe bringen.
MSI
"

Wie wenige wissen noch etwas von Johann Friedrich Reichardt,
l dem einst berühmten letzten Hofkapellmeister Friedrichs des Großen!

Als Musiker ist es ihm nicht beschieden gewesen, mit einem großen
Wurfe die Palme der Unsterblichkeit zu erringen. Als Literat hat er das
Unglück gehabt, mit unsern großen Literaturheroen zusammenzustoßen, und
so ist ihm das grausame Schicksal des Marsyas zugefallen, von Apollo miß-



*) Einige Zeit, nachdem obiges geschrieben war -- es wurde bis zum 1. April zurück¬
gestellt --, erschien die Abhandlung von Galle über Bismarck und Goethe in der Monats¬
schrift für höhere Schulen (II, 1903, S. 500 ff.). Dort werde ich über die Erfahrungen
berichten, die ich in der Gymnasialoberprima mit den von Baumeister für die oberste Stufe
höherer Schulen jüngst zusammengestellten Reden Bismarcks (Halle 1303, Buchhandlung des
Waisenhauses) gemacht habe.
Johann Friedrich Reichardt

trächtigen, sonst fehlt unsrer Bildung noch zu lange die feste nationale Grund¬
lage. Auf allen höhern Schulen*) sollen und können die beiden größten Männer
des neunzehnten Jahrhunderts, Goethe und Vismarck, den Herzen menschlich
nahe gebracht und auch dadurch Gedankenliebe und Tatenlust angefacht werden.
Selten sind einem Volke solche wahrhaft genialen Geister beschieden, und so
bald werden sie nicht wieder erstehn. Daß sie Deutsche waren, das muß uns
ein Sporn sein und bleiben, beider Erbe ungeschmälert zu erhalten, nicht
einseitig Politik über Kunst und Wissenschaft zu stellen oder umgekehrt. Viel¬
mehr gilt es, nach Bismarcks Vorbilde kräftiges Nationalbewußtsein allezeit
willig zu beendigen und dieses reale Schaffen im Dienste des Vaterlandes
durch das Licht aus Goethes schöner, die ganze Menschheit umfassender, von
Humanität durchdrungner Dichterwelt zu verklären. Die Keime zu solchem
vertieften und veredelten Deutschtum müssen auf jeder höhern Lehranstalt ge¬
pflanzt werden. Dann befolgen dankbare Enkel die Mahnung, die in dem
großen Jahre 1870, als sich deutsche Gedanken und deutsche Taten zu wunder¬
vollem Einklang vereinten, der Dichter ergehn ließ, in dem uach seinem
freudigen Bekenntnis eines waren der Heitere, der Christ und der Deutsche,
die Mahnung:


L. Stutzer


Johann Friedrich Reichardt
Otto Tschirch von

lese Studie will ein ganz verblaßtes Bild mit Farben des Lebens
wieder auffrischen, eine fast verschollnc Persönlichkeit dem Em¬
pfinden weiterer Kreise von neuem nahe bringen.
MSI
»

Wie wenige wissen noch etwas von Johann Friedrich Reichardt,
l dem einst berühmten letzten Hofkapellmeister Friedrichs des Großen!

Als Musiker ist es ihm nicht beschieden gewesen, mit einem großen
Wurfe die Palme der Unsterblichkeit zu erringen. Als Literat hat er das
Unglück gehabt, mit unsern großen Literaturheroen zusammenzustoßen, und
so ist ihm das grausame Schicksal des Marsyas zugefallen, von Apollo miß-



*) Einige Zeit, nachdem obiges geschrieben war — es wurde bis zum 1. April zurück¬
gestellt —, erschien die Abhandlung von Galle über Bismarck und Goethe in der Monats¬
schrift für höhere Schulen (II, 1903, S. 500 ff.). Dort werde ich über die Erfahrungen
berichten, die ich in der Gymnasialoberprima mit den von Baumeister für die oberste Stufe
höherer Schulen jüngst zusammengestellten Reden Bismarcks (Halle 1303, Buchhandlung des
Waisenhauses) gemacht habe.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293647"/>
          <fw type="header" place="top"> Johann Friedrich Reichardt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_69" prev="#ID_68"> trächtigen, sonst fehlt unsrer Bildung noch zu lange die feste nationale Grund¬<lb/>
lage. Auf allen höhern Schulen*) sollen und können die beiden größten Männer<lb/>
des neunzehnten Jahrhunderts, Goethe und Vismarck, den Herzen menschlich<lb/>
nahe gebracht und auch dadurch Gedankenliebe und Tatenlust angefacht werden.<lb/>
Selten sind einem Volke solche wahrhaft genialen Geister beschieden, und so<lb/>
bald werden sie nicht wieder erstehn. Daß sie Deutsche waren, das muß uns<lb/>
ein Sporn sein und bleiben, beider Erbe ungeschmälert zu erhalten, nicht<lb/>
einseitig Politik über Kunst und Wissenschaft zu stellen oder umgekehrt. Viel¬<lb/>
mehr gilt es, nach Bismarcks Vorbilde kräftiges Nationalbewußtsein allezeit<lb/>
willig zu beendigen und dieses reale Schaffen im Dienste des Vaterlandes<lb/>
durch das Licht aus Goethes schöner, die ganze Menschheit umfassender, von<lb/>
Humanität durchdrungner Dichterwelt zu verklären. Die Keime zu solchem<lb/>
vertieften und veredelten Deutschtum müssen auf jeder höhern Lehranstalt ge¬<lb/>
pflanzt werden. Dann befolgen dankbare Enkel die Mahnung, die in dem<lb/>
großen Jahre 1870, als sich deutsche Gedanken und deutsche Taten zu wunder¬<lb/>
vollem Einklang vereinten, der Dichter ergehn ließ, in dem uach seinem<lb/>
freudigen Bekenntnis eines waren der Heitere, der Christ und der Deutsche,<lb/>
die Mahnung:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_1" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <note type="byline"> L. Stutzer</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Johann Friedrich Reichardt<lb/><note type="byline"> Otto Tschirch</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_70"> lese Studie will ein ganz verblaßtes Bild mit Farben des Lebens<lb/>
wieder auffrischen, eine fast verschollnc Persönlichkeit dem Em¬<lb/>
pfinden weiterer Kreise von neuem nahe bringen.<lb/>
MSI<lb/>
»</p><lb/>
          <p xml:id="ID_71"> Wie wenige wissen noch etwas von Johann Friedrich Reichardt,<lb/>
l dem einst berühmten letzten Hofkapellmeister Friedrichs des Großen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_72" next="#ID_73"> Als Musiker ist es ihm nicht beschieden gewesen, mit einem großen<lb/>
Wurfe die Palme der Unsterblichkeit zu erringen.  Als Literat hat er das<lb/>
Unglück gehabt, mit unsern großen Literaturheroen zusammenzustoßen, und<lb/>
so ist ihm das grausame Schicksal des Marsyas zugefallen, von Apollo miß-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_3" place="foot"> *) Einige Zeit, nachdem obiges geschrieben war &#x2014; es wurde bis zum 1. April zurück¬<lb/>
gestellt &#x2014;, erschien die Abhandlung von Galle über Bismarck und Goethe in der Monats¬<lb/>
schrift für höhere Schulen (II, 1903, S. 500 ff.). Dort werde ich über die Erfahrungen<lb/>
berichten, die ich in der Gymnasialoberprima mit den von Baumeister für die oberste Stufe<lb/>
höherer Schulen jüngst zusammengestellten Reden Bismarcks (Halle 1303, Buchhandlung des<lb/>
Waisenhauses) gemacht habe.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0028] Johann Friedrich Reichardt trächtigen, sonst fehlt unsrer Bildung noch zu lange die feste nationale Grund¬ lage. Auf allen höhern Schulen*) sollen und können die beiden größten Männer des neunzehnten Jahrhunderts, Goethe und Vismarck, den Herzen menschlich nahe gebracht und auch dadurch Gedankenliebe und Tatenlust angefacht werden. Selten sind einem Volke solche wahrhaft genialen Geister beschieden, und so bald werden sie nicht wieder erstehn. Daß sie Deutsche waren, das muß uns ein Sporn sein und bleiben, beider Erbe ungeschmälert zu erhalten, nicht einseitig Politik über Kunst und Wissenschaft zu stellen oder umgekehrt. Viel¬ mehr gilt es, nach Bismarcks Vorbilde kräftiges Nationalbewußtsein allezeit willig zu beendigen und dieses reale Schaffen im Dienste des Vaterlandes durch das Licht aus Goethes schöner, die ganze Menschheit umfassender, von Humanität durchdrungner Dichterwelt zu verklären. Die Keime zu solchem vertieften und veredelten Deutschtum müssen auf jeder höhern Lehranstalt ge¬ pflanzt werden. Dann befolgen dankbare Enkel die Mahnung, die in dem großen Jahre 1870, als sich deutsche Gedanken und deutsche Taten zu wunder¬ vollem Einklang vereinten, der Dichter ergehn ließ, in dem uach seinem freudigen Bekenntnis eines waren der Heitere, der Christ und der Deutsche, die Mahnung: L. Stutzer Johann Friedrich Reichardt Otto Tschirch von lese Studie will ein ganz verblaßtes Bild mit Farben des Lebens wieder auffrischen, eine fast verschollnc Persönlichkeit dem Em¬ pfinden weiterer Kreise von neuem nahe bringen. MSI » Wie wenige wissen noch etwas von Johann Friedrich Reichardt, l dem einst berühmten letzten Hofkapellmeister Friedrichs des Großen! Als Musiker ist es ihm nicht beschieden gewesen, mit einem großen Wurfe die Palme der Unsterblichkeit zu erringen. Als Literat hat er das Unglück gehabt, mit unsern großen Literaturheroen zusammenzustoßen, und so ist ihm das grausame Schicksal des Marsyas zugefallen, von Apollo miß- *) Einige Zeit, nachdem obiges geschrieben war — es wurde bis zum 1. April zurück¬ gestellt —, erschien die Abhandlung von Galle über Bismarck und Goethe in der Monats¬ schrift für höhere Schulen (II, 1903, S. 500 ff.). Dort werde ich über die Erfahrungen berichten, die ich in der Gymnasialoberprima mit den von Baumeister für die oberste Stufe höherer Schulen jüngst zusammengestellten Reden Bismarcks (Halle 1303, Buchhandlung des Waisenhauses) gemacht habe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/28
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/28>, abgerufen am 03.05.2024.