Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit unsrer Staatsbehörden? Sie würden ohne Zuchthaus¬
androhung ebenso korrekt ihres Amtes walten. Gleichwohl -- und darin über¬
schätzen wir auch die überzeugende Kraft dieser Darlegung nicht -- besteht keine
Aussicht, durch die Reichsgesetzgebung diese unzweckmäßigen Normen zu beseitigen.
Die verbreitete Besorgnis, der Staatsanwalt werde ohne Zügel und Sporn nur
den sogenannten kleinen Mann verfolgen, den Übeltäter höherer Stände aber un¬
behelligt lassen, dürfte, so unbegründet sie ist, ein schwer zu beseitigendes Hindernis
sein. Vielleicht ist es aber nicht ebenso aussichtslos, der Abschwächung der vor-
handnen Bestimmungen das Wort zu reden. So könnte man dem Paragraphen 152
der Strafprozeßordnung etwa folgende zwei Absätze hinzufügen: "Das Einschreiten
kann unterbleiben, wenn es unwahrscheinlich ist, eine Verurteilung zu erreichen."

Bei Übertretungen und leichtern Vergehen kann der Staatsanwalt, anstatt die
öffentliche Klage zu erheben, den Beschuldigten mündlich verwarnen. Der Be¬
schuldigte muß unter der Androhung vorgeladen werden, daß falls er der Vorladung
nicht folge, gegen ihn die Anklage erhoben werden würde.

In Paragraph 346 des Strafgesetzbuches müßten die Worte: "in der Absicht,
jemand der gesetzlichen Strafe widerrechtlich zu entziehn" durch die Fassung: "in
der Absicht, das Recht zu beugen" ersetzt werden.

Diese Vorschläge stellen zwar nur Flickarbeit dar; Berufnere mögen über ihre
Verwendbarkeit entscheiden. Daß unser öffentliches Leben an schweren Schäden
krankt, ist unverkennbar. Der Pessimist könnte vielleicht die Zeit nicht mehr so
fern glauben, von der Gobineau spricht, wo infolge ungeeigneter-- "unstimmiger" --
Rassenmischung die Bestandteile des deutschen Volkes, das dann eigentlich diese Be¬
zeichnung nicht mehr beanspruchen könnte, anfangen, einander nicht mehr zu verstehn.
Wer aber die Wunde für heilbar hält, darf auch den nicht schelten, der sie berührt.


Paracelsus.

Wenn wir die Wendeltreppe eines alten Turmes hinaufsteigen,
sehen wir nach einer Reihe von Stufen dieselbe Landschaft, die wir schon vorher
gesehen hatten, von einem höhern Punkte, und jedesmal, wenn sich das Bild wieder¬
holt, begrüßen wir es mit der Freude des Wiedersehens. Es gibt auch geistige
Aussichten, die nach Geschlechtern oder nach Jahrhunderten wiederkehren, es sind
fast dieselben, die vor unsern Vorfahren gelegen hatten, nur von einem etwas
höhern Punkte wahrgenommen. Das ist die Freude, womit wir in den Schriften
des lange verkannten und vernachlässigten Theophrastus Paracelsus von Hohenheim*)
blättern, daß wir so lebhaft empfinden: dieser Arzt und Philosoph des sechzehnten
Jahrhunderts schaute in die Welt wie wir, nur lag seine Treppenstufe um fast
vier Jahrhunderte tiefer. Das hat ihn nicht gehindert, ähnliches wahrzunehmen
Wie wir> und wenn er den Blick von der Außenwelt wegwendet, so kommen ihm
Gedanken, die wir modern nennen. Paracelsus war eine von den unabhängigen,
selbständigen Naturen, an denen wir mehr als an neuer Kunst und Wissenschaft
das Zeitalter der Renaissance erkennen. In ihm war ein großer Denker mit einem
großen Dichter verbunden, und diese Gaben lagen neben einem warmen Herzen,
das den Segen der Armut pries und unter "dem Schnee seines Elends" für seine
Mitmenschen schlug. Daher die Selbstherrlichkeit dieser Persönlichkeit. ^Iwrins
Qvn sit, qui fras <zss"z xotsst war sein Wahlspruch. Welcher Lebensmut in dem
rastlos wandernden Manne, der mit keinem Strome der Zeit trieb, der sich von
keiner Welle zum Erfolg heben ließ, sondern die stärksten mit noch stärkeren Arme
teilte! Paracelsus, wo er sagt: Mir ist not, daß ich mich verantworte von wegen
meines Landfahrens, und daß ich so gar mindert bleiblich bin, zeichnet den Weg derer,
die den Büchern den Rücken wenden und in die Natur hinaustreten. Mein Wandern,



Theophrastus Paracelsus Leben und Persönlichkeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte
der deutschen Renaissance. Von Franz Streuz, Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig, 1903. --
Theophrastus Paracelsus, Das Buch Paragrcmum. Daselbst 1903.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit unsrer Staatsbehörden? Sie würden ohne Zuchthaus¬
androhung ebenso korrekt ihres Amtes walten. Gleichwohl — und darin über¬
schätzen wir auch die überzeugende Kraft dieser Darlegung nicht — besteht keine
Aussicht, durch die Reichsgesetzgebung diese unzweckmäßigen Normen zu beseitigen.
Die verbreitete Besorgnis, der Staatsanwalt werde ohne Zügel und Sporn nur
den sogenannten kleinen Mann verfolgen, den Übeltäter höherer Stände aber un¬
behelligt lassen, dürfte, so unbegründet sie ist, ein schwer zu beseitigendes Hindernis
sein. Vielleicht ist es aber nicht ebenso aussichtslos, der Abschwächung der vor-
handnen Bestimmungen das Wort zu reden. So könnte man dem Paragraphen 152
der Strafprozeßordnung etwa folgende zwei Absätze hinzufügen: „Das Einschreiten
kann unterbleiben, wenn es unwahrscheinlich ist, eine Verurteilung zu erreichen."

Bei Übertretungen und leichtern Vergehen kann der Staatsanwalt, anstatt die
öffentliche Klage zu erheben, den Beschuldigten mündlich verwarnen. Der Be¬
schuldigte muß unter der Androhung vorgeladen werden, daß falls er der Vorladung
nicht folge, gegen ihn die Anklage erhoben werden würde.

In Paragraph 346 des Strafgesetzbuches müßten die Worte: „in der Absicht,
jemand der gesetzlichen Strafe widerrechtlich zu entziehn" durch die Fassung: „in
der Absicht, das Recht zu beugen" ersetzt werden.

Diese Vorschläge stellen zwar nur Flickarbeit dar; Berufnere mögen über ihre
Verwendbarkeit entscheiden. Daß unser öffentliches Leben an schweren Schäden
krankt, ist unverkennbar. Der Pessimist könnte vielleicht die Zeit nicht mehr so
fern glauben, von der Gobineau spricht, wo infolge ungeeigneter— „unstimmiger" —
Rassenmischung die Bestandteile des deutschen Volkes, das dann eigentlich diese Be¬
zeichnung nicht mehr beanspruchen könnte, anfangen, einander nicht mehr zu verstehn.
Wer aber die Wunde für heilbar hält, darf auch den nicht schelten, der sie berührt.


Paracelsus.

Wenn wir die Wendeltreppe eines alten Turmes hinaufsteigen,
sehen wir nach einer Reihe von Stufen dieselbe Landschaft, die wir schon vorher
gesehen hatten, von einem höhern Punkte, und jedesmal, wenn sich das Bild wieder¬
holt, begrüßen wir es mit der Freude des Wiedersehens. Es gibt auch geistige
Aussichten, die nach Geschlechtern oder nach Jahrhunderten wiederkehren, es sind
fast dieselben, die vor unsern Vorfahren gelegen hatten, nur von einem etwas
höhern Punkte wahrgenommen. Das ist die Freude, womit wir in den Schriften
des lange verkannten und vernachlässigten Theophrastus Paracelsus von Hohenheim*)
blättern, daß wir so lebhaft empfinden: dieser Arzt und Philosoph des sechzehnten
Jahrhunderts schaute in die Welt wie wir, nur lag seine Treppenstufe um fast
vier Jahrhunderte tiefer. Das hat ihn nicht gehindert, ähnliches wahrzunehmen
Wie wir> und wenn er den Blick von der Außenwelt wegwendet, so kommen ihm
Gedanken, die wir modern nennen. Paracelsus war eine von den unabhängigen,
selbständigen Naturen, an denen wir mehr als an neuer Kunst und Wissenschaft
das Zeitalter der Renaissance erkennen. In ihm war ein großer Denker mit einem
großen Dichter verbunden, und diese Gaben lagen neben einem warmen Herzen,
das den Segen der Armut pries und unter „dem Schnee seines Elends" für seine
Mitmenschen schlug. Daher die Selbstherrlichkeit dieser Persönlichkeit. ^Iwrins
Qvn sit, qui fras <zss«z xotsst war sein Wahlspruch. Welcher Lebensmut in dem
rastlos wandernden Manne, der mit keinem Strome der Zeit trieb, der sich von
keiner Welle zum Erfolg heben ließ, sondern die stärksten mit noch stärkeren Arme
teilte! Paracelsus, wo er sagt: Mir ist not, daß ich mich verantworte von wegen
meines Landfahrens, und daß ich so gar mindert bleiblich bin, zeichnet den Weg derer,
die den Büchern den Rücken wenden und in die Natur hinaustreten. Mein Wandern,



Theophrastus Paracelsus Leben und Persönlichkeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte
der deutschen Renaissance. Von Franz Streuz, Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig, 1903. —
Theophrastus Paracelsus, Das Buch Paragrcmum. Daselbst 1903.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294663"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1061" prev="#ID_1060"> Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit unsrer Staatsbehörden? Sie würden ohne Zuchthaus¬<lb/>
androhung ebenso korrekt ihres Amtes walten. Gleichwohl &#x2014; und darin über¬<lb/>
schätzen wir auch die überzeugende Kraft dieser Darlegung nicht &#x2014; besteht keine<lb/>
Aussicht, durch die Reichsgesetzgebung diese unzweckmäßigen Normen zu beseitigen.<lb/>
Die verbreitete Besorgnis, der Staatsanwalt werde ohne Zügel und Sporn nur<lb/>
den sogenannten kleinen Mann verfolgen, den Übeltäter höherer Stände aber un¬<lb/>
behelligt lassen, dürfte, so unbegründet sie ist, ein schwer zu beseitigendes Hindernis<lb/>
sein. Vielleicht ist es aber nicht ebenso aussichtslos, der Abschwächung der vor-<lb/>
handnen Bestimmungen das Wort zu reden. So könnte man dem Paragraphen 152<lb/>
der Strafprozeßordnung etwa folgende zwei Absätze hinzufügen: &#x201E;Das Einschreiten<lb/>
kann unterbleiben, wenn es unwahrscheinlich ist, eine Verurteilung zu erreichen."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1062"> Bei Übertretungen und leichtern Vergehen kann der Staatsanwalt, anstatt die<lb/>
öffentliche Klage zu erheben, den Beschuldigten mündlich verwarnen. Der Be¬<lb/>
schuldigte muß unter der Androhung vorgeladen werden, daß falls er der Vorladung<lb/>
nicht folge, gegen ihn die Anklage erhoben werden würde.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1063"> In Paragraph 346 des Strafgesetzbuches müßten die Worte: &#x201E;in der Absicht,<lb/>
jemand der gesetzlichen Strafe widerrechtlich zu entziehn" durch die Fassung: &#x201E;in<lb/>
der Absicht, das Recht zu beugen" ersetzt werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1064"> Diese Vorschläge stellen zwar nur Flickarbeit dar; Berufnere mögen über ihre<lb/>
Verwendbarkeit entscheiden. Daß unser öffentliches Leben an schweren Schäden<lb/>
krankt, ist unverkennbar. Der Pessimist könnte vielleicht die Zeit nicht mehr so<lb/>
fern glauben, von der Gobineau spricht, wo infolge ungeeigneter&#x2014; &#x201E;unstimmiger" &#x2014;<lb/>
Rassenmischung die Bestandteile des deutschen Volkes, das dann eigentlich diese Be¬<lb/>
zeichnung nicht mehr beanspruchen könnte, anfangen, einander nicht mehr zu verstehn.<lb/>
Wer aber die Wunde für heilbar hält, darf auch den nicht schelten, der sie berührt.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Paracelsus.</head>
            <p xml:id="ID_1065" next="#ID_1066"> Wenn wir die Wendeltreppe eines alten Turmes hinaufsteigen,<lb/>
sehen wir nach einer Reihe von Stufen dieselbe Landschaft, die wir schon vorher<lb/>
gesehen hatten, von einem höhern Punkte, und jedesmal, wenn sich das Bild wieder¬<lb/>
holt, begrüßen wir es mit der Freude des Wiedersehens. Es gibt auch geistige<lb/>
Aussichten, die nach Geschlechtern oder nach Jahrhunderten wiederkehren, es sind<lb/>
fast dieselben, die vor unsern Vorfahren gelegen hatten, nur von einem etwas<lb/>
höhern Punkte wahrgenommen. Das ist die Freude, womit wir in den Schriften<lb/>
des lange verkannten und vernachlässigten Theophrastus Paracelsus von Hohenheim*)<lb/>
blättern, daß wir so lebhaft empfinden: dieser Arzt und Philosoph des sechzehnten<lb/>
Jahrhunderts schaute in die Welt wie wir, nur lag seine Treppenstufe um fast<lb/>
vier Jahrhunderte tiefer. Das hat ihn nicht gehindert, ähnliches wahrzunehmen<lb/>
Wie wir&gt; und wenn er den Blick von der Außenwelt wegwendet, so kommen ihm<lb/>
Gedanken, die wir modern nennen. Paracelsus war eine von den unabhängigen,<lb/>
selbständigen Naturen, an denen wir mehr als an neuer Kunst und Wissenschaft<lb/>
das Zeitalter der Renaissance erkennen. In ihm war ein großer Denker mit einem<lb/>
großen Dichter verbunden, und diese Gaben lagen neben einem warmen Herzen,<lb/>
das den Segen der Armut pries und unter &#x201E;dem Schnee seines Elends" für seine<lb/>
Mitmenschen schlug. Daher die Selbstherrlichkeit dieser Persönlichkeit. ^Iwrins<lb/>
Qvn sit, qui fras &lt;zss«z xotsst war sein Wahlspruch. Welcher Lebensmut in dem<lb/>
rastlos wandernden Manne, der mit keinem Strome der Zeit trieb, der sich von<lb/>
keiner Welle zum Erfolg heben ließ, sondern die stärksten mit noch stärkeren Arme<lb/>
teilte! Paracelsus, wo er sagt: Mir ist not, daß ich mich verantworte von wegen<lb/>
meines Landfahrens, und daß ich so gar mindert bleiblich bin, zeichnet den Weg derer,<lb/>
die den Büchern den Rücken wenden und in die Natur hinaustreten. Mein Wandern,</p><lb/>
            <note xml:id="FID_26" place="foot"> Theophrastus Paracelsus Leben und Persönlichkeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte<lb/>
der deutschen Renaissance. Von Franz Streuz, Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig, 1903. &#x2014;<lb/>
Theophrastus Paracelsus, Das Buch Paragrcmum. Daselbst 1903.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0246] Maßgebliches und Unmaßgebliches Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit unsrer Staatsbehörden? Sie würden ohne Zuchthaus¬ androhung ebenso korrekt ihres Amtes walten. Gleichwohl — und darin über¬ schätzen wir auch die überzeugende Kraft dieser Darlegung nicht — besteht keine Aussicht, durch die Reichsgesetzgebung diese unzweckmäßigen Normen zu beseitigen. Die verbreitete Besorgnis, der Staatsanwalt werde ohne Zügel und Sporn nur den sogenannten kleinen Mann verfolgen, den Übeltäter höherer Stände aber un¬ behelligt lassen, dürfte, so unbegründet sie ist, ein schwer zu beseitigendes Hindernis sein. Vielleicht ist es aber nicht ebenso aussichtslos, der Abschwächung der vor- handnen Bestimmungen das Wort zu reden. So könnte man dem Paragraphen 152 der Strafprozeßordnung etwa folgende zwei Absätze hinzufügen: „Das Einschreiten kann unterbleiben, wenn es unwahrscheinlich ist, eine Verurteilung zu erreichen." Bei Übertretungen und leichtern Vergehen kann der Staatsanwalt, anstatt die öffentliche Klage zu erheben, den Beschuldigten mündlich verwarnen. Der Be¬ schuldigte muß unter der Androhung vorgeladen werden, daß falls er der Vorladung nicht folge, gegen ihn die Anklage erhoben werden würde. In Paragraph 346 des Strafgesetzbuches müßten die Worte: „in der Absicht, jemand der gesetzlichen Strafe widerrechtlich zu entziehn" durch die Fassung: „in der Absicht, das Recht zu beugen" ersetzt werden. Diese Vorschläge stellen zwar nur Flickarbeit dar; Berufnere mögen über ihre Verwendbarkeit entscheiden. Daß unser öffentliches Leben an schweren Schäden krankt, ist unverkennbar. Der Pessimist könnte vielleicht die Zeit nicht mehr so fern glauben, von der Gobineau spricht, wo infolge ungeeigneter— „unstimmiger" — Rassenmischung die Bestandteile des deutschen Volkes, das dann eigentlich diese Be¬ zeichnung nicht mehr beanspruchen könnte, anfangen, einander nicht mehr zu verstehn. Wer aber die Wunde für heilbar hält, darf auch den nicht schelten, der sie berührt. Paracelsus. Wenn wir die Wendeltreppe eines alten Turmes hinaufsteigen, sehen wir nach einer Reihe von Stufen dieselbe Landschaft, die wir schon vorher gesehen hatten, von einem höhern Punkte, und jedesmal, wenn sich das Bild wieder¬ holt, begrüßen wir es mit der Freude des Wiedersehens. Es gibt auch geistige Aussichten, die nach Geschlechtern oder nach Jahrhunderten wiederkehren, es sind fast dieselben, die vor unsern Vorfahren gelegen hatten, nur von einem etwas höhern Punkte wahrgenommen. Das ist die Freude, womit wir in den Schriften des lange verkannten und vernachlässigten Theophrastus Paracelsus von Hohenheim*) blättern, daß wir so lebhaft empfinden: dieser Arzt und Philosoph des sechzehnten Jahrhunderts schaute in die Welt wie wir, nur lag seine Treppenstufe um fast vier Jahrhunderte tiefer. Das hat ihn nicht gehindert, ähnliches wahrzunehmen Wie wir> und wenn er den Blick von der Außenwelt wegwendet, so kommen ihm Gedanken, die wir modern nennen. Paracelsus war eine von den unabhängigen, selbständigen Naturen, an denen wir mehr als an neuer Kunst und Wissenschaft das Zeitalter der Renaissance erkennen. In ihm war ein großer Denker mit einem großen Dichter verbunden, und diese Gaben lagen neben einem warmen Herzen, das den Segen der Armut pries und unter „dem Schnee seines Elends" für seine Mitmenschen schlug. Daher die Selbstherrlichkeit dieser Persönlichkeit. ^Iwrins Qvn sit, qui fras <zss«z xotsst war sein Wahlspruch. Welcher Lebensmut in dem rastlos wandernden Manne, der mit keinem Strome der Zeit trieb, der sich von keiner Welle zum Erfolg heben ließ, sondern die stärksten mit noch stärkeren Arme teilte! Paracelsus, wo er sagt: Mir ist not, daß ich mich verantworte von wegen meines Landfahrens, und daß ich so gar mindert bleiblich bin, zeichnet den Weg derer, die den Büchern den Rücken wenden und in die Natur hinaustreten. Mein Wandern, Theophrastus Paracelsus Leben und Persönlichkeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der deutschen Renaissance. Von Franz Streuz, Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig, 1903. — Theophrastus Paracelsus, Das Buch Paragrcmum. Daselbst 1903.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/246
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/246>, abgerufen am 28.04.2024.