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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Kulturlebens der Gegenwart ist." Zu den Übelständen, an deren Überwindung
ernsthaft gedacht werden müsse, rechnet er das vielfach unbefriedigende Verhältnis
zwischen Lehrern und Schülern. "Daß das Bestehen einer besondern Schülermoral,
deren Licenzen in einer andern Lebenssphäre höchst anstößig sein würden, nicht als
etwas Harmloses und für die weitere Charakterbildung Gleichgültiges hinzunehmen
sei, darin haben einige von den oben besprochnen Schriftstellern ganz recht. Schlimm
ist es namentlich, daß die außen stehenden Erwachsnen jene Licenzen ihrerseits als
selbstverständlich berechtigt anzuerkennen Pflegen, nicht schlechthin aus sittlicher Ober¬
flächlichkeit, sondern zum Teil auch aus Verständnis der innern Situation. Das
Mittel aber zur Überwindung ist zweifellos eine vollere innere Befreiung der
Zöglinge, mehr Anregung und weniger Einengung, mehr freundschaftliche Führer¬
stellung und weniger mißtrauende Jenseitigkeit, mehr Verständnis der Jngend und
weniger Starrheit der Maßstäbe, mehr guter Humor und weniger kleinliches Nörgeln,
mehr gefördertes Selbstvertrauen und weniger Angst, mehr Würdigung der indivi¬
duellen Unterschiede und weniger Schablone." Als Strömungen und Stimmungen
der heutigen Kulturwelt, denen auch in der Schule Rechnung getragen werden müsse,
bezeichnet er die Denkmüdigkeit, die Freude an einem kräftigen Wollen und das
Verlangen danach, die Abneigung gegen den Intellektualismus und den Universa¬
lismus. Was die Frauenbildung betrifft, so meint er, daß ihre angebliche bisherige
Vernachlässigung, über die man sich entrüstet, nicht eben sehr zu beklagen sei; man
werde doch nicht behaupten wollen, daß die Intelligenz, die Urteilsfähigkeit, das
Weltverständnis, das geistige Interesse der Frauen der gebildeten Stände dem der
Männer so viel nachstehe wie Zeit und Umfang des planmäßigen Lernens. Und Wie
könne man die Knabenerziehung für Mädchen gerade jetzt verlangen, wo jene so
scharf kritisiert und mit einem völligen Umsturz bedroht werde? In Beziehung auf
die Verwaltung und die Schulaufsicht hält der Verfasser ein wenig republikanische
Mitregierung für wünschenswert, einen aus Praktikern bestehenden Beirat, den der
preußische Unterrichtsminister gewiß gern hören werde, denn die Zentralinstanz für
das Unterrichtswesen in Preußen sei nicht im mindesten unzugänglich; das sei weder
eine Schmeichelei noch eine e->.xtg.dio dsnsvolsntias, sondern einfache Wahrheit, wie
jeder Kundige bestätigen müsse. Innerhalb der öffentlichen Schulen könne die Gefahr
der Erstarrung nur dadurch beschworen werden, daß ein gewisses Maß von Be-
wegungs- und Versuchsfreiheit gelassen werde; der Gebiete, auf denen dies möglich
sei, ohne daß man Verwirrung befürchten müsse, gebe es nicht wenige.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will), Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig





Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Kulturlebens der Gegenwart ist." Zu den Übelständen, an deren Überwindung
ernsthaft gedacht werden müsse, rechnet er das vielfach unbefriedigende Verhältnis
zwischen Lehrern und Schülern. „Daß das Bestehen einer besondern Schülermoral,
deren Licenzen in einer andern Lebenssphäre höchst anstößig sein würden, nicht als
etwas Harmloses und für die weitere Charakterbildung Gleichgültiges hinzunehmen
sei, darin haben einige von den oben besprochnen Schriftstellern ganz recht. Schlimm
ist es namentlich, daß die außen stehenden Erwachsnen jene Licenzen ihrerseits als
selbstverständlich berechtigt anzuerkennen Pflegen, nicht schlechthin aus sittlicher Ober¬
flächlichkeit, sondern zum Teil auch aus Verständnis der innern Situation. Das
Mittel aber zur Überwindung ist zweifellos eine vollere innere Befreiung der
Zöglinge, mehr Anregung und weniger Einengung, mehr freundschaftliche Führer¬
stellung und weniger mißtrauende Jenseitigkeit, mehr Verständnis der Jngend und
weniger Starrheit der Maßstäbe, mehr guter Humor und weniger kleinliches Nörgeln,
mehr gefördertes Selbstvertrauen und weniger Angst, mehr Würdigung der indivi¬
duellen Unterschiede und weniger Schablone." Als Strömungen und Stimmungen
der heutigen Kulturwelt, denen auch in der Schule Rechnung getragen werden müsse,
bezeichnet er die Denkmüdigkeit, die Freude an einem kräftigen Wollen und das
Verlangen danach, die Abneigung gegen den Intellektualismus und den Universa¬
lismus. Was die Frauenbildung betrifft, so meint er, daß ihre angebliche bisherige
Vernachlässigung, über die man sich entrüstet, nicht eben sehr zu beklagen sei; man
werde doch nicht behaupten wollen, daß die Intelligenz, die Urteilsfähigkeit, das
Weltverständnis, das geistige Interesse der Frauen der gebildeten Stände dem der
Männer so viel nachstehe wie Zeit und Umfang des planmäßigen Lernens. Und Wie
könne man die Knabenerziehung für Mädchen gerade jetzt verlangen, wo jene so
scharf kritisiert und mit einem völligen Umsturz bedroht werde? In Beziehung auf
die Verwaltung und die Schulaufsicht hält der Verfasser ein wenig republikanische
Mitregierung für wünschenswert, einen aus Praktikern bestehenden Beirat, den der
preußische Unterrichtsminister gewiß gern hören werde, denn die Zentralinstanz für
das Unterrichtswesen in Preußen sei nicht im mindesten unzugänglich; das sei weder
eine Schmeichelei noch eine e->.xtg.dio dsnsvolsntias, sondern einfache Wahrheit, wie
jeder Kundige bestätigen müsse. Innerhalb der öffentlichen Schulen könne die Gefahr
der Erstarrung nur dadurch beschworen werden, daß ein gewisses Maß von Be-
wegungs- und Versuchsfreiheit gelassen werde; der Gebiete, auf denen dies möglich
sei, ohne daß man Verwirrung befürchten müsse, gebe es nicht wenige.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will), Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig





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[0310] Maßgebliches und Unmaßgebliches des Kulturlebens der Gegenwart ist." Zu den Übelständen, an deren Überwindung ernsthaft gedacht werden müsse, rechnet er das vielfach unbefriedigende Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. „Daß das Bestehen einer besondern Schülermoral, deren Licenzen in einer andern Lebenssphäre höchst anstößig sein würden, nicht als etwas Harmloses und für die weitere Charakterbildung Gleichgültiges hinzunehmen sei, darin haben einige von den oben besprochnen Schriftstellern ganz recht. Schlimm ist es namentlich, daß die außen stehenden Erwachsnen jene Licenzen ihrerseits als selbstverständlich berechtigt anzuerkennen Pflegen, nicht schlechthin aus sittlicher Ober¬ flächlichkeit, sondern zum Teil auch aus Verständnis der innern Situation. Das Mittel aber zur Überwindung ist zweifellos eine vollere innere Befreiung der Zöglinge, mehr Anregung und weniger Einengung, mehr freundschaftliche Führer¬ stellung und weniger mißtrauende Jenseitigkeit, mehr Verständnis der Jngend und weniger Starrheit der Maßstäbe, mehr guter Humor und weniger kleinliches Nörgeln, mehr gefördertes Selbstvertrauen und weniger Angst, mehr Würdigung der indivi¬ duellen Unterschiede und weniger Schablone." Als Strömungen und Stimmungen der heutigen Kulturwelt, denen auch in der Schule Rechnung getragen werden müsse, bezeichnet er die Denkmüdigkeit, die Freude an einem kräftigen Wollen und das Verlangen danach, die Abneigung gegen den Intellektualismus und den Universa¬ lismus. Was die Frauenbildung betrifft, so meint er, daß ihre angebliche bisherige Vernachlässigung, über die man sich entrüstet, nicht eben sehr zu beklagen sei; man werde doch nicht behaupten wollen, daß die Intelligenz, die Urteilsfähigkeit, das Weltverständnis, das geistige Interesse der Frauen der gebildeten Stände dem der Männer so viel nachstehe wie Zeit und Umfang des planmäßigen Lernens. Und Wie könne man die Knabenerziehung für Mädchen gerade jetzt verlangen, wo jene so scharf kritisiert und mit einem völligen Umsturz bedroht werde? In Beziehung auf die Verwaltung und die Schulaufsicht hält der Verfasser ein wenig republikanische Mitregierung für wünschenswert, einen aus Praktikern bestehenden Beirat, den der preußische Unterrichtsminister gewiß gern hören werde, denn die Zentralinstanz für das Unterrichtswesen in Preußen sei nicht im mindesten unzugänglich; das sei weder eine Schmeichelei noch eine e->.xtg.dio dsnsvolsntias, sondern einfache Wahrheit, wie jeder Kundige bestätigen müsse. Innerhalb der öffentlichen Schulen könne die Gefahr der Erstarrung nur dadurch beschworen werden, daß ein gewisses Maß von Be- wegungs- und Versuchsfreiheit gelassen werde; der Gebiete, auf denen dies möglich sei, ohne daß man Verwirrung befürchten müsse, gebe es nicht wenige. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will), Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/310>, abgerufen am 27.04.2024.