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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die Engländer in der Hauptstadt Tibets

!M 3. August ist die kleine englische Truppenabteilung unter
General Macdonald und Oberst Aounghusband vor Lhassa er¬
schienen. Unverteidigt lag die Hauptstadt da. Weder ist sie von
schirmenden Mauern umgeben, noch bildeten Bewaffnete einen
I lebendigen Wall. Nur in der ersten Zeit des Erscheinens der
Eindringlinge in dem heiligen, weltabgeschlossenen Tibet wurden die Waffen
zur Abwehr gebraucht. Am 5. Mai wurde nach alttibetanischer Kriegskunst
ein Nachtangriff auf das britische Lager zu Gyangtse gemacht, er hatte aber
nur den Erfolg, den Einmarsch unabwendbarer zu machen. Am 14. Juli brach
die anglobritische Kolonne auf und hatte nun kaum noch einen Schuß abzu¬
geben, in letzter Zeit, seit dem Passieren des Karo-la-Passes überhaupt keinen
mehr. Die Bevölkerung hatte die Kraft der englischen Waffen, die Tragweite
der Gewehre kennen gelernt, und unkriegerisch und "gutmütig," wie sie nach
Sven Hedins Schilderungen ist, verzichtete sie nun auf jeglichen Kampf, so
unerwünscht ihr auch das Vorrücken der Fremden sein mochte. Am Tage vor
deren Ankunft soll noch einmal eine Art von Kriegsfeuer durch die Lamas
gegangen sein; 10000 bis 15000 Mönche sollen nach Kampf verlangt haben.
Am andern Morgen war alles verflogen. Es wäre auch ein gar zu ungleiches
Fechten gewesen: hier die neusten Magazin- und Maschinengewehre, dort
rostige Spieße, Bogen und Pfeile und höchstens abgesetzte Vorderlader aus
der Zeit der napoleonischen Kriege. Vor diesem Hinmorden haben außer den
eignen kurzen Erfahrungen die Ratschläge der Gesandten von China und Nepal
am Hofe des Dalai-Lama die Tibetaner bewahrt. Sie hatten immer die
Lamas gewarnt vor dem Glauben, die Engländer gewaltsam fern halten zu
können; sie hatten dringend gemahnt, eine Verständigung zu suchen. Doch
was war zu machen gegen den verbohrten Glauben der Mönche an die Un¬
nahbarkeit ihres Landes und an die Kraft ihrer Gebetmühlen? Diese Apparate,
die so oft als kennzeichnend für Tibet angeführt werden, sind tatsächlich noch
immer im Gebrauch. "Om inani Muis Kam! O Blume des Lotos, Amen" --
das ist meist der ganze Inhalt der millionenfach eintönig wiederholten und
durch flatternde Zettel und Gebetmühlen vervielfältigten Gebete. Im letzten
Augenblick ist der Dalai-Lama, der fleischgewordne Buddha, in Wahrheit ein


Grenzboten III 1904 49


Die Engländer in der Hauptstadt Tibets

!M 3. August ist die kleine englische Truppenabteilung unter
General Macdonald und Oberst Aounghusband vor Lhassa er¬
schienen. Unverteidigt lag die Hauptstadt da. Weder ist sie von
schirmenden Mauern umgeben, noch bildeten Bewaffnete einen
I lebendigen Wall. Nur in der ersten Zeit des Erscheinens der
Eindringlinge in dem heiligen, weltabgeschlossenen Tibet wurden die Waffen
zur Abwehr gebraucht. Am 5. Mai wurde nach alttibetanischer Kriegskunst
ein Nachtangriff auf das britische Lager zu Gyangtse gemacht, er hatte aber
nur den Erfolg, den Einmarsch unabwendbarer zu machen. Am 14. Juli brach
die anglobritische Kolonne auf und hatte nun kaum noch einen Schuß abzu¬
geben, in letzter Zeit, seit dem Passieren des Karo-la-Passes überhaupt keinen
mehr. Die Bevölkerung hatte die Kraft der englischen Waffen, die Tragweite
der Gewehre kennen gelernt, und unkriegerisch und „gutmütig," wie sie nach
Sven Hedins Schilderungen ist, verzichtete sie nun auf jeglichen Kampf, so
unerwünscht ihr auch das Vorrücken der Fremden sein mochte. Am Tage vor
deren Ankunft soll noch einmal eine Art von Kriegsfeuer durch die Lamas
gegangen sein; 10000 bis 15000 Mönche sollen nach Kampf verlangt haben.
Am andern Morgen war alles verflogen. Es wäre auch ein gar zu ungleiches
Fechten gewesen: hier die neusten Magazin- und Maschinengewehre, dort
rostige Spieße, Bogen und Pfeile und höchstens abgesetzte Vorderlader aus
der Zeit der napoleonischen Kriege. Vor diesem Hinmorden haben außer den
eignen kurzen Erfahrungen die Ratschläge der Gesandten von China und Nepal
am Hofe des Dalai-Lama die Tibetaner bewahrt. Sie hatten immer die
Lamas gewarnt vor dem Glauben, die Engländer gewaltsam fern halten zu
können; sie hatten dringend gemahnt, eine Verständigung zu suchen. Doch
was war zu machen gegen den verbohrten Glauben der Mönche an die Un¬
nahbarkeit ihres Landes und an die Kraft ihrer Gebetmühlen? Diese Apparate,
die so oft als kennzeichnend für Tibet angeführt werden, sind tatsächlich noch
immer im Gebrauch. „Om inani Muis Kam! O Blume des Lotos, Amen" —
das ist meist der ganze Inhalt der millionenfach eintönig wiederholten und
durch flatternde Zettel und Gebetmühlen vervielfältigten Gebete. Im letzten
Augenblick ist der Dalai-Lama, der fleischgewordne Buddha, in Wahrheit ein


Grenzboten III 1904 49
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[0373] [Abbildung] Die Engländer in der Hauptstadt Tibets !M 3. August ist die kleine englische Truppenabteilung unter General Macdonald und Oberst Aounghusband vor Lhassa er¬ schienen. Unverteidigt lag die Hauptstadt da. Weder ist sie von schirmenden Mauern umgeben, noch bildeten Bewaffnete einen I lebendigen Wall. Nur in der ersten Zeit des Erscheinens der Eindringlinge in dem heiligen, weltabgeschlossenen Tibet wurden die Waffen zur Abwehr gebraucht. Am 5. Mai wurde nach alttibetanischer Kriegskunst ein Nachtangriff auf das britische Lager zu Gyangtse gemacht, er hatte aber nur den Erfolg, den Einmarsch unabwendbarer zu machen. Am 14. Juli brach die anglobritische Kolonne auf und hatte nun kaum noch einen Schuß abzu¬ geben, in letzter Zeit, seit dem Passieren des Karo-la-Passes überhaupt keinen mehr. Die Bevölkerung hatte die Kraft der englischen Waffen, die Tragweite der Gewehre kennen gelernt, und unkriegerisch und „gutmütig," wie sie nach Sven Hedins Schilderungen ist, verzichtete sie nun auf jeglichen Kampf, so unerwünscht ihr auch das Vorrücken der Fremden sein mochte. Am Tage vor deren Ankunft soll noch einmal eine Art von Kriegsfeuer durch die Lamas gegangen sein; 10000 bis 15000 Mönche sollen nach Kampf verlangt haben. Am andern Morgen war alles verflogen. Es wäre auch ein gar zu ungleiches Fechten gewesen: hier die neusten Magazin- und Maschinengewehre, dort rostige Spieße, Bogen und Pfeile und höchstens abgesetzte Vorderlader aus der Zeit der napoleonischen Kriege. Vor diesem Hinmorden haben außer den eignen kurzen Erfahrungen die Ratschläge der Gesandten von China und Nepal am Hofe des Dalai-Lama die Tibetaner bewahrt. Sie hatten immer die Lamas gewarnt vor dem Glauben, die Engländer gewaltsam fern halten zu können; sie hatten dringend gemahnt, eine Verständigung zu suchen. Doch was war zu machen gegen den verbohrten Glauben der Mönche an die Un¬ nahbarkeit ihres Landes und an die Kraft ihrer Gebetmühlen? Diese Apparate, die so oft als kennzeichnend für Tibet angeführt werden, sind tatsächlich noch immer im Gebrauch. „Om inani Muis Kam! O Blume des Lotos, Amen" — das ist meist der ganze Inhalt der millionenfach eintönig wiederholten und durch flatternde Zettel und Gebetmühlen vervielfältigten Gebete. Im letzten Augenblick ist der Dalai-Lama, der fleischgewordne Buddha, in Wahrheit ein Grenzboten III 1904 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/373>, abgerufen am 27.04.2024.