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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

in der zweiten Hälfte des Monats verbreitete sich im Biwak eines der sich auf dem
Marsche nach Wien befindenden Garderegimenter die Nachricht, daß der Abmarsch
des Gardekorps nach Linz, von da mit der Bahn nach Süddeutschland, in Aussicht
genommen sei, "weil der Franzose sich mausig mache." Einer der ältesten Reser¬
visten, ein Westfale, verheiratet und Vater mehrerer Kinder, sagte dazu ruhig: "Nun
sind wir einmal dabei, da können wir dem die Jacke auch noch auswaschen."
Schreiber dieser Zeilen, als Ohren- und Augenzeuge, war innerlich hoch erfreut über
diese schöne zuversichtliche Entschlossenheit. Unter dem 8. August, schon wieder in
Berlin, hat dann Moltke an Bismarck eine Denkschrift über den Aufmarsch der
Armee im Falle eines Krieges mit Frankreich übersandt, wonach 120000 Mann bei
Prag gegen Österreich stehen bleiben, 240000 Mann bis zum 9. September bei
Mainz und Mannheim versammelt sein sollten; unter Hinzurechnung der Süd¬
deutschen seien nach Abzug der Festungsbesatzungen 300000 Mann als Operations¬
armee gegen Frankreich verfügbar; zwei Tage später erging eine weitere Denkschrift
darüber an Roon. (Moltkes Militärische Korrespondenz 1866, S. 345 u. f.)

Man war somit auf militärischer Seite bereit und entschlossen, in den Krieg einzu¬
treten. -- Am 21. August wurde Th. von Bernhardt, ans Florenz zurückgekehrt, vom
König empfangen. Bernhardt erzählt (Bd. 7, S. 262): "Ich erlaubte mir anzu¬
deuten, daß der Kampf mit Frankreich vielleicht nur aufgeschoben sei, aber der Auf¬
schub jedenfalls ein Gewinn --: In zwei Jahren werden Ew. Majestät noch besser
gerüstet sein! Der König blickte schweigend durch die Fensterscheiben hinaus." So¬
viel noch über die "Vorboten."


H.
Neuveröffentlichte Briefe von Benjamin Constant.

In der Rsvue-
ci"zg RovuöL werden eine Reihe bisher unveröffentlichter Briefe publiziert, die
Benjamin Constant, der Erfinder des psychologischen Romans, der Schützling der
Madame de Charriere, der Freund der Madame de Staat, der Anbeter der
Recamier und der Gatte der geschiednen Madame Dutertre, gebornen Charlotte
von Hardenberg, zwischen 1804 und 1830 an seinen Freund Claude Hochet,
einen ausgezeichneten Schriftsteller und Staatsratssekretär von 1816 bis 1840,
gerichtet hat. Benjamin Constant hatte 1802 Frankreich mit Madame de Staat
verlassen müssen; die meisten der jetzt, in der Revue vom 1. und vom 15. Mai,
veröffentlichten Briefe stammen darum aus Deutschland, wo Constant auch seine
erste Erziehung erhalten hatte. Wir entnehmen den für die Psychologie des
französischen Politikers, Dichters und Philosophen wichtigen Briefen einiges, was
uns in Deutschland besonders interessieren dürfte. Am 10. März 1804 schreibt
er von Leipzig: "Ich schätze mich außerordentlich glücklich, daß ich nach Deutsch¬
land gereist bin. Es ist doch ein Land, das für den genauen Beobachter, der die
Sprache kennt, von großem Interesse ist. In allen Geistern hier gard es ganz
wunderbar; aber es sind nicht politische Stoffe, die sie bewegen -- davon hat
unsre Revolution sie abgewandt --, sondern die Philosophie, die Künste, die Religion
und die Literatur. Das deutsche Volk ist das unparteiischste, das es gibt; von
Vorurteilen und Konvention ist es gänzlich frei. Das zurückgezogne Leben der
Männer der Literatur und der Wissenschaft, ihre Absonderung von den Höfen,
ihre Ausschließung von den Ämtern und die Gleichgiltigkeit, die sie dadurch dem
Karrieremachen entgegenbringen können, machen sie zu reinen Denkern. Sie lesen,
meditieren oder schreiben den ganzen Tag; keine Seite ihres Objekts entgeht ihnen,
keine wird nicht mit Ernst betrachtet: und was ein Fehler an ihren Büchern ist,
ist auch ein Mittel, die Materie, die sie behandeln, genauer erfassen zu lernen.
Der Franzose fängt damit an, daß er ein System macht, dann sucht er die Tat¬
sachen dafür -- manchmal sucht er sie auch nicht. Der Deutsche sammelt alle Tat¬
sachen und will oftmals gar kein System herausfinden. -- Die geistigen Größen
Deutschlands haben nicht die Schwerfälligkeit, die man ihren Gelehrten zuschreibt.
Goethe ist ein Mann von höchster Feinheit des Geistes, oft ist er voller Grazie


Maßgebliches und Unmaßgebliches

in der zweiten Hälfte des Monats verbreitete sich im Biwak eines der sich auf dem
Marsche nach Wien befindenden Garderegimenter die Nachricht, daß der Abmarsch
des Gardekorps nach Linz, von da mit der Bahn nach Süddeutschland, in Aussicht
genommen sei, „weil der Franzose sich mausig mache." Einer der ältesten Reser¬
visten, ein Westfale, verheiratet und Vater mehrerer Kinder, sagte dazu ruhig: „Nun
sind wir einmal dabei, da können wir dem die Jacke auch noch auswaschen."
Schreiber dieser Zeilen, als Ohren- und Augenzeuge, war innerlich hoch erfreut über
diese schöne zuversichtliche Entschlossenheit. Unter dem 8. August, schon wieder in
Berlin, hat dann Moltke an Bismarck eine Denkschrift über den Aufmarsch der
Armee im Falle eines Krieges mit Frankreich übersandt, wonach 120000 Mann bei
Prag gegen Österreich stehen bleiben, 240000 Mann bis zum 9. September bei
Mainz und Mannheim versammelt sein sollten; unter Hinzurechnung der Süd¬
deutschen seien nach Abzug der Festungsbesatzungen 300000 Mann als Operations¬
armee gegen Frankreich verfügbar; zwei Tage später erging eine weitere Denkschrift
darüber an Roon. (Moltkes Militärische Korrespondenz 1866, S. 345 u. f.)

Man war somit auf militärischer Seite bereit und entschlossen, in den Krieg einzu¬
treten. — Am 21. August wurde Th. von Bernhardt, ans Florenz zurückgekehrt, vom
König empfangen. Bernhardt erzählt (Bd. 7, S. 262): „Ich erlaubte mir anzu¬
deuten, daß der Kampf mit Frankreich vielleicht nur aufgeschoben sei, aber der Auf¬
schub jedenfalls ein Gewinn —: In zwei Jahren werden Ew. Majestät noch besser
gerüstet sein! Der König blickte schweigend durch die Fensterscheiben hinaus." So¬
viel noch über die „Vorboten."


H.
Neuveröffentlichte Briefe von Benjamin Constant.

In der Rsvue-
ci«zg RovuöL werden eine Reihe bisher unveröffentlichter Briefe publiziert, die
Benjamin Constant, der Erfinder des psychologischen Romans, der Schützling der
Madame de Charriere, der Freund der Madame de Staat, der Anbeter der
Recamier und der Gatte der geschiednen Madame Dutertre, gebornen Charlotte
von Hardenberg, zwischen 1804 und 1830 an seinen Freund Claude Hochet,
einen ausgezeichneten Schriftsteller und Staatsratssekretär von 1816 bis 1840,
gerichtet hat. Benjamin Constant hatte 1802 Frankreich mit Madame de Staat
verlassen müssen; die meisten der jetzt, in der Revue vom 1. und vom 15. Mai,
veröffentlichten Briefe stammen darum aus Deutschland, wo Constant auch seine
erste Erziehung erhalten hatte. Wir entnehmen den für die Psychologie des
französischen Politikers, Dichters und Philosophen wichtigen Briefen einiges, was
uns in Deutschland besonders interessieren dürfte. Am 10. März 1804 schreibt
er von Leipzig: „Ich schätze mich außerordentlich glücklich, daß ich nach Deutsch¬
land gereist bin. Es ist doch ein Land, das für den genauen Beobachter, der die
Sprache kennt, von großem Interesse ist. In allen Geistern hier gard es ganz
wunderbar; aber es sind nicht politische Stoffe, die sie bewegen — davon hat
unsre Revolution sie abgewandt —, sondern die Philosophie, die Künste, die Religion
und die Literatur. Das deutsche Volk ist das unparteiischste, das es gibt; von
Vorurteilen und Konvention ist es gänzlich frei. Das zurückgezogne Leben der
Männer der Literatur und der Wissenschaft, ihre Absonderung von den Höfen,
ihre Ausschließung von den Ämtern und die Gleichgiltigkeit, die sie dadurch dem
Karrieremachen entgegenbringen können, machen sie zu reinen Denkern. Sie lesen,
meditieren oder schreiben den ganzen Tag; keine Seite ihres Objekts entgeht ihnen,
keine wird nicht mit Ernst betrachtet: und was ein Fehler an ihren Büchern ist,
ist auch ein Mittel, die Materie, die sie behandeln, genauer erfassen zu lernen.
Der Franzose fängt damit an, daß er ein System macht, dann sucht er die Tat¬
sachen dafür — manchmal sucht er sie auch nicht. Der Deutsche sammelt alle Tat¬
sachen und will oftmals gar kein System herausfinden. — Die geistigen Größen
Deutschlands haben nicht die Schwerfälligkeit, die man ihren Gelehrten zuschreibt.
Goethe ist ein Mann von höchster Feinheit des Geistes, oft ist er voller Grazie


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[0062] Maßgebliches und Unmaßgebliches in der zweiten Hälfte des Monats verbreitete sich im Biwak eines der sich auf dem Marsche nach Wien befindenden Garderegimenter die Nachricht, daß der Abmarsch des Gardekorps nach Linz, von da mit der Bahn nach Süddeutschland, in Aussicht genommen sei, „weil der Franzose sich mausig mache." Einer der ältesten Reser¬ visten, ein Westfale, verheiratet und Vater mehrerer Kinder, sagte dazu ruhig: „Nun sind wir einmal dabei, da können wir dem die Jacke auch noch auswaschen." Schreiber dieser Zeilen, als Ohren- und Augenzeuge, war innerlich hoch erfreut über diese schöne zuversichtliche Entschlossenheit. Unter dem 8. August, schon wieder in Berlin, hat dann Moltke an Bismarck eine Denkschrift über den Aufmarsch der Armee im Falle eines Krieges mit Frankreich übersandt, wonach 120000 Mann bei Prag gegen Österreich stehen bleiben, 240000 Mann bis zum 9. September bei Mainz und Mannheim versammelt sein sollten; unter Hinzurechnung der Süd¬ deutschen seien nach Abzug der Festungsbesatzungen 300000 Mann als Operations¬ armee gegen Frankreich verfügbar; zwei Tage später erging eine weitere Denkschrift darüber an Roon. (Moltkes Militärische Korrespondenz 1866, S. 345 u. f.) Man war somit auf militärischer Seite bereit und entschlossen, in den Krieg einzu¬ treten. — Am 21. August wurde Th. von Bernhardt, ans Florenz zurückgekehrt, vom König empfangen. Bernhardt erzählt (Bd. 7, S. 262): „Ich erlaubte mir anzu¬ deuten, daß der Kampf mit Frankreich vielleicht nur aufgeschoben sei, aber der Auf¬ schub jedenfalls ein Gewinn —: In zwei Jahren werden Ew. Majestät noch besser gerüstet sein! Der König blickte schweigend durch die Fensterscheiben hinaus." So¬ viel noch über die „Vorboten." H. Neuveröffentlichte Briefe von Benjamin Constant. In der Rsvue- ci«zg RovuöL werden eine Reihe bisher unveröffentlichter Briefe publiziert, die Benjamin Constant, der Erfinder des psychologischen Romans, der Schützling der Madame de Charriere, der Freund der Madame de Staat, der Anbeter der Recamier und der Gatte der geschiednen Madame Dutertre, gebornen Charlotte von Hardenberg, zwischen 1804 und 1830 an seinen Freund Claude Hochet, einen ausgezeichneten Schriftsteller und Staatsratssekretär von 1816 bis 1840, gerichtet hat. Benjamin Constant hatte 1802 Frankreich mit Madame de Staat verlassen müssen; die meisten der jetzt, in der Revue vom 1. und vom 15. Mai, veröffentlichten Briefe stammen darum aus Deutschland, wo Constant auch seine erste Erziehung erhalten hatte. Wir entnehmen den für die Psychologie des französischen Politikers, Dichters und Philosophen wichtigen Briefen einiges, was uns in Deutschland besonders interessieren dürfte. Am 10. März 1804 schreibt er von Leipzig: „Ich schätze mich außerordentlich glücklich, daß ich nach Deutsch¬ land gereist bin. Es ist doch ein Land, das für den genauen Beobachter, der die Sprache kennt, von großem Interesse ist. In allen Geistern hier gard es ganz wunderbar; aber es sind nicht politische Stoffe, die sie bewegen — davon hat unsre Revolution sie abgewandt —, sondern die Philosophie, die Künste, die Religion und die Literatur. Das deutsche Volk ist das unparteiischste, das es gibt; von Vorurteilen und Konvention ist es gänzlich frei. Das zurückgezogne Leben der Männer der Literatur und der Wissenschaft, ihre Absonderung von den Höfen, ihre Ausschließung von den Ämtern und die Gleichgiltigkeit, die sie dadurch dem Karrieremachen entgegenbringen können, machen sie zu reinen Denkern. Sie lesen, meditieren oder schreiben den ganzen Tag; keine Seite ihres Objekts entgeht ihnen, keine wird nicht mit Ernst betrachtet: und was ein Fehler an ihren Büchern ist, ist auch ein Mittel, die Materie, die sie behandeln, genauer erfassen zu lernen. Der Franzose fängt damit an, daß er ein System macht, dann sucht er die Tat¬ sachen dafür — manchmal sucht er sie auch nicht. Der Deutsche sammelt alle Tat¬ sachen und will oftmals gar kein System herausfinden. — Die geistigen Größen Deutschlands haben nicht die Schwerfälligkeit, die man ihren Gelehrten zuschreibt. Goethe ist ein Mann von höchster Feinheit des Geistes, oft ist er voller Grazie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/62>, abgerufen am 27.04.2024.