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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

hängen, ob deren Stammmutter Modeste von Unruh wirklich dem Ebenbürtigkeits¬
erfordernis genügt, das der Dresdner Schiedsspruch selbst ausdrücklich für das
achtzehnte und den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als Mindesterfordernis
erkannt und festgesetzt hat. Es wird dann weiter die Thronfolgefähigkeit der
zweiten erbherrlichen Linie des Gesamthauses Lippe, der gräflichen Linie Lippe-
Weißenfeld, zu prüfen sein. Von den Ergebnissen dieser Prüfungen wird es dann
abhängen, ob die Thronfolge auf die jüngste der drei erbherrlichen Linien des
Gesamthauses Lippe, das fürstliche Haus Schaumburg-Lippe, übergeht oder nicht.

Ob der Bundesrat selbst die Entscheidung treffen, oder ob er ein Gerichts¬
kollegium, eine juristische Fakultät, einen oder mehrere Sachverständige, einen ein¬
zelnen Bundesfürsten oder wen sonst mit der Fällung des Urteils betrauen will,
darüber wird er sich wohl erst schlüssig machen, "wenn ein mit den Ansprüchen
Schaumburg-Lippes unvereinbarer Fall der Thronfolge oder Regentschaft in Lippe
vorliegt," d. h. wenn nach dem Ableben des Grafregenten Ernst dessen ältester
Sohn auf Grund des Lippeschen Landtngsbeschlusses vom 16. März 1898 die
Regentschaft oder die Thronfolge im Fürstentum Lippe übernehmen sollte. Zunächst
wird dann der Bundesrat die Frage zu entscheiden haben, ob die fürstlich Lippesche
Regierung berechtigt gewesen ist, die Thronfolge in Lippe mit den gesetzgebenden
Faktoren des Fürstentums selbständig zu regeln. Von dieser Entscheidung, für die
der Bundesrat laut Artikel 76 Absatz 1 der Verfassung des Deutschen Reichs
durchaus zuständig ist, wird die weitere Entwicklung des Lippeschen Erbfolgestreits
und dessen endgiltige Erledigung abhängen. Artikel 76 Absatz 1 der Reichsver¬
fassung bestimmt: "Streitigkeiten zwischen verschiednen Bundesstaaten, sofern die¬
selben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden
zu entscheiden sind, werden auf Anrufen des einen Teiles von dem Bundesrate
erledigt."


Gelo Auntzemüller
Ein neuer Messias.

Es wäre geradezu wunderbar und unverständlich,
wenn die refvrmjüdische Intelligenz nicht den gegenwärtigen Zustand der protestan¬
tischen Theologie in ihrem Sinne ausnutzte und mit ihrer talmudischen Gelehr¬
samkeit den Bibelkritikern und Dogmenhistorikern bei der Arbeit, die rein mensch¬
liche und natürliche Entstehung der Bibel und der Kirche nachzuweisen, behilflich
wäre. Jedermann weiß denn auch, wie nahe einander das Reformjudentum, der
kirchliche und der politische Liberalismus stehn. Indem aber das zuerst genannte
den Nassencharakter des Judentums vergessen machen und nur noch preußische
Staatsbürger oder Deutsche mosaischer Konfession kennen will, hat es die scharfe
Opposition solcher Juden, die sich ihrer Nationalität bewußt und darauf stolz sind,
hervorgerufen, und diese Opposition hat zusammen mit dem Bedürfnis der armen
Juden "Halbasiens," sich aus ihrem sozialen Elend und dem in Rußland und
Rumänien auf ihnen lastenden Drucke zu befreien, die zionistische Bewegung hervor¬
gerufen. Und diese hinwiederum hat in de Jorge eine Frucht gezeitigt, von der
man sagen darf: So etwas ist wirklich noch nicht dagewesen!

Moritz oder, wie er sich schreibt, Christoph Morris de Jorge ist 1864 in
Köln als Sprößling einer dort ansässigen vornehmen Judenfamilie geboren, hat
die juristische Doktorwürde erlangt und einige Schriften über Rechtsfragen ver¬
öffentlicht. Aber seine Fachwissenschaft vermochte ihn nicht zu fesseln. Bald machte
er durch andre Dinge die Welt von sich reden. Wenn ich die zerstreuten An¬
gaben im Anhange zu seinen bald zu erwähnenden Schriften richtig kombiniere,
hat er sich im Jahre 1888 taufen lassen und sich in beleidigenden Briefen von
seiner Familie losgesagt, die ihn für irrsinnig erklärte. Vier jüdische Ärzte setzten
seine Einsparung in die Schöneberger Irrenanstalt durch, aber es gelang ihm.
sich zu befreien, und als ein Redakteur, der seine Sache vertreten hatte, wegen
Beleidigung des Geheimrath und Kreisphysikus Bär angeklagt wurde, der die Ein-


Grenzboten III 1904 96
Maßgebliches und Unmaßgebliches

hängen, ob deren Stammmutter Modeste von Unruh wirklich dem Ebenbürtigkeits¬
erfordernis genügt, das der Dresdner Schiedsspruch selbst ausdrücklich für das
achtzehnte und den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als Mindesterfordernis
erkannt und festgesetzt hat. Es wird dann weiter die Thronfolgefähigkeit der
zweiten erbherrlichen Linie des Gesamthauses Lippe, der gräflichen Linie Lippe-
Weißenfeld, zu prüfen sein. Von den Ergebnissen dieser Prüfungen wird es dann
abhängen, ob die Thronfolge auf die jüngste der drei erbherrlichen Linien des
Gesamthauses Lippe, das fürstliche Haus Schaumburg-Lippe, übergeht oder nicht.

Ob der Bundesrat selbst die Entscheidung treffen, oder ob er ein Gerichts¬
kollegium, eine juristische Fakultät, einen oder mehrere Sachverständige, einen ein¬
zelnen Bundesfürsten oder wen sonst mit der Fällung des Urteils betrauen will,
darüber wird er sich wohl erst schlüssig machen, „wenn ein mit den Ansprüchen
Schaumburg-Lippes unvereinbarer Fall der Thronfolge oder Regentschaft in Lippe
vorliegt," d. h. wenn nach dem Ableben des Grafregenten Ernst dessen ältester
Sohn auf Grund des Lippeschen Landtngsbeschlusses vom 16. März 1898 die
Regentschaft oder die Thronfolge im Fürstentum Lippe übernehmen sollte. Zunächst
wird dann der Bundesrat die Frage zu entscheiden haben, ob die fürstlich Lippesche
Regierung berechtigt gewesen ist, die Thronfolge in Lippe mit den gesetzgebenden
Faktoren des Fürstentums selbständig zu regeln. Von dieser Entscheidung, für die
der Bundesrat laut Artikel 76 Absatz 1 der Verfassung des Deutschen Reichs
durchaus zuständig ist, wird die weitere Entwicklung des Lippeschen Erbfolgestreits
und dessen endgiltige Erledigung abhängen. Artikel 76 Absatz 1 der Reichsver¬
fassung bestimmt: „Streitigkeiten zwischen verschiednen Bundesstaaten, sofern die¬
selben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden
zu entscheiden sind, werden auf Anrufen des einen Teiles von dem Bundesrate
erledigt."


Gelo Auntzemüller
Ein neuer Messias.

Es wäre geradezu wunderbar und unverständlich,
wenn die refvrmjüdische Intelligenz nicht den gegenwärtigen Zustand der protestan¬
tischen Theologie in ihrem Sinne ausnutzte und mit ihrer talmudischen Gelehr¬
samkeit den Bibelkritikern und Dogmenhistorikern bei der Arbeit, die rein mensch¬
liche und natürliche Entstehung der Bibel und der Kirche nachzuweisen, behilflich
wäre. Jedermann weiß denn auch, wie nahe einander das Reformjudentum, der
kirchliche und der politische Liberalismus stehn. Indem aber das zuerst genannte
den Nassencharakter des Judentums vergessen machen und nur noch preußische
Staatsbürger oder Deutsche mosaischer Konfession kennen will, hat es die scharfe
Opposition solcher Juden, die sich ihrer Nationalität bewußt und darauf stolz sind,
hervorgerufen, und diese Opposition hat zusammen mit dem Bedürfnis der armen
Juden „Halbasiens," sich aus ihrem sozialen Elend und dem in Rußland und
Rumänien auf ihnen lastenden Drucke zu befreien, die zionistische Bewegung hervor¬
gerufen. Und diese hinwiederum hat in de Jorge eine Frucht gezeitigt, von der
man sagen darf: So etwas ist wirklich noch nicht dagewesen!

Moritz oder, wie er sich schreibt, Christoph Morris de Jorge ist 1864 in
Köln als Sprößling einer dort ansässigen vornehmen Judenfamilie geboren, hat
die juristische Doktorwürde erlangt und einige Schriften über Rechtsfragen ver¬
öffentlicht. Aber seine Fachwissenschaft vermochte ihn nicht zu fesseln. Bald machte
er durch andre Dinge die Welt von sich reden. Wenn ich die zerstreuten An¬
gaben im Anhange zu seinen bald zu erwähnenden Schriften richtig kombiniere,
hat er sich im Jahre 1888 taufen lassen und sich in beleidigenden Briefen von
seiner Familie losgesagt, die ihn für irrsinnig erklärte. Vier jüdische Ärzte setzten
seine Einsparung in die Schöneberger Irrenanstalt durch, aber es gelang ihm.
sich zu befreien, und als ein Redakteur, der seine Sache vertreten hatte, wegen
Beleidigung des Geheimrath und Kreisphysikus Bär angeklagt wurde, der die Ein-


Grenzboten III 1904 96
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[0733] Maßgebliches und Unmaßgebliches hängen, ob deren Stammmutter Modeste von Unruh wirklich dem Ebenbürtigkeits¬ erfordernis genügt, das der Dresdner Schiedsspruch selbst ausdrücklich für das achtzehnte und den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als Mindesterfordernis erkannt und festgesetzt hat. Es wird dann weiter die Thronfolgefähigkeit der zweiten erbherrlichen Linie des Gesamthauses Lippe, der gräflichen Linie Lippe- Weißenfeld, zu prüfen sein. Von den Ergebnissen dieser Prüfungen wird es dann abhängen, ob die Thronfolge auf die jüngste der drei erbherrlichen Linien des Gesamthauses Lippe, das fürstliche Haus Schaumburg-Lippe, übergeht oder nicht. Ob der Bundesrat selbst die Entscheidung treffen, oder ob er ein Gerichts¬ kollegium, eine juristische Fakultät, einen oder mehrere Sachverständige, einen ein¬ zelnen Bundesfürsten oder wen sonst mit der Fällung des Urteils betrauen will, darüber wird er sich wohl erst schlüssig machen, „wenn ein mit den Ansprüchen Schaumburg-Lippes unvereinbarer Fall der Thronfolge oder Regentschaft in Lippe vorliegt," d. h. wenn nach dem Ableben des Grafregenten Ernst dessen ältester Sohn auf Grund des Lippeschen Landtngsbeschlusses vom 16. März 1898 die Regentschaft oder die Thronfolge im Fürstentum Lippe übernehmen sollte. Zunächst wird dann der Bundesrat die Frage zu entscheiden haben, ob die fürstlich Lippesche Regierung berechtigt gewesen ist, die Thronfolge in Lippe mit den gesetzgebenden Faktoren des Fürstentums selbständig zu regeln. Von dieser Entscheidung, für die der Bundesrat laut Artikel 76 Absatz 1 der Verfassung des Deutschen Reichs durchaus zuständig ist, wird die weitere Entwicklung des Lippeschen Erbfolgestreits und dessen endgiltige Erledigung abhängen. Artikel 76 Absatz 1 der Reichsver¬ fassung bestimmt: „Streitigkeiten zwischen verschiednen Bundesstaaten, sofern die¬ selben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, werden auf Anrufen des einen Teiles von dem Bundesrate erledigt." Gelo Auntzemüller Ein neuer Messias. Es wäre geradezu wunderbar und unverständlich, wenn die refvrmjüdische Intelligenz nicht den gegenwärtigen Zustand der protestan¬ tischen Theologie in ihrem Sinne ausnutzte und mit ihrer talmudischen Gelehr¬ samkeit den Bibelkritikern und Dogmenhistorikern bei der Arbeit, die rein mensch¬ liche und natürliche Entstehung der Bibel und der Kirche nachzuweisen, behilflich wäre. Jedermann weiß denn auch, wie nahe einander das Reformjudentum, der kirchliche und der politische Liberalismus stehn. Indem aber das zuerst genannte den Nassencharakter des Judentums vergessen machen und nur noch preußische Staatsbürger oder Deutsche mosaischer Konfession kennen will, hat es die scharfe Opposition solcher Juden, die sich ihrer Nationalität bewußt und darauf stolz sind, hervorgerufen, und diese Opposition hat zusammen mit dem Bedürfnis der armen Juden „Halbasiens," sich aus ihrem sozialen Elend und dem in Rußland und Rumänien auf ihnen lastenden Drucke zu befreien, die zionistische Bewegung hervor¬ gerufen. Und diese hinwiederum hat in de Jorge eine Frucht gezeitigt, von der man sagen darf: So etwas ist wirklich noch nicht dagewesen! Moritz oder, wie er sich schreibt, Christoph Morris de Jorge ist 1864 in Köln als Sprößling einer dort ansässigen vornehmen Judenfamilie geboren, hat die juristische Doktorwürde erlangt und einige Schriften über Rechtsfragen ver¬ öffentlicht. Aber seine Fachwissenschaft vermochte ihn nicht zu fesseln. Bald machte er durch andre Dinge die Welt von sich reden. Wenn ich die zerstreuten An¬ gaben im Anhange zu seinen bald zu erwähnenden Schriften richtig kombiniere, hat er sich im Jahre 1888 taufen lassen und sich in beleidigenden Briefen von seiner Familie losgesagt, die ihn für irrsinnig erklärte. Vier jüdische Ärzte setzten seine Einsparung in die Schöneberger Irrenanstalt durch, aber es gelang ihm. sich zu befreien, und als ein Redakteur, der seine Sache vertreten hatte, wegen Beleidigung des Geheimrath und Kreisphysikus Bär angeklagt wurde, der die Ein- Grenzboten III 1904 96

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/733>, abgerufen am 27.04.2024.