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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sie mir nicht zutraue", daß ich das Regime Plehwe billige." Von der Opposition
unterscheidet sich der Konservative nur dadurch, daß er das Heil von einem guten
und starken Zaren erwartet, da das russische Volk für eine Verfassung nicht reif
sei^ Dem Charakter des gegenwärtigen Zaren lassen alle Gerechtigkeit widerfahren,
aber bei seiner Weichheit vermöge er noch weniger als seine von Charakter eben¬
falls untadligen Vorgänger die Mauer zu durchbrechen, mit der ihn die Beamten¬
schaft umgebe und vom Volle, von der Kenntnis der Wirklichkeit absperre. Die
Drohbriefe, ,die der Zar wie seine Vorgänger so oft in seinem Kabinett, in seinem
Schlafzimmer, unter dem Kopfkissen findet, würden von der Polizei hineinpraktiziert,
die den Herrscher in wahnsinniger Angst vor Attentaten und vor der Revolution
zu erhalten und ihn dadurch von Reformen zurückzuschrecken versuche. Eine Revo¬
lution sei nicht zu erwarten; die Intelligenz setze ihre Hoffnung auf die bevor¬
stehende Niederlage im Kriege. Nach einer solchen werde sich der Staatsbankrott
nicht länger verschleiern lassen, und werde der Zusammenbruch des herrschenden
"Systems" den Boden...für eine Neuordnung freimachen. Der Verfasser ist ein
geschickter Feuilletonist und erzählt, hübsch. Ehr Bankier, der die eben erwähnte
Erwartung nicht zu teilen scheint, versichert ihm, daß Rußland anch für die An¬
leihen,, zu denen, es der Krieg zwinge, Kredit finden werde, weil es der Börse die
höchsten Provisionen zahle, natürlich wie die Zinsen immer nur wieder von neuen
Anleihen. .Auf die Bemerkung,, das könne doch nicht ewig so fortgehn. erwidert
der Gelbanum: Ewig dauert nichts, aber uns träges noch. Als Ganz von der
unabhängigen Presse spricht, die doch den innern Wert oder Unwert der russischen
Anleihescheine aufdecken werde, schneidet der Bankier eine kuriose Grimasse und
sagt: "Das ist nicht nett von Ihnen. Ich rede mit Ihnen, wie wenn Sie vom
Fach wären, wie ein Augur zum andern. Und wenn wir auf Ihr Metier zu
spreche,? kommen, da heißen Sie ans einmal Mayer lind wissen von nischt? Sie
werden mir doch nicht von unabhängiger Presse reden wollen gegen den Druck der
Kants bina.no, der russischen und der deutschen Regierung?"

Das Schlußkapitel erzählt einen Besuch bei Tolstoi. Ganz begleitet die letzte
der im Hause verblichnen Töchter des Grafen, Sascha, anf einem ihrer Liebes¬
gänge in die Dorfhäuser. Er findet es mit Recht echt russisch, daß der Heilige
und. seine Familie gar nicht daran denken, ihre Schützlinge zur Reinlichkeit zu
erziehn; sie lassen den Muschik in seinem altehrwürdigen angestammten Schmutz.
In den Gesprächen, die der Besucher mit Tolstoi führte, wurden hauptsächlich
literarische Gegenstände behandelt. Tolstoi gab u. a. seiner Abneigung gegen
Shakespeare, Goethe und Nietzsche und seiner Verehrung für Schiller Ausdruck.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sie mir nicht zutraue», daß ich das Regime Plehwe billige." Von der Opposition
unterscheidet sich der Konservative nur dadurch, daß er das Heil von einem guten
und starken Zaren erwartet, da das russische Volk für eine Verfassung nicht reif
sei^ Dem Charakter des gegenwärtigen Zaren lassen alle Gerechtigkeit widerfahren,
aber bei seiner Weichheit vermöge er noch weniger als seine von Charakter eben¬
falls untadligen Vorgänger die Mauer zu durchbrechen, mit der ihn die Beamten¬
schaft umgebe und vom Volle, von der Kenntnis der Wirklichkeit absperre. Die
Drohbriefe, ,die der Zar wie seine Vorgänger so oft in seinem Kabinett, in seinem
Schlafzimmer, unter dem Kopfkissen findet, würden von der Polizei hineinpraktiziert,
die den Herrscher in wahnsinniger Angst vor Attentaten und vor der Revolution
zu erhalten und ihn dadurch von Reformen zurückzuschrecken versuche. Eine Revo¬
lution sei nicht zu erwarten; die Intelligenz setze ihre Hoffnung auf die bevor¬
stehende Niederlage im Kriege. Nach einer solchen werde sich der Staatsbankrott
nicht länger verschleiern lassen, und werde der Zusammenbruch des herrschenden
„Systems" den Boden...für eine Neuordnung freimachen. Der Verfasser ist ein
geschickter Feuilletonist und erzählt, hübsch. Ehr Bankier, der die eben erwähnte
Erwartung nicht zu teilen scheint, versichert ihm, daß Rußland anch für die An¬
leihen,, zu denen, es der Krieg zwinge, Kredit finden werde, weil es der Börse die
höchsten Provisionen zahle, natürlich wie die Zinsen immer nur wieder von neuen
Anleihen. .Auf die Bemerkung,, das könne doch nicht ewig so fortgehn. erwidert
der Gelbanum: Ewig dauert nichts, aber uns träges noch. Als Ganz von der
unabhängigen Presse spricht, die doch den innern Wert oder Unwert der russischen
Anleihescheine aufdecken werde, schneidet der Bankier eine kuriose Grimasse und
sagt: „Das ist nicht nett von Ihnen. Ich rede mit Ihnen, wie wenn Sie vom
Fach wären, wie ein Augur zum andern. Und wenn wir auf Ihr Metier zu
spreche,? kommen, da heißen Sie ans einmal Mayer lind wissen von nischt? Sie
werden mir doch nicht von unabhängiger Presse reden wollen gegen den Druck der
Kants bina.no, der russischen und der deutschen Regierung?"

Das Schlußkapitel erzählt einen Besuch bei Tolstoi. Ganz begleitet die letzte
der im Hause verblichnen Töchter des Grafen, Sascha, anf einem ihrer Liebes¬
gänge in die Dorfhäuser. Er findet es mit Recht echt russisch, daß der Heilige
und. seine Familie gar nicht daran denken, ihre Schützlinge zur Reinlichkeit zu
erziehn; sie lassen den Muschik in seinem altehrwürdigen angestammten Schmutz.
In den Gesprächen, die der Besucher mit Tolstoi führte, wurden hauptsächlich
literarische Gegenstände behandelt. Tolstoi gab u. a. seiner Abneigung gegen
Shakespeare, Goethe und Nietzsche und seiner Verehrung für Schiller Ausdruck.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig


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[0302] Maßgebliches und Unmaßgebliches Sie mir nicht zutraue», daß ich das Regime Plehwe billige." Von der Opposition unterscheidet sich der Konservative nur dadurch, daß er das Heil von einem guten und starken Zaren erwartet, da das russische Volk für eine Verfassung nicht reif sei^ Dem Charakter des gegenwärtigen Zaren lassen alle Gerechtigkeit widerfahren, aber bei seiner Weichheit vermöge er noch weniger als seine von Charakter eben¬ falls untadligen Vorgänger die Mauer zu durchbrechen, mit der ihn die Beamten¬ schaft umgebe und vom Volle, von der Kenntnis der Wirklichkeit absperre. Die Drohbriefe, ,die der Zar wie seine Vorgänger so oft in seinem Kabinett, in seinem Schlafzimmer, unter dem Kopfkissen findet, würden von der Polizei hineinpraktiziert, die den Herrscher in wahnsinniger Angst vor Attentaten und vor der Revolution zu erhalten und ihn dadurch von Reformen zurückzuschrecken versuche. Eine Revo¬ lution sei nicht zu erwarten; die Intelligenz setze ihre Hoffnung auf die bevor¬ stehende Niederlage im Kriege. Nach einer solchen werde sich der Staatsbankrott nicht länger verschleiern lassen, und werde der Zusammenbruch des herrschenden „Systems" den Boden...für eine Neuordnung freimachen. Der Verfasser ist ein geschickter Feuilletonist und erzählt, hübsch. Ehr Bankier, der die eben erwähnte Erwartung nicht zu teilen scheint, versichert ihm, daß Rußland anch für die An¬ leihen,, zu denen, es der Krieg zwinge, Kredit finden werde, weil es der Börse die höchsten Provisionen zahle, natürlich wie die Zinsen immer nur wieder von neuen Anleihen. .Auf die Bemerkung,, das könne doch nicht ewig so fortgehn. erwidert der Gelbanum: Ewig dauert nichts, aber uns träges noch. Als Ganz von der unabhängigen Presse spricht, die doch den innern Wert oder Unwert der russischen Anleihescheine aufdecken werde, schneidet der Bankier eine kuriose Grimasse und sagt: „Das ist nicht nett von Ihnen. Ich rede mit Ihnen, wie wenn Sie vom Fach wären, wie ein Augur zum andern. Und wenn wir auf Ihr Metier zu spreche,? kommen, da heißen Sie ans einmal Mayer lind wissen von nischt? Sie werden mir doch nicht von unabhängiger Presse reden wollen gegen den Druck der Kants bina.no, der russischen und der deutschen Regierung?" Das Schlußkapitel erzählt einen Besuch bei Tolstoi. Ganz begleitet die letzte der im Hause verblichnen Töchter des Grafen, Sascha, anf einem ihrer Liebes¬ gänge in die Dorfhäuser. Er findet es mit Recht echt russisch, daß der Heilige und. seine Familie gar nicht daran denken, ihre Schützlinge zur Reinlichkeit zu erziehn; sie lassen den Muschik in seinem altehrwürdigen angestammten Schmutz. In den Gesprächen, die der Besucher mit Tolstoi führte, wurden hauptsächlich literarische Gegenstände behandelt. Tolstoi gab u. a. seiner Abneigung gegen Shakespeare, Goethe und Nietzsche und seiner Verehrung für Schiller Ausdruck. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/302>, abgerufen am 03.05.2024.