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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Albert Schäffles Denkwürdigkeiten

us einem Tübinger Stiftler kann nach einem alten Worte alles
werden. Wirklich wird von den wunderbarsten Lebensläufen be¬
richtet, die dort in dem alten Augustinerbau, der Pflanzstätte
der evangelischen Geistlichkeit Württembergs, ihren Ausgang ge¬
nommen haben. Ist einer dieser Zöglinge während der großen
Revolution zum französischen Minister des Auswärtigen und später zur Pairs-
würde in dem fremden Lande gelangt, so ist es kaum wunderbarer, daß einen
andern das Schicksal auf einen Ministersessel im österreichischen Kaiserstaat er¬
hoben hat. Freilich hat Albert Schaffte,*) der Sohn eines württembergischen
Lehrers, nur sehr kurze Zeit im Tübinger Stift zugebracht, und sein Beruf
zum Geistlichen war so fragwürdig, daß er auch dann schwerlich dieser Be¬
stimmung treu geblieben wäre, wenn ihn nicht, wie so manchen andern Jüng¬
ling, der Sturm des Jahres 1848 aus einer geregelten Bahn geworfen hätte.
Er gehörte nicht eben zu den Schwärmern, die sich von den radikalen Phrasen
betören ließen. Aber er hatte doch auf der Nentlinger Volksversammlung mit
auf die Reichsverfnssung geschworen und hielt es gewissenshalber für Pflicht,
dem Ruf der sogenannten Neichsregentschnft zu folgen, als diese im Juni 1849
zur Unterstützung der badischen Revolution aufforderte. Da sich diese Bewegung,
wie ihre Anführer versicherten, das Ziel gesetzt hatte, das von der National¬
versammlung hinterlassene Werk zur Durchführung zu bringen, so konnten
auch nüchterne und höchst friedfertige Naturen leicht in die Täuschung hinein¬
gesteigert werden, daß es eine patriotische Pflicht sei, in diesem Kampfe nicht
zurückzubleiben; für Schäffle aber bedeutete der Schritt zugleich die Befreiung
von dem Druck, den er als Stiftler, einer unerwünschten Bestimmung ent¬
gegensteuernd, empfunden hatte. Er wagte ihn aufs ungewisse hin und war
entschlossen, alle Folgen zu tragen.

Die Erfahrungen im Freischarenzug waren freilich beschämend. Die große
Masse des Freiheitsheeres war "unsagbar gemeines Gesindel," und die einzige
Frucht, die Schäffle von dieser kurzen, für die Tübinger Freischar unblutigen



Ans meinem Leben. Von Albert Schäffle. Mit sechs Bildnissen und einer Briefbei-
lnge. Zwei Bände. Berlin, E. Hofmnnn ^ Komp., 1905.
Grenzboten IV 1904 7^>


Albert Schäffles Denkwürdigkeiten

us einem Tübinger Stiftler kann nach einem alten Worte alles
werden. Wirklich wird von den wunderbarsten Lebensläufen be¬
richtet, die dort in dem alten Augustinerbau, der Pflanzstätte
der evangelischen Geistlichkeit Württembergs, ihren Ausgang ge¬
nommen haben. Ist einer dieser Zöglinge während der großen
Revolution zum französischen Minister des Auswärtigen und später zur Pairs-
würde in dem fremden Lande gelangt, so ist es kaum wunderbarer, daß einen
andern das Schicksal auf einen Ministersessel im österreichischen Kaiserstaat er¬
hoben hat. Freilich hat Albert Schaffte,*) der Sohn eines württembergischen
Lehrers, nur sehr kurze Zeit im Tübinger Stift zugebracht, und sein Beruf
zum Geistlichen war so fragwürdig, daß er auch dann schwerlich dieser Be¬
stimmung treu geblieben wäre, wenn ihn nicht, wie so manchen andern Jüng¬
ling, der Sturm des Jahres 1848 aus einer geregelten Bahn geworfen hätte.
Er gehörte nicht eben zu den Schwärmern, die sich von den radikalen Phrasen
betören ließen. Aber er hatte doch auf der Nentlinger Volksversammlung mit
auf die Reichsverfnssung geschworen und hielt es gewissenshalber für Pflicht,
dem Ruf der sogenannten Neichsregentschnft zu folgen, als diese im Juni 1849
zur Unterstützung der badischen Revolution aufforderte. Da sich diese Bewegung,
wie ihre Anführer versicherten, das Ziel gesetzt hatte, das von der National¬
versammlung hinterlassene Werk zur Durchführung zu bringen, so konnten
auch nüchterne und höchst friedfertige Naturen leicht in die Täuschung hinein¬
gesteigert werden, daß es eine patriotische Pflicht sei, in diesem Kampfe nicht
zurückzubleiben; für Schäffle aber bedeutete der Schritt zugleich die Befreiung
von dem Druck, den er als Stiftler, einer unerwünschten Bestimmung ent¬
gegensteuernd, empfunden hatte. Er wagte ihn aufs ungewisse hin und war
entschlossen, alle Folgen zu tragen.

Die Erfahrungen im Freischarenzug waren freilich beschämend. Die große
Masse des Freiheitsheeres war „unsagbar gemeines Gesindel," und die einzige
Frucht, die Schäffle von dieser kurzen, für die Tübinger Freischar unblutigen



Ans meinem Leben. Von Albert Schäffle. Mit sechs Bildnissen und einer Briefbei-
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[0539] [Abbildung] Albert Schäffles Denkwürdigkeiten us einem Tübinger Stiftler kann nach einem alten Worte alles werden. Wirklich wird von den wunderbarsten Lebensläufen be¬ richtet, die dort in dem alten Augustinerbau, der Pflanzstätte der evangelischen Geistlichkeit Württembergs, ihren Ausgang ge¬ nommen haben. Ist einer dieser Zöglinge während der großen Revolution zum französischen Minister des Auswärtigen und später zur Pairs- würde in dem fremden Lande gelangt, so ist es kaum wunderbarer, daß einen andern das Schicksal auf einen Ministersessel im österreichischen Kaiserstaat er¬ hoben hat. Freilich hat Albert Schaffte,*) der Sohn eines württembergischen Lehrers, nur sehr kurze Zeit im Tübinger Stift zugebracht, und sein Beruf zum Geistlichen war so fragwürdig, daß er auch dann schwerlich dieser Be¬ stimmung treu geblieben wäre, wenn ihn nicht, wie so manchen andern Jüng¬ ling, der Sturm des Jahres 1848 aus einer geregelten Bahn geworfen hätte. Er gehörte nicht eben zu den Schwärmern, die sich von den radikalen Phrasen betören ließen. Aber er hatte doch auf der Nentlinger Volksversammlung mit auf die Reichsverfnssung geschworen und hielt es gewissenshalber für Pflicht, dem Ruf der sogenannten Neichsregentschnft zu folgen, als diese im Juni 1849 zur Unterstützung der badischen Revolution aufforderte. Da sich diese Bewegung, wie ihre Anführer versicherten, das Ziel gesetzt hatte, das von der National¬ versammlung hinterlassene Werk zur Durchführung zu bringen, so konnten auch nüchterne und höchst friedfertige Naturen leicht in die Täuschung hinein¬ gesteigert werden, daß es eine patriotische Pflicht sei, in diesem Kampfe nicht zurückzubleiben; für Schäffle aber bedeutete der Schritt zugleich die Befreiung von dem Druck, den er als Stiftler, einer unerwünschten Bestimmung ent¬ gegensteuernd, empfunden hatte. Er wagte ihn aufs ungewisse hin und war entschlossen, alle Folgen zu tragen. Die Erfahrungen im Freischarenzug waren freilich beschämend. Die große Masse des Freiheitsheeres war „unsagbar gemeines Gesindel," und die einzige Frucht, die Schäffle von dieser kurzen, für die Tübinger Freischar unblutigen Ans meinem Leben. Von Albert Schäffle. Mit sechs Bildnissen und einer Briefbei- lnge. Zwei Bände. Berlin, E. Hofmnnn ^ Komp., 1905. Grenzboten IV 1904 7^>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/539>, abgerufen am 03.05.2024.