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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Werke über die Sprache

Stämmen verdient, so werden diese Vorzüge doch noch weit in den Schatten
gestellt dnrch die Errungenschaften, denen er sich auf dem Gebiete des Er¬
werbslebens und insonderheit auf dem Gebiete der Industrie und des Handels
rühmen darf




Zwei Werke über die Sprache
(Fortsetzung)

es wende mich nun zu Wunde und versuche, von dem grund¬
legenden ersten Teile seines Werkes einen Begriff zu geben; aus
dem im engern Sinne sprachwissenschaftlichen, dem zweiten Teile
des Mauthnerschen Werkes*) mag einiges eingefügt werden, was
geeignet erscheint, ihn andeutungsweise zu charakterisieren. Wundes
Werk soll, wie die Leser ans dem Titel erfahren haben, so umfangreich es ist,
doch nur der eine von den drei Teilen eines noch weit größern Werkes sein,
das er Völkerpsychologie nennt. Diese Wissenschaft haben Lazarus und Stein¬
thal mit ihrer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft begründet,
aber nicht ganz in Wundes Sinne bearbeitet. Sie sind von Herbart aus¬
gegangen. Zwar haben sie dessen Ansichten vielfach berichtigt, aber doch im
wesentlichen seine Psychologie beibehalten. Diese ist Jndividualpsychologie, und
die Völkerpsychologie war anfangs nur eine Anwendung der bei Erforschung
der Individualseele vermeintlich gefundnen Gesetze auf das Geistesleben der
Völker. Nach Wundt soll die neue Wissenschaft etwas andres sei"! nicht Nach¬
weisung der Analogien zwischen dem Gemeinschaftsleben und den Vorgängen in
der Einzelseele; auch nicht Charakteristik der verschiednen Völker; sie soll das
Seelenleben beschreiben, soweit es aus der Gemeinschaft der Menschen hervor¬
geht, soll nur solche psychische Vorgänge behandeln, die der allgemeinen Ent¬
wicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger
Erzeugnisse zugrunde liegen. Während demnach Literatur, Kunst und Wissen¬
schaft auszuschließen sind, weil deren Erzeugnisse das Werk einzelner Personen
sind, bleiben als Gegenstände der Völkerpsychologie im Sinne Wundes nur
Sprache, Mythus und Sitte als Erzeugnisse nicht einzelner Individuen, sondern
der Gesamtheit. Erst von der Völkerpsychologie aus kann das Seelenleben des
Einzelnen, das sich ja nur in der Gemeinschaft entwickelt, ganz verstanden werden.
(Schon beim ersten Laut, schreibt Mauthner, ist die Sprache nicht etwas rein
Individuelles, sondern etwas zwischen einem sprechenden und einem hörenden
Menschen.) Die Völkerpsychologie ist also eine Hilfswissenschaft der Psychologie



°") Die Überschriften der vierzehn sehr langen Kapitel dieses Bandes lauten: 1. Was ist
Sprachwissenschaft? 2. Aus der Geschichte der Sprachwissenschaft. 3. Sprachrichtigkeit. 4. Zu¬
fall in der Sprache. S. Etymologie. 6. Wurzeln. 7. Bedeutungswandel. 8. Klassifikation
der Sprachen. 9. Tier- und Menschensvrache. 10. Entstehung der Sprache. 11. Die Me¬
tapher. 12. Schrift und Schriftsprache. 13. Sprachwissenschaft und Ethnologie. 14. Ursprung
und Geschichte von ^ Vernunft.
Grenzboten IV 1904 75
Zwei Werke über die Sprache

Stämmen verdient, so werden diese Vorzüge doch noch weit in den Schatten
gestellt dnrch die Errungenschaften, denen er sich auf dem Gebiete des Er¬
werbslebens und insonderheit auf dem Gebiete der Industrie und des Handels
rühmen darf




Zwei Werke über die Sprache
(Fortsetzung)

es wende mich nun zu Wunde und versuche, von dem grund¬
legenden ersten Teile seines Werkes einen Begriff zu geben; aus
dem im engern Sinne sprachwissenschaftlichen, dem zweiten Teile
des Mauthnerschen Werkes*) mag einiges eingefügt werden, was
geeignet erscheint, ihn andeutungsweise zu charakterisieren. Wundes
Werk soll, wie die Leser ans dem Titel erfahren haben, so umfangreich es ist,
doch nur der eine von den drei Teilen eines noch weit größern Werkes sein,
das er Völkerpsychologie nennt. Diese Wissenschaft haben Lazarus und Stein¬
thal mit ihrer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft begründet,
aber nicht ganz in Wundes Sinne bearbeitet. Sie sind von Herbart aus¬
gegangen. Zwar haben sie dessen Ansichten vielfach berichtigt, aber doch im
wesentlichen seine Psychologie beibehalten. Diese ist Jndividualpsychologie, und
die Völkerpsychologie war anfangs nur eine Anwendung der bei Erforschung
der Individualseele vermeintlich gefundnen Gesetze auf das Geistesleben der
Völker. Nach Wundt soll die neue Wissenschaft etwas andres sei»! nicht Nach¬
weisung der Analogien zwischen dem Gemeinschaftsleben und den Vorgängen in
der Einzelseele; auch nicht Charakteristik der verschiednen Völker; sie soll das
Seelenleben beschreiben, soweit es aus der Gemeinschaft der Menschen hervor¬
geht, soll nur solche psychische Vorgänge behandeln, die der allgemeinen Ent¬
wicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger
Erzeugnisse zugrunde liegen. Während demnach Literatur, Kunst und Wissen¬
schaft auszuschließen sind, weil deren Erzeugnisse das Werk einzelner Personen
sind, bleiben als Gegenstände der Völkerpsychologie im Sinne Wundes nur
Sprache, Mythus und Sitte als Erzeugnisse nicht einzelner Individuen, sondern
der Gesamtheit. Erst von der Völkerpsychologie aus kann das Seelenleben des
Einzelnen, das sich ja nur in der Gemeinschaft entwickelt, ganz verstanden werden.
(Schon beim ersten Laut, schreibt Mauthner, ist die Sprache nicht etwas rein
Individuelles, sondern etwas zwischen einem sprechenden und einem hörenden
Menschen.) Die Völkerpsychologie ist also eine Hilfswissenschaft der Psychologie



°") Die Überschriften der vierzehn sehr langen Kapitel dieses Bandes lauten: 1. Was ist
Sprachwissenschaft? 2. Aus der Geschichte der Sprachwissenschaft. 3. Sprachrichtigkeit. 4. Zu¬
fall in der Sprache. S. Etymologie. 6. Wurzeln. 7. Bedeutungswandel. 8. Klassifikation
der Sprachen. 9. Tier- und Menschensvrache. 10. Entstehung der Sprache. 11. Die Me¬
tapher. 12. Schrift und Schriftsprache. 13. Sprachwissenschaft und Ethnologie. 14. Ursprung
und Geschichte von ^ Vernunft.
Grenzboten IV 1904 75
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[0555] Zwei Werke über die Sprache Stämmen verdient, so werden diese Vorzüge doch noch weit in den Schatten gestellt dnrch die Errungenschaften, denen er sich auf dem Gebiete des Er¬ werbslebens und insonderheit auf dem Gebiete der Industrie und des Handels rühmen darf Zwei Werke über die Sprache (Fortsetzung) es wende mich nun zu Wunde und versuche, von dem grund¬ legenden ersten Teile seines Werkes einen Begriff zu geben; aus dem im engern Sinne sprachwissenschaftlichen, dem zweiten Teile des Mauthnerschen Werkes*) mag einiges eingefügt werden, was geeignet erscheint, ihn andeutungsweise zu charakterisieren. Wundes Werk soll, wie die Leser ans dem Titel erfahren haben, so umfangreich es ist, doch nur der eine von den drei Teilen eines noch weit größern Werkes sein, das er Völkerpsychologie nennt. Diese Wissenschaft haben Lazarus und Stein¬ thal mit ihrer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft begründet, aber nicht ganz in Wundes Sinne bearbeitet. Sie sind von Herbart aus¬ gegangen. Zwar haben sie dessen Ansichten vielfach berichtigt, aber doch im wesentlichen seine Psychologie beibehalten. Diese ist Jndividualpsychologie, und die Völkerpsychologie war anfangs nur eine Anwendung der bei Erforschung der Individualseele vermeintlich gefundnen Gesetze auf das Geistesleben der Völker. Nach Wundt soll die neue Wissenschaft etwas andres sei»! nicht Nach¬ weisung der Analogien zwischen dem Gemeinschaftsleben und den Vorgängen in der Einzelseele; auch nicht Charakteristik der verschiednen Völker; sie soll das Seelenleben beschreiben, soweit es aus der Gemeinschaft der Menschen hervor¬ geht, soll nur solche psychische Vorgänge behandeln, die der allgemeinen Ent¬ wicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger Erzeugnisse zugrunde liegen. Während demnach Literatur, Kunst und Wissen¬ schaft auszuschließen sind, weil deren Erzeugnisse das Werk einzelner Personen sind, bleiben als Gegenstände der Völkerpsychologie im Sinne Wundes nur Sprache, Mythus und Sitte als Erzeugnisse nicht einzelner Individuen, sondern der Gesamtheit. Erst von der Völkerpsychologie aus kann das Seelenleben des Einzelnen, das sich ja nur in der Gemeinschaft entwickelt, ganz verstanden werden. (Schon beim ersten Laut, schreibt Mauthner, ist die Sprache nicht etwas rein Individuelles, sondern etwas zwischen einem sprechenden und einem hörenden Menschen.) Die Völkerpsychologie ist also eine Hilfswissenschaft der Psychologie °") Die Überschriften der vierzehn sehr langen Kapitel dieses Bandes lauten: 1. Was ist Sprachwissenschaft? 2. Aus der Geschichte der Sprachwissenschaft. 3. Sprachrichtigkeit. 4. Zu¬ fall in der Sprache. S. Etymologie. 6. Wurzeln. 7. Bedeutungswandel. 8. Klassifikation der Sprachen. 9. Tier- und Menschensvrache. 10. Entstehung der Sprache. 11. Die Me¬ tapher. 12. Schrift und Schriftsprache. 13. Sprachwissenschaft und Ethnologie. 14. Ursprung und Geschichte von ^ Vernunft. Grenzboten IV 1904 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/555>, abgerufen am 03.05.2024.