Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Ungarn
Albin Geyer von

^ /
Kngarn hat vor wenig Jahren das Fest seines tausendjährigen
Bestehens gefeiert, denn so lange sind die Magyaren in Europa,
aber noch heutzutage sind seine eigentlichen innern Zustände den
europäischen Völkern vielfach eine terrsi inovAriiw. Soviel auch
seit Jahrzehnten in öffentlichen Blättern darüber geschrieben
worden ist, trügt doch das meiste eine einseitige, weil politisch oder national
Parteiische Färbung, die nur der Tagesstimmung entspricht und nur für den
Tag berechnet ist. In den letzten fünfzig Jahren, seit denen überhaupt eine
öffentliche Erörterung solcher Angelegenheiten Raum gewonnen hat, haben die
Meinungen über die Magyaren vielfach geschwankt. Anfangs, in der soge¬
nannten "Reaktionszeit," wurde in der landläufigen Presse der Ungar, dem
es beinahe gelungen war, seine Revolution durchzusetzen, vielfach gefeiert, und
der reich verschnürte Attila war ein bewundertes Kleidungsstück; in der Gegen¬
wart wird der Magyare in der Regel einfach als deutschfeindlich hingestellt,
und es wird gar nicht danach gefragt, ob er es nicht früher, als man ihn
lobte, in demselben Umfange war wie heutzutage. Zeitungsmitteilungen
über Ungarn, die von Tagesmeinungen unabhängig sind, gibt es heutzutage
Wohl kaum; was in Deutschland darüber geschrieben wird, trägt durchweg
deutschösterreichische Färbung, und diese ist entweder deutschliberal und kokettiert
im stillen mit den Magyaren, oder sie ist altdeutsch und antisemitisch und
Poltert einfach gegen die "Judüo-Magyaren." Über die eigentliche Lage des
Landes, seine innern Zustände und die Grundlagen seines wirtschaftlichen Lebens
erfährt man dabei wenig.

Lxtra LrmZariam non est vitA -- sagte man lateinisch in Ungarn, als
man noch nicht entdeckt hatte, daß die magyarische Sprache die schönste der
Welt sei, und danach haben sich im Allslande meist sehr günstige Anschauungen
über das Land gebildet, die aber bei näherer Kenntnis der Wirklichkeit voll-
stündig über den Haufen geworfen werden. Daß Ungarn keineswegs ein uner¬
meßlich reiches Land ist, wo eitel Milch und Honig fließt, ist in der neusten
Zeit allerdings schon ziemlich bekannt geworden. Die Auswanderungen der


Grenzboten IV 1904 31


Ungarn
Albin Geyer von

^ /
Kngarn hat vor wenig Jahren das Fest seines tausendjährigen
Bestehens gefeiert, denn so lange sind die Magyaren in Europa,
aber noch heutzutage sind seine eigentlichen innern Zustände den
europäischen Völkern vielfach eine terrsi inovAriiw. Soviel auch
seit Jahrzehnten in öffentlichen Blättern darüber geschrieben
worden ist, trügt doch das meiste eine einseitige, weil politisch oder national
Parteiische Färbung, die nur der Tagesstimmung entspricht und nur für den
Tag berechnet ist. In den letzten fünfzig Jahren, seit denen überhaupt eine
öffentliche Erörterung solcher Angelegenheiten Raum gewonnen hat, haben die
Meinungen über die Magyaren vielfach geschwankt. Anfangs, in der soge¬
nannten „Reaktionszeit," wurde in der landläufigen Presse der Ungar, dem
es beinahe gelungen war, seine Revolution durchzusetzen, vielfach gefeiert, und
der reich verschnürte Attila war ein bewundertes Kleidungsstück; in der Gegen¬
wart wird der Magyare in der Regel einfach als deutschfeindlich hingestellt,
und es wird gar nicht danach gefragt, ob er es nicht früher, als man ihn
lobte, in demselben Umfange war wie heutzutage. Zeitungsmitteilungen
über Ungarn, die von Tagesmeinungen unabhängig sind, gibt es heutzutage
Wohl kaum; was in Deutschland darüber geschrieben wird, trägt durchweg
deutschösterreichische Färbung, und diese ist entweder deutschliberal und kokettiert
im stillen mit den Magyaren, oder sie ist altdeutsch und antisemitisch und
Poltert einfach gegen die „Judüo-Magyaren." Über die eigentliche Lage des
Landes, seine innern Zustände und die Grundlagen seines wirtschaftlichen Lebens
erfährt man dabei wenig.

Lxtra LrmZariam non est vitA — sagte man lateinisch in Ungarn, als
man noch nicht entdeckt hatte, daß die magyarische Sprache die schönste der
Welt sei, und danach haben sich im Allslande meist sehr günstige Anschauungen
über das Land gebildet, die aber bei näherer Kenntnis der Wirklichkeit voll-
stündig über den Haufen geworfen werden. Daß Ungarn keineswegs ein uner¬
meßlich reiches Land ist, wo eitel Milch und Honig fließt, ist in der neusten
Zeit allerdings schon ziemlich bekannt geworden. Die Auswanderungen der


Grenzboten IV 1904 31
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0601" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295820"/>
        <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341879_295218/figures/grenzboten_341879_295218_295820_000.jpg"/><lb/>
        <div n="1">
          <head> Ungarn<lb/><note type="byline"> Albin Geyer</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_3085"> ^ /<lb/>
Kngarn hat vor wenig Jahren das Fest seines tausendjährigen<lb/>
Bestehens gefeiert, denn so lange sind die Magyaren in Europa,<lb/>
aber noch heutzutage sind seine eigentlichen innern Zustände den<lb/>
europäischen Völkern vielfach eine terrsi inovAriiw. Soviel auch<lb/>
seit Jahrzehnten in öffentlichen Blättern darüber geschrieben<lb/>
worden ist, trügt doch das meiste eine einseitige, weil politisch oder national<lb/>
Parteiische Färbung, die nur der Tagesstimmung entspricht und nur für den<lb/>
Tag berechnet ist. In den letzten fünfzig Jahren, seit denen überhaupt eine<lb/>
öffentliche Erörterung solcher Angelegenheiten Raum gewonnen hat, haben die<lb/>
Meinungen über die Magyaren vielfach geschwankt. Anfangs, in der soge¬<lb/>
nannten &#x201E;Reaktionszeit," wurde in der landläufigen Presse der Ungar, dem<lb/>
es beinahe gelungen war, seine Revolution durchzusetzen, vielfach gefeiert, und<lb/>
der reich verschnürte Attila war ein bewundertes Kleidungsstück; in der Gegen¬<lb/>
wart wird der Magyare in der Regel einfach als deutschfeindlich hingestellt,<lb/>
und es wird gar nicht danach gefragt, ob er es nicht früher, als man ihn<lb/>
lobte, in demselben Umfange war wie heutzutage. Zeitungsmitteilungen<lb/>
über Ungarn, die von Tagesmeinungen unabhängig sind, gibt es heutzutage<lb/>
Wohl kaum; was in Deutschland darüber geschrieben wird, trägt durchweg<lb/>
deutschösterreichische Färbung, und diese ist entweder deutschliberal und kokettiert<lb/>
im stillen mit den Magyaren, oder sie ist altdeutsch und antisemitisch und<lb/>
Poltert einfach gegen die &#x201E;Judüo-Magyaren." Über die eigentliche Lage des<lb/>
Landes, seine innern Zustände und die Grundlagen seines wirtschaftlichen Lebens<lb/>
erfährt man dabei wenig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3086" next="#ID_3087"> Lxtra LrmZariam non est vitA &#x2014; sagte man lateinisch in Ungarn, als<lb/>
man noch nicht entdeckt hatte, daß die magyarische Sprache die schönste der<lb/>
Welt sei, und danach haben sich im Allslande meist sehr günstige Anschauungen<lb/>
über das Land gebildet, die aber bei näherer Kenntnis der Wirklichkeit voll-<lb/>
stündig über den Haufen geworfen werden. Daß Ungarn keineswegs ein uner¬<lb/>
meßlich reiches Land ist, wo eitel Milch und Honig fließt, ist in der neusten<lb/>
Zeit allerdings schon ziemlich bekannt geworden. Die Auswanderungen der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1904 31</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0601] [Abbildung] Ungarn Albin Geyer von ^ / Kngarn hat vor wenig Jahren das Fest seines tausendjährigen Bestehens gefeiert, denn so lange sind die Magyaren in Europa, aber noch heutzutage sind seine eigentlichen innern Zustände den europäischen Völkern vielfach eine terrsi inovAriiw. Soviel auch seit Jahrzehnten in öffentlichen Blättern darüber geschrieben worden ist, trügt doch das meiste eine einseitige, weil politisch oder national Parteiische Färbung, die nur der Tagesstimmung entspricht und nur für den Tag berechnet ist. In den letzten fünfzig Jahren, seit denen überhaupt eine öffentliche Erörterung solcher Angelegenheiten Raum gewonnen hat, haben die Meinungen über die Magyaren vielfach geschwankt. Anfangs, in der soge¬ nannten „Reaktionszeit," wurde in der landläufigen Presse der Ungar, dem es beinahe gelungen war, seine Revolution durchzusetzen, vielfach gefeiert, und der reich verschnürte Attila war ein bewundertes Kleidungsstück; in der Gegen¬ wart wird der Magyare in der Regel einfach als deutschfeindlich hingestellt, und es wird gar nicht danach gefragt, ob er es nicht früher, als man ihn lobte, in demselben Umfange war wie heutzutage. Zeitungsmitteilungen über Ungarn, die von Tagesmeinungen unabhängig sind, gibt es heutzutage Wohl kaum; was in Deutschland darüber geschrieben wird, trägt durchweg deutschösterreichische Färbung, und diese ist entweder deutschliberal und kokettiert im stillen mit den Magyaren, oder sie ist altdeutsch und antisemitisch und Poltert einfach gegen die „Judüo-Magyaren." Über die eigentliche Lage des Landes, seine innern Zustände und die Grundlagen seines wirtschaftlichen Lebens erfährt man dabei wenig. Lxtra LrmZariam non est vitA — sagte man lateinisch in Ungarn, als man noch nicht entdeckt hatte, daß die magyarische Sprache die schönste der Welt sei, und danach haben sich im Allslande meist sehr günstige Anschauungen über das Land gebildet, die aber bei näherer Kenntnis der Wirklichkeit voll- stündig über den Haufen geworfen werden. Daß Ungarn keineswegs ein uner¬ meßlich reiches Land ist, wo eitel Milch und Honig fließt, ist in der neusten Zeit allerdings schon ziemlich bekannt geworden. Die Auswanderungen der Grenzboten IV 1904 31

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/601
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/601>, abgerufen am 03.05.2024.