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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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hat auch Voßler nicht genügend betont -- das späte Erwachen des volkstüm¬
lichen Geistes in Italien auf sozialen Ursachen: die Organisierung der alten
italienischen Gesellschaft war durchaus aristokratisch, das Volk wurde nieder¬
gehalten und wagte nicht, den Mund aufzutun. Ebenso lag bis tief in das
neunzehnte Jahrhundert hinein in Griechenland die Bildung in den Händen der
Adelsklasse, der Phanarioten, und diese sahen darin mehr eine heitere Zer¬
streuung als ein Erziehungsmittel des Volkes. Es ist darum gewiß kein Zufall,
daß in einer fremden Reisegesellschaft in Athen, deren Teilnehmer sich in der
beliebten suffisanten Weise über die heutigen Griechen lustig machten, es gerade
ein Italiener war, der sich ihrer annahm, indem er bemerkte: "Meine Herren,
Sie können nicht verstehn, wie den Griechen zumute ist. Wir aber versteh" es,
denn wir waren einmal gerade so elend wie sie!"




(Line Kulturgeschichte des Römerreichs

oktor Georg Grupp, fürstlich Ottingen-Wallersteinscher Biblio¬
thekar in Maihingen, hat vor zehn Jahren eine gute Kultur¬
geschichte des Mittelalters herausgegeben, die namentlich schätzens¬
werte Beiträge zur deutschen Wirtschaftsgeschichte enthält. Die
Vorarbeiten für eine Neuausgabe machten ihn auf viele Lücken
aufmerksam, die besonders eine Ergänzung nach rückwärts rätlich machten. So
geriet er immer tiefer in die römische Kaiserzeit und in die germanische Urzeit
hinein, "und der Stoff häufte sich so an, daß er sich nicht mehr in eine Ein¬
leitung zur Kulturgeschichte des Mittelalters einpressen ließ." Auf diese Weise
ist die (bei der Allgemeinen Verlagsgesellschaft in München erschienene) Kultur¬
geschichte der römischen Kaiserzeit entstanden. In vielen Rezensionen
des ersten, den Untergang der heidnischen Kultur behandelnden Teils ist der
hohe Wert des Werkes anerkannt worden, und dem vor einem Jahre heraus-
gegebnen zweiten Bande, dessen Untertitel "Anfänge der christlichen Kultur"
lautet, muß ein noch höherer Wert zugeschrieben werden, weil es ein zweites,
diese Anfänge im Zusammenhang und so vollständig darstellendes Werk unsers
Wissens nicht gibt, während der erste Band als Kompendium des von Fried¬
länder verarbeiteten Stoffs bezeichnet werden könnte.

Allerdings würde diese Bezeichnung nicht ganz zutreffen. Weniger umfang¬
reich ist freilich Grupps Werk. Seine beiden Bände sind 1205 Seiten Gro߬
oktav stark, die drei Bände Friedlünders in der sechsten Auflage 2036.
(Das etwas kleinere Format Friedländers wird durch den kleinern Druck auf¬
gewogen.) Aber die in beiden Werken behandelten Stoffe sind, auch abgesehen
von Grupps zweitem Teile, nicht ganz dieselben. Manches, was der eine aus¬
führlich darstellt, wird im andern kurz abgefertigt oder ganz übergangen. So
fehlt zum Beispiel bei Grupp die von Friedländer ausführlich beschriebne
Organisation des kaiserlichen Hofes. Den Reisen im römischen Reiche widmet


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hat auch Voßler nicht genügend betont — das späte Erwachen des volkstüm¬
lichen Geistes in Italien auf sozialen Ursachen: die Organisierung der alten
italienischen Gesellschaft war durchaus aristokratisch, das Volk wurde nieder¬
gehalten und wagte nicht, den Mund aufzutun. Ebenso lag bis tief in das
neunzehnte Jahrhundert hinein in Griechenland die Bildung in den Händen der
Adelsklasse, der Phanarioten, und diese sahen darin mehr eine heitere Zer¬
streuung als ein Erziehungsmittel des Volkes. Es ist darum gewiß kein Zufall,
daß in einer fremden Reisegesellschaft in Athen, deren Teilnehmer sich in der
beliebten suffisanten Weise über die heutigen Griechen lustig machten, es gerade
ein Italiener war, der sich ihrer annahm, indem er bemerkte: „Meine Herren,
Sie können nicht verstehn, wie den Griechen zumute ist. Wir aber versteh» es,
denn wir waren einmal gerade so elend wie sie!"




(Line Kulturgeschichte des Römerreichs

oktor Georg Grupp, fürstlich Ottingen-Wallersteinscher Biblio¬
thekar in Maihingen, hat vor zehn Jahren eine gute Kultur¬
geschichte des Mittelalters herausgegeben, die namentlich schätzens¬
werte Beiträge zur deutschen Wirtschaftsgeschichte enthält. Die
Vorarbeiten für eine Neuausgabe machten ihn auf viele Lücken
aufmerksam, die besonders eine Ergänzung nach rückwärts rätlich machten. So
geriet er immer tiefer in die römische Kaiserzeit und in die germanische Urzeit
hinein, „und der Stoff häufte sich so an, daß er sich nicht mehr in eine Ein¬
leitung zur Kulturgeschichte des Mittelalters einpressen ließ." Auf diese Weise
ist die (bei der Allgemeinen Verlagsgesellschaft in München erschienene) Kultur¬
geschichte der römischen Kaiserzeit entstanden. In vielen Rezensionen
des ersten, den Untergang der heidnischen Kultur behandelnden Teils ist der
hohe Wert des Werkes anerkannt worden, und dem vor einem Jahre heraus-
gegebnen zweiten Bande, dessen Untertitel „Anfänge der christlichen Kultur"
lautet, muß ein noch höherer Wert zugeschrieben werden, weil es ein zweites,
diese Anfänge im Zusammenhang und so vollständig darstellendes Werk unsers
Wissens nicht gibt, während der erste Band als Kompendium des von Fried¬
länder verarbeiteten Stoffs bezeichnet werden könnte.

Allerdings würde diese Bezeichnung nicht ganz zutreffen. Weniger umfang¬
reich ist freilich Grupps Werk. Seine beiden Bände sind 1205 Seiten Gro߬
oktav stark, die drei Bände Friedlünders in der sechsten Auflage 2036.
(Das etwas kleinere Format Friedländers wird durch den kleinern Druck auf¬
gewogen.) Aber die in beiden Werken behandelten Stoffe sind, auch abgesehen
von Grupps zweitem Teile, nicht ganz dieselben. Manches, was der eine aus¬
führlich darstellt, wird im andern kurz abgefertigt oder ganz übergangen. So
fehlt zum Beispiel bei Grupp die von Friedländer ausführlich beschriebne
Organisation des kaiserlichen Hofes. Den Reisen im römischen Reiche widmet


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[0138] Line Kulturgeschichte des Römerreichs hat auch Voßler nicht genügend betont — das späte Erwachen des volkstüm¬ lichen Geistes in Italien auf sozialen Ursachen: die Organisierung der alten italienischen Gesellschaft war durchaus aristokratisch, das Volk wurde nieder¬ gehalten und wagte nicht, den Mund aufzutun. Ebenso lag bis tief in das neunzehnte Jahrhundert hinein in Griechenland die Bildung in den Händen der Adelsklasse, der Phanarioten, und diese sahen darin mehr eine heitere Zer¬ streuung als ein Erziehungsmittel des Volkes. Es ist darum gewiß kein Zufall, daß in einer fremden Reisegesellschaft in Athen, deren Teilnehmer sich in der beliebten suffisanten Weise über die heutigen Griechen lustig machten, es gerade ein Italiener war, der sich ihrer annahm, indem er bemerkte: „Meine Herren, Sie können nicht verstehn, wie den Griechen zumute ist. Wir aber versteh» es, denn wir waren einmal gerade so elend wie sie!" (Line Kulturgeschichte des Römerreichs oktor Georg Grupp, fürstlich Ottingen-Wallersteinscher Biblio¬ thekar in Maihingen, hat vor zehn Jahren eine gute Kultur¬ geschichte des Mittelalters herausgegeben, die namentlich schätzens¬ werte Beiträge zur deutschen Wirtschaftsgeschichte enthält. Die Vorarbeiten für eine Neuausgabe machten ihn auf viele Lücken aufmerksam, die besonders eine Ergänzung nach rückwärts rätlich machten. So geriet er immer tiefer in die römische Kaiserzeit und in die germanische Urzeit hinein, „und der Stoff häufte sich so an, daß er sich nicht mehr in eine Ein¬ leitung zur Kulturgeschichte des Mittelalters einpressen ließ." Auf diese Weise ist die (bei der Allgemeinen Verlagsgesellschaft in München erschienene) Kultur¬ geschichte der römischen Kaiserzeit entstanden. In vielen Rezensionen des ersten, den Untergang der heidnischen Kultur behandelnden Teils ist der hohe Wert des Werkes anerkannt worden, und dem vor einem Jahre heraus- gegebnen zweiten Bande, dessen Untertitel „Anfänge der christlichen Kultur" lautet, muß ein noch höherer Wert zugeschrieben werden, weil es ein zweites, diese Anfänge im Zusammenhang und so vollständig darstellendes Werk unsers Wissens nicht gibt, während der erste Band als Kompendium des von Fried¬ länder verarbeiteten Stoffs bezeichnet werden könnte. Allerdings würde diese Bezeichnung nicht ganz zutreffen. Weniger umfang¬ reich ist freilich Grupps Werk. Seine beiden Bände sind 1205 Seiten Gro߬ oktav stark, die drei Bände Friedlünders in der sechsten Auflage 2036. (Das etwas kleinere Format Friedländers wird durch den kleinern Druck auf¬ gewogen.) Aber die in beiden Werken behandelten Stoffe sind, auch abgesehen von Grupps zweitem Teile, nicht ganz dieselben. Manches, was der eine aus¬ führlich darstellt, wird im andern kurz abgefertigt oder ganz übergangen. So fehlt zum Beispiel bei Grupp die von Friedländer ausführlich beschriebne Organisation des kaiserlichen Hofes. Den Reisen im römischen Reiche widmet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/138>, abgerufen am 07.05.2024.