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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Junge Herzen

Sie holte ihr Glas hervor. Die Kirche war tels Erste, was sie in den värm-
ländischen Wäldern willkommen hieß. Es war auch das Erste, was sie in Nakkerup
von ihrem Zimmer aus gesehen hatte: die ferne Grönager Kirche.

Sollte sie hier Frieden finden?

Sie dachte an die geheime Kammer in dem Märchenschloß des Glücks. War
der Schlüssel dazu hier oben: der aoldne Schlüssel, der aus dem roten Golde des
Glücks geschmiedet war?


3^. Varnland, du Schöne!

So war Helene denn in Varnland!

. ^"lZ!an ging sie mit ihrem Rad den Hügel hinan zu dem kleinen Orte, fragte
c>ep °em Wege ^ des Doktors Villa und radelte durch den Wald, bis sie auf
einem hohen Hügel Halt machte und in das gelobte Land hinaussah.

etzt war sie zum erstenmal mitten in einem schwedischen Walde.

Wie verschieden von den geschlossenen, schattigen dänischen Buchenwäldern war
dieser offne schwedische Laubsaal! Die Eberesche mit leise errötenden Beeren, die
^anne mit halb roten, halb grünen Zapfen, und die Birke mit ihren hängenden,
ausgefransten Zweigen begrüßten sie.

Das Heidekraut blühte, rote Walderdbeeren guckten am Wegesrande hervor.
Und hohe Kiefern mit rotbraunen Stämmen dufteten ihr entgegen.

Da gewahrte sie ganz plötzlich neben dem Wege, zwischen den Bäumen hervor¬
lugend, eine weiße Villa. Die Mitte des Hofplatzes nahm ein grüner Rasen mit
einer Riesentanne ein; am Wege entlang standen schimmernde Birken und mächtige
Ebereschen.

Auf dem Rasen weidete ein schönes weißes Pferd. Es hob den Kopf und
näherte sich Helenen, die seinen weichen Hals streichelte. Es schien Gefallen an
")r zu finden, denn es folgte ihr, als sie auf das Haus zuschritt.

Ob das der verzauberte Prinz war, der nur auf das erlösende Wort wartete,
um das Tiergewand abzuwerfen und sie in das Märchenschloß zu führen?

Ja, einem solchen glich die Villa in der Tat! Über den weißen Mauern
lag ein stiller Sonnennebel. In den Fenstern standen Geranien in allen Farben.
Rote und weiße Rosen schlangen sich, reich blühend, um die Veranda und an den
Wänden der Villa hinauf.

Aber kein Mensch ließ sich sehen, und kein Laut war zu hören. Das war ja
Dornröschens schlummerndes Schloß!

Sie trat auf die Veranda.

Als sie sich umwandte, sah sie, daß das Pferd den Kopf erhob und ihr nachstarrte.

Die Tür zur Flur stand offen.

Sie ging hinein.

Und wieder stand die Tür zu einer Stube offen.

Sie trat ein.

Noch immer niemand zu sehen und zu hören.

Da sank sie müde und matt vor einem offenstehenden Klavier nieder.

Sollten die Töne das schlummernde Schloß erwecken?

Und fast ohne zu wissen, was sie tat, schlug sie die Tasten an und sang, erst
ängstlich gedämpft, dann lauter, ein paar alte Reime, deren sie sich aus ihrer Kinder¬
zeit erinnerte:

Ja wahrhaftig, die Töne hatten den Zauber gelöst!

Hinter ihr standen in der einen Tür die Dienstboten und in der andern
ein großer, kräftiger Mann mit Hellem Vollbart und einer Brille, und hinter ihm


Grenzboten IV 1906 29
Junge Herzen

Sie holte ihr Glas hervor. Die Kirche war tels Erste, was sie in den värm-
ländischen Wäldern willkommen hieß. Es war auch das Erste, was sie in Nakkerup
von ihrem Zimmer aus gesehen hatte: die ferne Grönager Kirche.

Sollte sie hier Frieden finden?

Sie dachte an die geheime Kammer in dem Märchenschloß des Glücks. War
der Schlüssel dazu hier oben: der aoldne Schlüssel, der aus dem roten Golde des
Glücks geschmiedet war?


3^. Varnland, du Schöne!

So war Helene denn in Varnland!

. ^"lZ!an ging sie mit ihrem Rad den Hügel hinan zu dem kleinen Orte, fragte
c>ep °em Wege ^ des Doktors Villa und radelte durch den Wald, bis sie auf
einem hohen Hügel Halt machte und in das gelobte Land hinaussah.

etzt war sie zum erstenmal mitten in einem schwedischen Walde.

Wie verschieden von den geschlossenen, schattigen dänischen Buchenwäldern war
dieser offne schwedische Laubsaal! Die Eberesche mit leise errötenden Beeren, die
^anne mit halb roten, halb grünen Zapfen, und die Birke mit ihren hängenden,
ausgefransten Zweigen begrüßten sie.

Das Heidekraut blühte, rote Walderdbeeren guckten am Wegesrande hervor.
Und hohe Kiefern mit rotbraunen Stämmen dufteten ihr entgegen.

Da gewahrte sie ganz plötzlich neben dem Wege, zwischen den Bäumen hervor¬
lugend, eine weiße Villa. Die Mitte des Hofplatzes nahm ein grüner Rasen mit
einer Riesentanne ein; am Wege entlang standen schimmernde Birken und mächtige
Ebereschen.

Auf dem Rasen weidete ein schönes weißes Pferd. Es hob den Kopf und
näherte sich Helenen, die seinen weichen Hals streichelte. Es schien Gefallen an
")r zu finden, denn es folgte ihr, als sie auf das Haus zuschritt.

Ob das der verzauberte Prinz war, der nur auf das erlösende Wort wartete,
um das Tiergewand abzuwerfen und sie in das Märchenschloß zu führen?

Ja, einem solchen glich die Villa in der Tat! Über den weißen Mauern
lag ein stiller Sonnennebel. In den Fenstern standen Geranien in allen Farben.
Rote und weiße Rosen schlangen sich, reich blühend, um die Veranda und an den
Wänden der Villa hinauf.

Aber kein Mensch ließ sich sehen, und kein Laut war zu hören. Das war ja
Dornröschens schlummerndes Schloß!

Sie trat auf die Veranda.

Als sie sich umwandte, sah sie, daß das Pferd den Kopf erhob und ihr nachstarrte.

Die Tür zur Flur stand offen.

Sie ging hinein.

Und wieder stand die Tür zu einer Stube offen.

Sie trat ein.

Noch immer niemand zu sehen und zu hören.

Da sank sie müde und matt vor einem offenstehenden Klavier nieder.

Sollten die Töne das schlummernde Schloß erwecken?

Und fast ohne zu wissen, was sie tat, schlug sie die Tasten an und sang, erst
ängstlich gedämpft, dann lauter, ein paar alte Reime, deren sie sich aus ihrer Kinder¬
zeit erinnerte:

Ja wahrhaftig, die Töne hatten den Zauber gelöst!

Hinter ihr standen in der einen Tür die Dienstboten und in der andern
ein großer, kräftiger Mann mit Hellem Vollbart und einer Brille, und hinter ihm


Grenzboten IV 1906 29
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[0227] Junge Herzen Sie holte ihr Glas hervor. Die Kirche war tels Erste, was sie in den värm- ländischen Wäldern willkommen hieß. Es war auch das Erste, was sie in Nakkerup von ihrem Zimmer aus gesehen hatte: die ferne Grönager Kirche. Sollte sie hier Frieden finden? Sie dachte an die geheime Kammer in dem Märchenschloß des Glücks. War der Schlüssel dazu hier oben: der aoldne Schlüssel, der aus dem roten Golde des Glücks geschmiedet war? 3^. Varnland, du Schöne! So war Helene denn in Varnland! . ^"lZ!an ging sie mit ihrem Rad den Hügel hinan zu dem kleinen Orte, fragte c>ep °em Wege ^ des Doktors Villa und radelte durch den Wald, bis sie auf einem hohen Hügel Halt machte und in das gelobte Land hinaussah. etzt war sie zum erstenmal mitten in einem schwedischen Walde. Wie verschieden von den geschlossenen, schattigen dänischen Buchenwäldern war dieser offne schwedische Laubsaal! Die Eberesche mit leise errötenden Beeren, die ^anne mit halb roten, halb grünen Zapfen, und die Birke mit ihren hängenden, ausgefransten Zweigen begrüßten sie. Das Heidekraut blühte, rote Walderdbeeren guckten am Wegesrande hervor. Und hohe Kiefern mit rotbraunen Stämmen dufteten ihr entgegen. Da gewahrte sie ganz plötzlich neben dem Wege, zwischen den Bäumen hervor¬ lugend, eine weiße Villa. Die Mitte des Hofplatzes nahm ein grüner Rasen mit einer Riesentanne ein; am Wege entlang standen schimmernde Birken und mächtige Ebereschen. Auf dem Rasen weidete ein schönes weißes Pferd. Es hob den Kopf und näherte sich Helenen, die seinen weichen Hals streichelte. Es schien Gefallen an ")r zu finden, denn es folgte ihr, als sie auf das Haus zuschritt. Ob das der verzauberte Prinz war, der nur auf das erlösende Wort wartete, um das Tiergewand abzuwerfen und sie in das Märchenschloß zu führen? Ja, einem solchen glich die Villa in der Tat! Über den weißen Mauern lag ein stiller Sonnennebel. In den Fenstern standen Geranien in allen Farben. Rote und weiße Rosen schlangen sich, reich blühend, um die Veranda und an den Wänden der Villa hinauf. Aber kein Mensch ließ sich sehen, und kein Laut war zu hören. Das war ja Dornröschens schlummerndes Schloß! Sie trat auf die Veranda. Als sie sich umwandte, sah sie, daß das Pferd den Kopf erhob und ihr nachstarrte. Die Tür zur Flur stand offen. Sie ging hinein. Und wieder stand die Tür zu einer Stube offen. Sie trat ein. Noch immer niemand zu sehen und zu hören. Da sank sie müde und matt vor einem offenstehenden Klavier nieder. Sollten die Töne das schlummernde Schloß erwecken? Und fast ohne zu wissen, was sie tat, schlug sie die Tasten an und sang, erst ängstlich gedämpft, dann lauter, ein paar alte Reime, deren sie sich aus ihrer Kinder¬ zeit erinnerte: Ja wahrhaftig, die Töne hatten den Zauber gelöst! Hinter ihr standen in der einen Tür die Dienstboten und in der andern ein großer, kräftiger Mann mit Hellem Vollbart und einer Brille, und hinter ihm Grenzboten IV 1906 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/227>, abgerufen am 08.05.2024.