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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Sie russische Volksvertretung

bürger gewisse durch niemand antastbare persönliche Rechte und Freiheiten
-- die sogenannten Menschenrechte -- sichern, und zweitens müßte es durch
den Eid des Zaren zum Eckstein und zum unverrückbaren Fundament der Staats¬
grundgesetze gestempelt sein. Weder das eine noch das andre ist der Fall. An dem
zu Recht bestehenden Staatsgrundgesetz wird auch durch die neuste Proklamation
nichts geändert. Der Kaiser ist unumschränkter Selbstherrscher, seine von Gott
abgeleitete Macht wird mit niemand geteilt, durch keine gesetzlichen Normen
beschränkt, ihre Ausübung an keine solche gebunden (Grundgesetze Artikel 1).
Es werden nur einige schon bestehende Institutionen erweitert: der Reichsrat
und die Selbstverwaltungskörper. Hätte das neue Gesetz dem Volke gewisse
Rechte gegenüber dem selbstherrlichen Zaren eingeräumt, hätte es mit einem
Wort eine beschworne Verfassung gebracht, erst dann hätten wir es mit einem
Prinzipiellen Bruch mit der Autokratie zu tun. So sehr ein solcher Bruch von
den weitesten Kreisen der gebildeten russischen Gesellschaft und der städtischen Ar¬
beiterschaft erhofft wurde, so wenig haben ihn besonnene Politiker erwartet. Hatte
doch der Zar wiederholt -- durch das Manifest vom 18. Februar (4. März) 1905,
beim Empfang der Sjemstwoabordnung und dem der Russischen Männer sowie
durch mehrere telegraphische Äußerungen -- unzweideutig erklärt, er beabsichtige
Wohl zu den ihm notwendig scheinenden Reformen zu schreiten, jedoch ohne
einen Finger breit von seiner selbstherrlichen Gewalt abzuweichen. Allerdings
sagte der Zar in seinem Reskript an den Minister des Innern, den "berech¬
tigten Wünschen" der Gesellschaft solle bei der Ausarbeitung der Reforment¬
würfe Rechnung getragen werden. Aber nirgends und niemals haben wir
gehört, was als berechtigter und was als unberechtigter Wunsch aufzufassen
sei. Die Entscheidung hierüber wurde dem Ermessen des Hofmeisters Bulygin
überlassen.

Die den Schöpfern des Gesetzes gestellte Aufgabe lag im festen Rahmen
zwischen zwei sich scheinbar diametral gegenüberstehenden Forderungen, der nach
einer Volksvertretung und der, an dem autokratischen Regierungssystem nichts
zu ändern. Das Schlagwort der Slawophilen nennt das Ziel "die Vereinigung
des Zaren mit dem Volk" (MivMijs), unter Ausschaltung der verhaßten
Bureaukratie. Bei oberflächlicher Betrachtung des Gesetzes scheint das Ziel
erreicht zu sein, und uns leuchtet ans der Akte eine Eigentümlichkeit entgegen,
derentwegen wir zaudern, sie mit den in den Kulturstaaten sonst gebräuchlichen
Verfassungen zu vergleichen. Bei näherm Zusehen steigen uns jedoch wegen der
Erreichung des Ziels einige Zweifel auf, der Talmiglanz der Originalität ver¬
blaßt, und wir rufen enttäuscht mit Ben Allda aus: Alles schon dagewesen!

1.. Vorgeschichte

Die Entstehung des Gesetzes vom 6. (19.) August beginnt nach Miljukow*)
mit dem Jahre 1863. Wir finden den Keim zu seinen Grundgedanken in dem
Memorandum des Staatssekretärs Walujew vom 18. April 1863.



Die hier folgende historische Feststellung lehnt sich einem Aufsatz des gegenwärtig in
Rußland geschätztesten Historikers P. N. Miljukow, "Prawo" Ur. 31 (190S) an.
Sie russische Volksvertretung

bürger gewisse durch niemand antastbare persönliche Rechte und Freiheiten
— die sogenannten Menschenrechte — sichern, und zweitens müßte es durch
den Eid des Zaren zum Eckstein und zum unverrückbaren Fundament der Staats¬
grundgesetze gestempelt sein. Weder das eine noch das andre ist der Fall. An dem
zu Recht bestehenden Staatsgrundgesetz wird auch durch die neuste Proklamation
nichts geändert. Der Kaiser ist unumschränkter Selbstherrscher, seine von Gott
abgeleitete Macht wird mit niemand geteilt, durch keine gesetzlichen Normen
beschränkt, ihre Ausübung an keine solche gebunden (Grundgesetze Artikel 1).
Es werden nur einige schon bestehende Institutionen erweitert: der Reichsrat
und die Selbstverwaltungskörper. Hätte das neue Gesetz dem Volke gewisse
Rechte gegenüber dem selbstherrlichen Zaren eingeräumt, hätte es mit einem
Wort eine beschworne Verfassung gebracht, erst dann hätten wir es mit einem
Prinzipiellen Bruch mit der Autokratie zu tun. So sehr ein solcher Bruch von
den weitesten Kreisen der gebildeten russischen Gesellschaft und der städtischen Ar¬
beiterschaft erhofft wurde, so wenig haben ihn besonnene Politiker erwartet. Hatte
doch der Zar wiederholt — durch das Manifest vom 18. Februar (4. März) 1905,
beim Empfang der Sjemstwoabordnung und dem der Russischen Männer sowie
durch mehrere telegraphische Äußerungen — unzweideutig erklärt, er beabsichtige
Wohl zu den ihm notwendig scheinenden Reformen zu schreiten, jedoch ohne
einen Finger breit von seiner selbstherrlichen Gewalt abzuweichen. Allerdings
sagte der Zar in seinem Reskript an den Minister des Innern, den „berech¬
tigten Wünschen" der Gesellschaft solle bei der Ausarbeitung der Reforment¬
würfe Rechnung getragen werden. Aber nirgends und niemals haben wir
gehört, was als berechtigter und was als unberechtigter Wunsch aufzufassen
sei. Die Entscheidung hierüber wurde dem Ermessen des Hofmeisters Bulygin
überlassen.

Die den Schöpfern des Gesetzes gestellte Aufgabe lag im festen Rahmen
zwischen zwei sich scheinbar diametral gegenüberstehenden Forderungen, der nach
einer Volksvertretung und der, an dem autokratischen Regierungssystem nichts
zu ändern. Das Schlagwort der Slawophilen nennt das Ziel „die Vereinigung
des Zaren mit dem Volk" (MivMijs), unter Ausschaltung der verhaßten
Bureaukratie. Bei oberflächlicher Betrachtung des Gesetzes scheint das Ziel
erreicht zu sein, und uns leuchtet ans der Akte eine Eigentümlichkeit entgegen,
derentwegen wir zaudern, sie mit den in den Kulturstaaten sonst gebräuchlichen
Verfassungen zu vergleichen. Bei näherm Zusehen steigen uns jedoch wegen der
Erreichung des Ziels einige Zweifel auf, der Talmiglanz der Originalität ver¬
blaßt, und wir rufen enttäuscht mit Ben Allda aus: Alles schon dagewesen!

1.. Vorgeschichte

Die Entstehung des Gesetzes vom 6. (19.) August beginnt nach Miljukow*)
mit dem Jahre 1863. Wir finden den Keim zu seinen Grundgedanken in dem
Memorandum des Staatssekretärs Walujew vom 18. April 1863.



Die hier folgende historische Feststellung lehnt sich einem Aufsatz des gegenwärtig in
Rußland geschätztesten Historikers P. N. Miljukow, „Prawo" Ur. 31 (190S) an.
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[0303] Sie russische Volksvertretung bürger gewisse durch niemand antastbare persönliche Rechte und Freiheiten — die sogenannten Menschenrechte — sichern, und zweitens müßte es durch den Eid des Zaren zum Eckstein und zum unverrückbaren Fundament der Staats¬ grundgesetze gestempelt sein. Weder das eine noch das andre ist der Fall. An dem zu Recht bestehenden Staatsgrundgesetz wird auch durch die neuste Proklamation nichts geändert. Der Kaiser ist unumschränkter Selbstherrscher, seine von Gott abgeleitete Macht wird mit niemand geteilt, durch keine gesetzlichen Normen beschränkt, ihre Ausübung an keine solche gebunden (Grundgesetze Artikel 1). Es werden nur einige schon bestehende Institutionen erweitert: der Reichsrat und die Selbstverwaltungskörper. Hätte das neue Gesetz dem Volke gewisse Rechte gegenüber dem selbstherrlichen Zaren eingeräumt, hätte es mit einem Wort eine beschworne Verfassung gebracht, erst dann hätten wir es mit einem Prinzipiellen Bruch mit der Autokratie zu tun. So sehr ein solcher Bruch von den weitesten Kreisen der gebildeten russischen Gesellschaft und der städtischen Ar¬ beiterschaft erhofft wurde, so wenig haben ihn besonnene Politiker erwartet. Hatte doch der Zar wiederholt — durch das Manifest vom 18. Februar (4. März) 1905, beim Empfang der Sjemstwoabordnung und dem der Russischen Männer sowie durch mehrere telegraphische Äußerungen — unzweideutig erklärt, er beabsichtige Wohl zu den ihm notwendig scheinenden Reformen zu schreiten, jedoch ohne einen Finger breit von seiner selbstherrlichen Gewalt abzuweichen. Allerdings sagte der Zar in seinem Reskript an den Minister des Innern, den „berech¬ tigten Wünschen" der Gesellschaft solle bei der Ausarbeitung der Reforment¬ würfe Rechnung getragen werden. Aber nirgends und niemals haben wir gehört, was als berechtigter und was als unberechtigter Wunsch aufzufassen sei. Die Entscheidung hierüber wurde dem Ermessen des Hofmeisters Bulygin überlassen. Die den Schöpfern des Gesetzes gestellte Aufgabe lag im festen Rahmen zwischen zwei sich scheinbar diametral gegenüberstehenden Forderungen, der nach einer Volksvertretung und der, an dem autokratischen Regierungssystem nichts zu ändern. Das Schlagwort der Slawophilen nennt das Ziel „die Vereinigung des Zaren mit dem Volk" (MivMijs), unter Ausschaltung der verhaßten Bureaukratie. Bei oberflächlicher Betrachtung des Gesetzes scheint das Ziel erreicht zu sein, und uns leuchtet ans der Akte eine Eigentümlichkeit entgegen, derentwegen wir zaudern, sie mit den in den Kulturstaaten sonst gebräuchlichen Verfassungen zu vergleichen. Bei näherm Zusehen steigen uns jedoch wegen der Erreichung des Ziels einige Zweifel auf, der Talmiglanz der Originalität ver¬ blaßt, und wir rufen enttäuscht mit Ben Allda aus: Alles schon dagewesen! 1.. Vorgeschichte Die Entstehung des Gesetzes vom 6. (19.) August beginnt nach Miljukow*) mit dem Jahre 1863. Wir finden den Keim zu seinen Grundgedanken in dem Memorandum des Staatssekretärs Walujew vom 18. April 1863. Die hier folgende historische Feststellung lehnt sich einem Aufsatz des gegenwärtig in Rußland geschätztesten Historikers P. N. Miljukow, „Prawo" Ur. 31 (190S) an.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/303>, abgerufen am 07.05.2024.