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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Marokko und das Gleichgewicht im Mittelmeer

as Gleichgewicht im Mittelmeer ist "och kein alter historisch-poli¬
tischer Begriff, Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis
gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es vielmehr ein
ausgesprochnes Übergewicht Englands. Was jenseits liegt, die
Kämpfe Venedigs, Genuas, Pisas unter sich und mit den Byzan¬
tinern und Türken, das Erscheinen Spaniens und dann Frankreichs mit einer
Flotte auf den Fluten des Mittelmeers soll uus heute nicht kümmern. Mit der
Besetzung Gibraltars am Z.August 1704 im Namen Englands durch den Prinzen
von Hessen beginnt die neue Zeit. Seitdem ist der Eingang zu dem wichtigsten
aller Nebengewässer der Ozeane in Englands Hand geblieben. Die französische
Seemacht erlag im Spanischen Erbfolgekrieg und wurde in Verbindung mit dem
siebenjährigen preußisch-österreichischen Kriege vollends niedergeschlagen. Ebenso
vermorschte das einst so gewaltige Spanien. Der Seeweg nach Ostindien entzog
den Venezianern und den Genuesen den Boden, worin ihr Wohlstand und damit
ihre Kraft wurzelte, den Handel mit den Ländern des Indischen Ozeans. Ihre
Galeeren wagten keinen Kampf mehr mit den schwer bewaffneten Koggen und
Linienschiffen, die vom Atlantischen Ozean hereinkamen, trotzdem daß sie in ihrer
Beweglichkeit bei Windstille einen großen Trumpf gegenüber den Segelschiffen
w der Hand hatten. Beide standen gingen überdies in den Revolutionskriegen
unter. Die türkische Macht war schon im achtzehnten Jahrhundert in Verfall;
wäre sie noch lebenskräftig gewesen wie um 1550, so Hütte England es wohl
"ut einem ernstlichen Gegner zu tun gehabt, tatsächlich aber hatte die englische
Seemacht im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts keinen Nebenbuhler mehr
im Mittelmeer.

Erst gegen den Schluß des Jahrhunderts bereiteten sich wichtige Dinge
^r. Das Schwarze Meer war seit dem Untergange des byzantinischen Reichs
mars elMsclin der Türken gewesen; der großartigste natürliche Kriegshafen,
den unser Erdball hat. Unter Katharina der Zweiten setzten sich die Russen
1768--74 zuerst an den Ufern des Asowschen und des Schwarzen Meeres
^se. Im Frieden erzwangen sie freie Schiffahrt auf dem Schwarzen Meer und
"uf allen türkischen Gewässern. Weitere Siege brachten alsdann das ganze
'


Grenzboten II 1905 16


Marokko und das Gleichgewicht im Mittelmeer

as Gleichgewicht im Mittelmeer ist »och kein alter historisch-poli¬
tischer Begriff, Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis
gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es vielmehr ein
ausgesprochnes Übergewicht Englands. Was jenseits liegt, die
Kämpfe Venedigs, Genuas, Pisas unter sich und mit den Byzan¬
tinern und Türken, das Erscheinen Spaniens und dann Frankreichs mit einer
Flotte auf den Fluten des Mittelmeers soll uus heute nicht kümmern. Mit der
Besetzung Gibraltars am Z.August 1704 im Namen Englands durch den Prinzen
von Hessen beginnt die neue Zeit. Seitdem ist der Eingang zu dem wichtigsten
aller Nebengewässer der Ozeane in Englands Hand geblieben. Die französische
Seemacht erlag im Spanischen Erbfolgekrieg und wurde in Verbindung mit dem
siebenjährigen preußisch-österreichischen Kriege vollends niedergeschlagen. Ebenso
vermorschte das einst so gewaltige Spanien. Der Seeweg nach Ostindien entzog
den Venezianern und den Genuesen den Boden, worin ihr Wohlstand und damit
ihre Kraft wurzelte, den Handel mit den Ländern des Indischen Ozeans. Ihre
Galeeren wagten keinen Kampf mehr mit den schwer bewaffneten Koggen und
Linienschiffen, die vom Atlantischen Ozean hereinkamen, trotzdem daß sie in ihrer
Beweglichkeit bei Windstille einen großen Trumpf gegenüber den Segelschiffen
w der Hand hatten. Beide standen gingen überdies in den Revolutionskriegen
unter. Die türkische Macht war schon im achtzehnten Jahrhundert in Verfall;
wäre sie noch lebenskräftig gewesen wie um 1550, so Hütte England es wohl
»ut einem ernstlichen Gegner zu tun gehabt, tatsächlich aber hatte die englische
Seemacht im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts keinen Nebenbuhler mehr
im Mittelmeer.

Erst gegen den Schluß des Jahrhunderts bereiteten sich wichtige Dinge
^r. Das Schwarze Meer war seit dem Untergange des byzantinischen Reichs
mars elMsclin der Türken gewesen; der großartigste natürliche Kriegshafen,
den unser Erdball hat. Unter Katharina der Zweiten setzten sich die Russen
1768—74 zuerst an den Ufern des Asowschen und des Schwarzen Meeres
^se. Im Frieden erzwangen sie freie Schiffahrt auf dem Schwarzen Meer und
"uf allen türkischen Gewässern. Weitere Siege brachten alsdann das ganze
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Grenzboten II 1905 16
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[0125] [Abbildung] Marokko und das Gleichgewicht im Mittelmeer as Gleichgewicht im Mittelmeer ist »och kein alter historisch-poli¬ tischer Begriff, Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es vielmehr ein ausgesprochnes Übergewicht Englands. Was jenseits liegt, die Kämpfe Venedigs, Genuas, Pisas unter sich und mit den Byzan¬ tinern und Türken, das Erscheinen Spaniens und dann Frankreichs mit einer Flotte auf den Fluten des Mittelmeers soll uus heute nicht kümmern. Mit der Besetzung Gibraltars am Z.August 1704 im Namen Englands durch den Prinzen von Hessen beginnt die neue Zeit. Seitdem ist der Eingang zu dem wichtigsten aller Nebengewässer der Ozeane in Englands Hand geblieben. Die französische Seemacht erlag im Spanischen Erbfolgekrieg und wurde in Verbindung mit dem siebenjährigen preußisch-österreichischen Kriege vollends niedergeschlagen. Ebenso vermorschte das einst so gewaltige Spanien. Der Seeweg nach Ostindien entzog den Venezianern und den Genuesen den Boden, worin ihr Wohlstand und damit ihre Kraft wurzelte, den Handel mit den Ländern des Indischen Ozeans. Ihre Galeeren wagten keinen Kampf mehr mit den schwer bewaffneten Koggen und Linienschiffen, die vom Atlantischen Ozean hereinkamen, trotzdem daß sie in ihrer Beweglichkeit bei Windstille einen großen Trumpf gegenüber den Segelschiffen w der Hand hatten. Beide standen gingen überdies in den Revolutionskriegen unter. Die türkische Macht war schon im achtzehnten Jahrhundert in Verfall; wäre sie noch lebenskräftig gewesen wie um 1550, so Hütte England es wohl »ut einem ernstlichen Gegner zu tun gehabt, tatsächlich aber hatte die englische Seemacht im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts keinen Nebenbuhler mehr im Mittelmeer. Erst gegen den Schluß des Jahrhunderts bereiteten sich wichtige Dinge ^r. Das Schwarze Meer war seit dem Untergange des byzantinischen Reichs mars elMsclin der Türken gewesen; der großartigste natürliche Kriegshafen, den unser Erdball hat. Unter Katharina der Zweiten setzten sich die Russen 1768—74 zuerst an den Ufern des Asowschen und des Schwarzen Meeres ^se. Im Frieden erzwangen sie freie Schiffahrt auf dem Schwarzen Meer und "uf allen türkischen Gewässern. Weitere Siege brachten alsdann das ganze ' Grenzboten II 1905 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/125>, abgerufen am 07.05.2024.