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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

weiten und zu kriegerischen Einfällen wenig einladenden Boden einen äußerlich im¬
posanten Staatsbäu aufzurichten. Diesen Bau innerlich gesund und kräftig zu
macheu, dazu würde eine sehr reichliche deutsche Einwanderung gehören, die vor
Russisjzierung geschützt sein müßte.


Der Heilige als Schurke. Sören Kierkegaards

Angriff auf das Christen¬
tum ist an sich nichts besonders Merkwürdiges. Der Widerspruch zwischen kirch¬
licher Theorie und Praxis ist seit dem Mittelalter unzähligemal verspottet worden,
um der Religion willen haben, wie der dänische Strafprediger, schon die jüdischen
Propheten das Kirchentum ihrer Zeit augegriffen, und daß es keine Christen im
Sinne Ich,i mehr gibt, sagen die Religionsphilosophen und die Sozialdemokraten
alle Tage. Das Besondre dieser vor fünfzehn Jahren von Schrempf und Dörner
der Vergessenheit entrissenen Streitschriften besteht in dem Gepräge, das ihnen die
ganz einzigartige Person des Verfassers verleiht, und diese Person ist für sich allein
eine so erstaunliche Erscheinung, daß einem neben ihr die Stellung, die sie zu einer
weltbewegenden Frage eingenommen hat, eigentlich gleichgiltig vorkommt. Das erste
größere Werk, das er im Jahre 1842 herausgab (er war damals neunundzwanzig
Jahre alt und ist schon 1855, nach dreizehnjähriger öffentlicher Tätigkeit gestorben),
war "Entweder -- Oder." Ein Lebensfragment. Herausgegeben von Viktor Eremita.
(Die deutsche Übersetzung von O. Gleiß ist in zweiter Auflage ohne Jahreszahl in
Fr. Richters Verlag, C. Ludwig Ungelenk, in Dresden und Leipzig erschienen.)
Dieses wunderbare Buch enthält pessimistische Diapsalmata (Präludien), eine lange
geistsprühende Abhandlung über das Musikalisch - Erotische in Mozarts Don Juan,
das Tagebuch eines Verführers -- eine so raffinierte Verführungsgeschichte, daß es
sicherlich in der ganzen Weltliteratur kein Seitenstück dazu gibt -- und Briefe eines
altern Freundes an den Verführer, die ihm, dem großen Ästheten, beweisen sollen,
daß die Ehe allein das wahrhaft Ästhetische sei. Den Schluß macht "das Erbau¬
liche des Gedankens, daß wir vor Gott immer Unrecht haben," und diese Schlu߬
abhandlung wird mit einem Gebet eingeleitet. Das Tagebuch eines Verführers,
erklärt er später, war wie seine ganze ästhetische Schriftstellerei eine Kriegslist,
^r wollte die Seelen zu Gott zurückführen, da das aber nicht gelingt, wenn man
°sser aus ihre Bekehrung hinarbeitet, stellt er interessante ästhetische Untersuchungen
"N und hofft sie damit in sein Netz zu locken.

Nun sind aber nach dem voriges Jahr erfolgten Tode der Frau Regime
Schlegel, Witwe des westindischen Gouverneurs Schlegel, die Urkunden ihrer Braut-
schaft mit Kierkegaard veröffentlicht worden (Sören Kierkegaard und sein
Verhältnis zu "ihr." Aus nachgelassenen Papieren. Herausgegeben im Auf¬
trage der Frau Regime Schlegel und verdeutscht von Raphael Meyer. Axel
Juncker in Stuttgart, 1905). Daraus erfahren wir, daß deu wunderlichen Pro¬
pheten noch ein andrer Beweggrund -- und dieser scheint der hauptsächlichste ge¬
wesen zu sein -- zur Abfassung von Entweder -- Oder bestimmt hat, und daß das
Tagebuch eines Verführers nicht, wie jeder Kenner Kierkegaards annehmen zu
U'üssen glaubte, ein Phantasiegebilde, sondern die Geschichte seiner Brautschaft ist,
natürlich eine aus Wahrheit und Dichtung gewebte Geschichte. Aus den in diesem
Händchen mitgeteilten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen ergibt sich ungefähr
folgendes. Kierkegaard lernte Regime, die Tochter des Etatsrath Olsen, als ganz
lunges Mädchen kennen, faßte eine tiefe Zuneigung zu ihr, näherte sich ihr und
bestimmte sie, als sie achtzehn Jahre alt geworden war, sich rin ihm zu verloben,
obwohl sie sich schon einigermaßen an ihren spätern Gatten gebunden fühlte. Im
Brautjahre. 1840 bis 1842, richtete er eine Menge oft von sinnigen Geschenken
begleiteter Briefe an sie, die jeden Gegenstand, jede Stimmung, jedes Vorkommnis
w Poesie auflösen. Sie ersetzen nicht, sondern ergänzen, wie die Briefe des jungen
Goethe an Frau von Stein, den persönlichen Verkehr, denn beide wohnten in
Kopenhagen. An das Heiraten scheint er niemals ernstlich gedacht zu haben. Mit


Maßgebliches und Unmaßgebliches

weiten und zu kriegerischen Einfällen wenig einladenden Boden einen äußerlich im¬
posanten Staatsbäu aufzurichten. Diesen Bau innerlich gesund und kräftig zu
macheu, dazu würde eine sehr reichliche deutsche Einwanderung gehören, die vor
Russisjzierung geschützt sein müßte.


Der Heilige als Schurke. Sören Kierkegaards

Angriff auf das Christen¬
tum ist an sich nichts besonders Merkwürdiges. Der Widerspruch zwischen kirch¬
licher Theorie und Praxis ist seit dem Mittelalter unzähligemal verspottet worden,
um der Religion willen haben, wie der dänische Strafprediger, schon die jüdischen
Propheten das Kirchentum ihrer Zeit augegriffen, und daß es keine Christen im
Sinne Ich,i mehr gibt, sagen die Religionsphilosophen und die Sozialdemokraten
alle Tage. Das Besondre dieser vor fünfzehn Jahren von Schrempf und Dörner
der Vergessenheit entrissenen Streitschriften besteht in dem Gepräge, das ihnen die
ganz einzigartige Person des Verfassers verleiht, und diese Person ist für sich allein
eine so erstaunliche Erscheinung, daß einem neben ihr die Stellung, die sie zu einer
weltbewegenden Frage eingenommen hat, eigentlich gleichgiltig vorkommt. Das erste
größere Werk, das er im Jahre 1842 herausgab (er war damals neunundzwanzig
Jahre alt und ist schon 1855, nach dreizehnjähriger öffentlicher Tätigkeit gestorben),
war „Entweder — Oder." Ein Lebensfragment. Herausgegeben von Viktor Eremita.
(Die deutsche Übersetzung von O. Gleiß ist in zweiter Auflage ohne Jahreszahl in
Fr. Richters Verlag, C. Ludwig Ungelenk, in Dresden und Leipzig erschienen.)
Dieses wunderbare Buch enthält pessimistische Diapsalmata (Präludien), eine lange
geistsprühende Abhandlung über das Musikalisch - Erotische in Mozarts Don Juan,
das Tagebuch eines Verführers — eine so raffinierte Verführungsgeschichte, daß es
sicherlich in der ganzen Weltliteratur kein Seitenstück dazu gibt — und Briefe eines
altern Freundes an den Verführer, die ihm, dem großen Ästheten, beweisen sollen,
daß die Ehe allein das wahrhaft Ästhetische sei. Den Schluß macht „das Erbau¬
liche des Gedankens, daß wir vor Gott immer Unrecht haben," und diese Schlu߬
abhandlung wird mit einem Gebet eingeleitet. Das Tagebuch eines Verführers,
erklärt er später, war wie seine ganze ästhetische Schriftstellerei eine Kriegslist,
^r wollte die Seelen zu Gott zurückführen, da das aber nicht gelingt, wenn man
°sser aus ihre Bekehrung hinarbeitet, stellt er interessante ästhetische Untersuchungen
"N und hofft sie damit in sein Netz zu locken.

Nun sind aber nach dem voriges Jahr erfolgten Tode der Frau Regime
Schlegel, Witwe des westindischen Gouverneurs Schlegel, die Urkunden ihrer Braut-
schaft mit Kierkegaard veröffentlicht worden (Sören Kierkegaard und sein
Verhältnis zu „ihr." Aus nachgelassenen Papieren. Herausgegeben im Auf¬
trage der Frau Regime Schlegel und verdeutscht von Raphael Meyer. Axel
Juncker in Stuttgart, 1905). Daraus erfahren wir, daß deu wunderlichen Pro¬
pheten noch ein andrer Beweggrund — und dieser scheint der hauptsächlichste ge¬
wesen zu sein — zur Abfassung von Entweder — Oder bestimmt hat, und daß das
Tagebuch eines Verführers nicht, wie jeder Kenner Kierkegaards annehmen zu
U'üssen glaubte, ein Phantasiegebilde, sondern die Geschichte seiner Brautschaft ist,
natürlich eine aus Wahrheit und Dichtung gewebte Geschichte. Aus den in diesem
Händchen mitgeteilten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen ergibt sich ungefähr
folgendes. Kierkegaard lernte Regime, die Tochter des Etatsrath Olsen, als ganz
lunges Mädchen kennen, faßte eine tiefe Zuneigung zu ihr, näherte sich ihr und
bestimmte sie, als sie achtzehn Jahre alt geworden war, sich rin ihm zu verloben,
obwohl sie sich schon einigermaßen an ihren spätern Gatten gebunden fühlte. Im
Brautjahre. 1840 bis 1842, richtete er eine Menge oft von sinnigen Geschenken
begleiteter Briefe an sie, die jeden Gegenstand, jede Stimmung, jedes Vorkommnis
w Poesie auflösen. Sie ersetzen nicht, sondern ergänzen, wie die Briefe des jungen
Goethe an Frau von Stein, den persönlichen Verkehr, denn beide wohnten in
Kopenhagen. An das Heiraten scheint er niemals ernstlich gedacht zu haben. Mit


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[0179] Maßgebliches und Unmaßgebliches weiten und zu kriegerischen Einfällen wenig einladenden Boden einen äußerlich im¬ posanten Staatsbäu aufzurichten. Diesen Bau innerlich gesund und kräftig zu macheu, dazu würde eine sehr reichliche deutsche Einwanderung gehören, die vor Russisjzierung geschützt sein müßte. Der Heilige als Schurke. Sören Kierkegaards Angriff auf das Christen¬ tum ist an sich nichts besonders Merkwürdiges. Der Widerspruch zwischen kirch¬ licher Theorie und Praxis ist seit dem Mittelalter unzähligemal verspottet worden, um der Religion willen haben, wie der dänische Strafprediger, schon die jüdischen Propheten das Kirchentum ihrer Zeit augegriffen, und daß es keine Christen im Sinne Ich,i mehr gibt, sagen die Religionsphilosophen und die Sozialdemokraten alle Tage. Das Besondre dieser vor fünfzehn Jahren von Schrempf und Dörner der Vergessenheit entrissenen Streitschriften besteht in dem Gepräge, das ihnen die ganz einzigartige Person des Verfassers verleiht, und diese Person ist für sich allein eine so erstaunliche Erscheinung, daß einem neben ihr die Stellung, die sie zu einer weltbewegenden Frage eingenommen hat, eigentlich gleichgiltig vorkommt. Das erste größere Werk, das er im Jahre 1842 herausgab (er war damals neunundzwanzig Jahre alt und ist schon 1855, nach dreizehnjähriger öffentlicher Tätigkeit gestorben), war „Entweder — Oder." Ein Lebensfragment. Herausgegeben von Viktor Eremita. (Die deutsche Übersetzung von O. Gleiß ist in zweiter Auflage ohne Jahreszahl in Fr. Richters Verlag, C. Ludwig Ungelenk, in Dresden und Leipzig erschienen.) Dieses wunderbare Buch enthält pessimistische Diapsalmata (Präludien), eine lange geistsprühende Abhandlung über das Musikalisch - Erotische in Mozarts Don Juan, das Tagebuch eines Verführers — eine so raffinierte Verführungsgeschichte, daß es sicherlich in der ganzen Weltliteratur kein Seitenstück dazu gibt — und Briefe eines altern Freundes an den Verführer, die ihm, dem großen Ästheten, beweisen sollen, daß die Ehe allein das wahrhaft Ästhetische sei. Den Schluß macht „das Erbau¬ liche des Gedankens, daß wir vor Gott immer Unrecht haben," und diese Schlu߬ abhandlung wird mit einem Gebet eingeleitet. Das Tagebuch eines Verführers, erklärt er später, war wie seine ganze ästhetische Schriftstellerei eine Kriegslist, ^r wollte die Seelen zu Gott zurückführen, da das aber nicht gelingt, wenn man °sser aus ihre Bekehrung hinarbeitet, stellt er interessante ästhetische Untersuchungen "N und hofft sie damit in sein Netz zu locken. Nun sind aber nach dem voriges Jahr erfolgten Tode der Frau Regime Schlegel, Witwe des westindischen Gouverneurs Schlegel, die Urkunden ihrer Braut- schaft mit Kierkegaard veröffentlicht worden (Sören Kierkegaard und sein Verhältnis zu „ihr." Aus nachgelassenen Papieren. Herausgegeben im Auf¬ trage der Frau Regime Schlegel und verdeutscht von Raphael Meyer. Axel Juncker in Stuttgart, 1905). Daraus erfahren wir, daß deu wunderlichen Pro¬ pheten noch ein andrer Beweggrund — und dieser scheint der hauptsächlichste ge¬ wesen zu sein — zur Abfassung von Entweder — Oder bestimmt hat, und daß das Tagebuch eines Verführers nicht, wie jeder Kenner Kierkegaards annehmen zu U'üssen glaubte, ein Phantasiegebilde, sondern die Geschichte seiner Brautschaft ist, natürlich eine aus Wahrheit und Dichtung gewebte Geschichte. Aus den in diesem Händchen mitgeteilten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen ergibt sich ungefähr folgendes. Kierkegaard lernte Regime, die Tochter des Etatsrath Olsen, als ganz lunges Mädchen kennen, faßte eine tiefe Zuneigung zu ihr, näherte sich ihr und bestimmte sie, als sie achtzehn Jahre alt geworden war, sich rin ihm zu verloben, obwohl sie sich schon einigermaßen an ihren spätern Gatten gebunden fühlte. Im Brautjahre. 1840 bis 1842, richtete er eine Menge oft von sinnigen Geschenken begleiteter Briefe an sie, die jeden Gegenstand, jede Stimmung, jedes Vorkommnis w Poesie auflösen. Sie ersetzen nicht, sondern ergänzen, wie die Briefe des jungen Goethe an Frau von Stein, den persönlichen Verkehr, denn beide wohnten in Kopenhagen. An das Heiraten scheint er niemals ernstlich gedacht zu haben. Mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/179>, abgerufen am 07.05.2024.