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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Gin praktischer Utopist

akademische Freiheit deutscher Studenten gefährdet? Und weiter. Man pro¬
testierte gegen die katholischen Studentenverbindungen und sprach ihnen das
Existenzrecht ab, dessen sich diese seit mehr als zwanzig Jahren unbeanstandet
erfreut haben. Kein Protestant wird sich für die Existenz solcher Verbindungen
erwärmen. Ihre Übelstände liegen auf der Hand, mögen sie bei den katho¬
lischen noch nicht so groß sein wie bei den exklusiv jüdischen Verbindungen.
Aber ist die Möglichkeit ihrer Existenz nicht mit der Tatsache der akademischen
Freiheit gegeben? Die akademische Freiheit besteht ja doch wohl nicht darin,
daß ein Studentenausschuß für sich das Recht in Anspruch nimmt, zu tun,
was ihm paßt, und zu verbieten, was ihm unbequem ist. Die Proteste aber
gegen den Bestand katholischer Studentenverbindungen sind nichts andres als
ein aktives Eingreifen in die traurigen konfessionellen Streitigkeiten, die unser
Volksleben in Spannung halten und oft auch vergiften.

Hier wie dort ist also eine Grenzüberschreitnng im Namen der akademischen
Freiheit versucht worden. Denn darüber sollte doch keine Unklarheit herrschen,
daß die Freiheit der Studenten mir da eine gesunde ist, wo sie sich inner-
halb der Studienzweckc betätigt, und diese haben mit aktiver Politik nichts zu
tun. Durch solche Übergriffe wird der Charakter der deutschen Universitäten
gefährdet, ans den wir stolz sind, weil eben in der Eigentümlichkeit unsrer
höchsten Bildungsanstalten unsre geistige und nationale Kraft wurzelt. Wer
ein reifer Mann werden will, der darf sich die Zeit zum Ausreifen nicht ver¬
derben durch vordrängendes Hasten und Werden um die öffentliche Aufmerksam¬
keit, sonst verflacht und verödet er in eiteln Getriebe. Der deutsche Student
hat das schöne Recht, auch zu irren, indem er selbständig seinen Weg sucht.
Dieses Recht ist ihm gegönnt in dem Vertrauen darauf, daß er zu denen gehört,
von denen Rückert sagt:

Das Recht zu irren ist eben ein Ausfluß der akademischen Freiheit; es
stimmt uus milde, wenn auch der Most sich ungebärdig zeigt. Denn im Grunde
sind alle Irrungen des Wahrheitssuchers nichts andres als Beendigungen des
Rechts und der Pflicht der Selbsterziehung; und diese ist und bleibt der Nerv
der akademischen Freiheit des deutschen Studenten.




Gin praktischer Utopist

lieber einmal ein utopischer Rausch verflöge"! Wenn vor Ge¬
nossen der Zukunftsstaat erwähnt wird, sprechen sie sicherlich
wenigstens im Herzen: Mumpitz. Weil das Leben schon jede
Utopie gründlich genug widerlegt, ist es ziemlich überflüssig, sie
>mit Worten zu bekämpfen. Viel richtiger ist es, von Zeit zu
Zeit an die Notwendigkeit des Utopismus zu erinnern. Ein Geschlecht, ein
Volk, das keine übertriebnen Wünsche, keine übertriebnen Vorstellungen von'MW


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akademische Freiheit deutscher Studenten gefährdet? Und weiter. Man pro¬
testierte gegen die katholischen Studentenverbindungen und sprach ihnen das
Existenzrecht ab, dessen sich diese seit mehr als zwanzig Jahren unbeanstandet
erfreut haben. Kein Protestant wird sich für die Existenz solcher Verbindungen
erwärmen. Ihre Übelstände liegen auf der Hand, mögen sie bei den katho¬
lischen noch nicht so groß sein wie bei den exklusiv jüdischen Verbindungen.
Aber ist die Möglichkeit ihrer Existenz nicht mit der Tatsache der akademischen
Freiheit gegeben? Die akademische Freiheit besteht ja doch wohl nicht darin,
daß ein Studentenausschuß für sich das Recht in Anspruch nimmt, zu tun,
was ihm paßt, und zu verbieten, was ihm unbequem ist. Die Proteste aber
gegen den Bestand katholischer Studentenverbindungen sind nichts andres als
ein aktives Eingreifen in die traurigen konfessionellen Streitigkeiten, die unser
Volksleben in Spannung halten und oft auch vergiften.

Hier wie dort ist also eine Grenzüberschreitnng im Namen der akademischen
Freiheit versucht worden. Denn darüber sollte doch keine Unklarheit herrschen,
daß die Freiheit der Studenten mir da eine gesunde ist, wo sie sich inner-
halb der Studienzweckc betätigt, und diese haben mit aktiver Politik nichts zu
tun. Durch solche Übergriffe wird der Charakter der deutschen Universitäten
gefährdet, ans den wir stolz sind, weil eben in der Eigentümlichkeit unsrer
höchsten Bildungsanstalten unsre geistige und nationale Kraft wurzelt. Wer
ein reifer Mann werden will, der darf sich die Zeit zum Ausreifen nicht ver¬
derben durch vordrängendes Hasten und Werden um die öffentliche Aufmerksam¬
keit, sonst verflacht und verödet er in eiteln Getriebe. Der deutsche Student
hat das schöne Recht, auch zu irren, indem er selbständig seinen Weg sucht.
Dieses Recht ist ihm gegönnt in dem Vertrauen darauf, daß er zu denen gehört,
von denen Rückert sagt:

Das Recht zu irren ist eben ein Ausfluß der akademischen Freiheit; es
stimmt uus milde, wenn auch der Most sich ungebärdig zeigt. Denn im Grunde
sind alle Irrungen des Wahrheitssuchers nichts andres als Beendigungen des
Rechts und der Pflicht der Selbsterziehung; und diese ist und bleibt der Nerv
der akademischen Freiheit des deutschen Studenten.




Gin praktischer Utopist

lieber einmal ein utopischer Rausch verflöge»! Wenn vor Ge¬
nossen der Zukunftsstaat erwähnt wird, sprechen sie sicherlich
wenigstens im Herzen: Mumpitz. Weil das Leben schon jede
Utopie gründlich genug widerlegt, ist es ziemlich überflüssig, sie
>mit Worten zu bekämpfen. Viel richtiger ist es, von Zeit zu
Zeit an die Notwendigkeit des Utopismus zu erinnern. Ein Geschlecht, ein
Volk, das keine übertriebnen Wünsche, keine übertriebnen Vorstellungen von'MW


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[0037] Gin praktischer Utopist akademische Freiheit deutscher Studenten gefährdet? Und weiter. Man pro¬ testierte gegen die katholischen Studentenverbindungen und sprach ihnen das Existenzrecht ab, dessen sich diese seit mehr als zwanzig Jahren unbeanstandet erfreut haben. Kein Protestant wird sich für die Existenz solcher Verbindungen erwärmen. Ihre Übelstände liegen auf der Hand, mögen sie bei den katho¬ lischen noch nicht so groß sein wie bei den exklusiv jüdischen Verbindungen. Aber ist die Möglichkeit ihrer Existenz nicht mit der Tatsache der akademischen Freiheit gegeben? Die akademische Freiheit besteht ja doch wohl nicht darin, daß ein Studentenausschuß für sich das Recht in Anspruch nimmt, zu tun, was ihm paßt, und zu verbieten, was ihm unbequem ist. Die Proteste aber gegen den Bestand katholischer Studentenverbindungen sind nichts andres als ein aktives Eingreifen in die traurigen konfessionellen Streitigkeiten, die unser Volksleben in Spannung halten und oft auch vergiften. Hier wie dort ist also eine Grenzüberschreitnng im Namen der akademischen Freiheit versucht worden. Denn darüber sollte doch keine Unklarheit herrschen, daß die Freiheit der Studenten mir da eine gesunde ist, wo sie sich inner- halb der Studienzweckc betätigt, und diese haben mit aktiver Politik nichts zu tun. Durch solche Übergriffe wird der Charakter der deutschen Universitäten gefährdet, ans den wir stolz sind, weil eben in der Eigentümlichkeit unsrer höchsten Bildungsanstalten unsre geistige und nationale Kraft wurzelt. Wer ein reifer Mann werden will, der darf sich die Zeit zum Ausreifen nicht ver¬ derben durch vordrängendes Hasten und Werden um die öffentliche Aufmerksam¬ keit, sonst verflacht und verödet er in eiteln Getriebe. Der deutsche Student hat das schöne Recht, auch zu irren, indem er selbständig seinen Weg sucht. Dieses Recht ist ihm gegönnt in dem Vertrauen darauf, daß er zu denen gehört, von denen Rückert sagt: Das Recht zu irren ist eben ein Ausfluß der akademischen Freiheit; es stimmt uus milde, wenn auch der Most sich ungebärdig zeigt. Denn im Grunde sind alle Irrungen des Wahrheitssuchers nichts andres als Beendigungen des Rechts und der Pflicht der Selbsterziehung; und diese ist und bleibt der Nerv der akademischen Freiheit des deutschen Studenten. Gin praktischer Utopist lieber einmal ein utopischer Rausch verflöge»! Wenn vor Ge¬ nossen der Zukunftsstaat erwähnt wird, sprechen sie sicherlich wenigstens im Herzen: Mumpitz. Weil das Leben schon jede Utopie gründlich genug widerlegt, ist es ziemlich überflüssig, sie >mit Worten zu bekämpfen. Viel richtiger ist es, von Zeit zu Zeit an die Notwendigkeit des Utopismus zu erinnern. Ein Geschlecht, ein Volk, das keine übertriebnen Wünsche, keine übertriebnen Vorstellungen von'MW

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/37>, abgerufen am 08.05.2024.