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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Reiseerinnerungen aus Rußland
von Wilhelm Gittermann

/KM!inige Jahre sind darüber hingegangen, daß ich mich endlich auf
wiederholte dringende Einladungen meiner russischen Freunde zu
einer Reise nach Se. Petersburg entschloß. Bei uns im südlichen
Deutschland erwachte in den ersten Märztagen die Natur schon
!aus dem Winterschlafe, Frühlingsahnung kam in das Land ge¬
zogen, und fröhlichen Herzens dampfte ich dem Norden zu in der Erwartung,
daß auch dort schon die schlimmste Eiszeit vorüber sein würde. In Königs¬
berg, der alten preußischen Krönungsstadt, gab es die erste längere Unter¬
brechung, denn auch hier warteten gute Freunde, die mich durch einen Trunk
im Blutgericht, dem altberühmten Weinkeller, wo sich die Königsberger ihr
Zipperlein und sonstige Gebrechen antrinken, auf die Überschreitung der Grenze
in würdigster Weise vorbereiten wollten. Nun ich bekam einen tüchtigen Vor¬
geschmack von dem mich erwartenden russischen Leben, denn nach einer vier¬
stündigen Sitzung im tiefen Keller erschien mir die Oberwelt höchst merkwürdig,
und ich gondelte in einer für einen Rußlcmdreisendcn durchaus angemessenen
Verfassung weiter, vorläufig bis Stallupönen, um einer in der Nähe wohnenden
Familie meinen Besuch zu machen. Das schreckliche Blutgericht spukte uoch in
meinem Körper umher, und als nach dem Abendessen ein Getränk serviert
wurde, das man mit dem lieblichen Namen "Ostpreußischer Maitrank" benennt,
da fühlte ich eine große Sehnsucht nach meinem großen Himmelbette, worin
nach Erzählung der Hausfrau vor Jahren der nachmalige Kaiser Friedrich als
Kronprinz mehrere Nächte geschlafen hatte.

Am andern Mittag fuhr ich mit dem Schnellzug der kaum eine Meile
entfernt liegenden preußischen Grenzstation Eydtkuhnen zu; die Sonne schien
auch hier schon warm vom klaren Frühlingshimmel, hell glänzten die roten
Ziegeldächer des freundlichen Städtchens, und auf dem saubern Bahnhofe machte
alles einen friedlichen Eindruck, denn die bewaffnete Macht wurde nur durch
einen einzigen schon ziemlich alten Gendarmen repräsentiert. Unser Zug war
schwach besetzt, deutsche Passagiere schienen außer mir nicht vorhanden zu sein,
denn ich hörte nur Russisch und Französisch sprechen. Man hatte mir gesagt,
daß das Betreten des russischen Reichs allen Fremden wie der Eintritt in eine
neue Welt erschiene, und neugierig stand ich am Fenster, als sich der Zug nach
zehn Minuten langsam in Bewegung setzte. Bald wurde das nur einige hundert
Schritt entfernt liegende Grenzflüßchen Passiert, dessen Übergang zwei russische
Soldaten in zerlumpten grauen Mänteln mit aufgepflanzten Bajonett bewachten,
und wenig Minuten später war Wirballen erreicht. Hier tat sich allerdings


Grenzboten II 1905 47


Reiseerinnerungen aus Rußland
von Wilhelm Gittermann

/KM!inige Jahre sind darüber hingegangen, daß ich mich endlich auf
wiederholte dringende Einladungen meiner russischen Freunde zu
einer Reise nach Se. Petersburg entschloß. Bei uns im südlichen
Deutschland erwachte in den ersten Märztagen die Natur schon
!aus dem Winterschlafe, Frühlingsahnung kam in das Land ge¬
zogen, und fröhlichen Herzens dampfte ich dem Norden zu in der Erwartung,
daß auch dort schon die schlimmste Eiszeit vorüber sein würde. In Königs¬
berg, der alten preußischen Krönungsstadt, gab es die erste längere Unter¬
brechung, denn auch hier warteten gute Freunde, die mich durch einen Trunk
im Blutgericht, dem altberühmten Weinkeller, wo sich die Königsberger ihr
Zipperlein und sonstige Gebrechen antrinken, auf die Überschreitung der Grenze
in würdigster Weise vorbereiten wollten. Nun ich bekam einen tüchtigen Vor¬
geschmack von dem mich erwartenden russischen Leben, denn nach einer vier¬
stündigen Sitzung im tiefen Keller erschien mir die Oberwelt höchst merkwürdig,
und ich gondelte in einer für einen Rußlcmdreisendcn durchaus angemessenen
Verfassung weiter, vorläufig bis Stallupönen, um einer in der Nähe wohnenden
Familie meinen Besuch zu machen. Das schreckliche Blutgericht spukte uoch in
meinem Körper umher, und als nach dem Abendessen ein Getränk serviert
wurde, das man mit dem lieblichen Namen „Ostpreußischer Maitrank" benennt,
da fühlte ich eine große Sehnsucht nach meinem großen Himmelbette, worin
nach Erzählung der Hausfrau vor Jahren der nachmalige Kaiser Friedrich als
Kronprinz mehrere Nächte geschlafen hatte.

Am andern Mittag fuhr ich mit dem Schnellzug der kaum eine Meile
entfernt liegenden preußischen Grenzstation Eydtkuhnen zu; die Sonne schien
auch hier schon warm vom klaren Frühlingshimmel, hell glänzten die roten
Ziegeldächer des freundlichen Städtchens, und auf dem saubern Bahnhofe machte
alles einen friedlichen Eindruck, denn die bewaffnete Macht wurde nur durch
einen einzigen schon ziemlich alten Gendarmen repräsentiert. Unser Zug war
schwach besetzt, deutsche Passagiere schienen außer mir nicht vorhanden zu sein,
denn ich hörte nur Russisch und Französisch sprechen. Man hatte mir gesagt,
daß das Betreten des russischen Reichs allen Fremden wie der Eintritt in eine
neue Welt erschiene, und neugierig stand ich am Fenster, als sich der Zug nach
zehn Minuten langsam in Bewegung setzte. Bald wurde das nur einige hundert
Schritt entfernt liegende Grenzflüßchen Passiert, dessen Übergang zwei russische
Soldaten in zerlumpten grauen Mänteln mit aufgepflanzten Bajonett bewachten,
und wenig Minuten später war Wirballen erreicht. Hier tat sich allerdings


Grenzboten II 1905 47
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[0373] [Abbildung] Reiseerinnerungen aus Rußland von Wilhelm Gittermann /KM!inige Jahre sind darüber hingegangen, daß ich mich endlich auf wiederholte dringende Einladungen meiner russischen Freunde zu einer Reise nach Se. Petersburg entschloß. Bei uns im südlichen Deutschland erwachte in den ersten Märztagen die Natur schon !aus dem Winterschlafe, Frühlingsahnung kam in das Land ge¬ zogen, und fröhlichen Herzens dampfte ich dem Norden zu in der Erwartung, daß auch dort schon die schlimmste Eiszeit vorüber sein würde. In Königs¬ berg, der alten preußischen Krönungsstadt, gab es die erste längere Unter¬ brechung, denn auch hier warteten gute Freunde, die mich durch einen Trunk im Blutgericht, dem altberühmten Weinkeller, wo sich die Königsberger ihr Zipperlein und sonstige Gebrechen antrinken, auf die Überschreitung der Grenze in würdigster Weise vorbereiten wollten. Nun ich bekam einen tüchtigen Vor¬ geschmack von dem mich erwartenden russischen Leben, denn nach einer vier¬ stündigen Sitzung im tiefen Keller erschien mir die Oberwelt höchst merkwürdig, und ich gondelte in einer für einen Rußlcmdreisendcn durchaus angemessenen Verfassung weiter, vorläufig bis Stallupönen, um einer in der Nähe wohnenden Familie meinen Besuch zu machen. Das schreckliche Blutgericht spukte uoch in meinem Körper umher, und als nach dem Abendessen ein Getränk serviert wurde, das man mit dem lieblichen Namen „Ostpreußischer Maitrank" benennt, da fühlte ich eine große Sehnsucht nach meinem großen Himmelbette, worin nach Erzählung der Hausfrau vor Jahren der nachmalige Kaiser Friedrich als Kronprinz mehrere Nächte geschlafen hatte. Am andern Mittag fuhr ich mit dem Schnellzug der kaum eine Meile entfernt liegenden preußischen Grenzstation Eydtkuhnen zu; die Sonne schien auch hier schon warm vom klaren Frühlingshimmel, hell glänzten die roten Ziegeldächer des freundlichen Städtchens, und auf dem saubern Bahnhofe machte alles einen friedlichen Eindruck, denn die bewaffnete Macht wurde nur durch einen einzigen schon ziemlich alten Gendarmen repräsentiert. Unser Zug war schwach besetzt, deutsche Passagiere schienen außer mir nicht vorhanden zu sein, denn ich hörte nur Russisch und Französisch sprechen. Man hatte mir gesagt, daß das Betreten des russischen Reichs allen Fremden wie der Eintritt in eine neue Welt erschiene, und neugierig stand ich am Fenster, als sich der Zug nach zehn Minuten langsam in Bewegung setzte. Bald wurde das nur einige hundert Schritt entfernt liegende Grenzflüßchen Passiert, dessen Übergang zwei russische Soldaten in zerlumpten grauen Mänteln mit aufgepflanzten Bajonett bewachten, und wenig Minuten später war Wirballen erreicht. Hier tat sich allerdings Grenzboten II 1905 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/373>, abgerufen am 07.05.2024.