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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Wolkenkuckucksheim

wollen. Wie oft verbirgt sich hinter diesem Vorwande der Widerwille, in
Regionen hinabzusteigen, deren Anschauungen und Gepflogenheiten unserm
Empfinden ein Mißbehagen einflößen! Dieser ästhetischen Bequemlichkeit muß
man mit Bethmann-Hollweg das alte Wort entgegensetzen: nidil liunrani a, ins
alisnurri xuto. Wer die edle Vorurteilslosigkeit dieses Ausspruchs im tiefsten
Grunde erfaßt und in sich selbst verwirklicht, der wird leicht die Brücke zu den
scheinbar verstockten Herzen finden- Es ist soziale Kleinarbeit, die unauffällig,
ohne zur Schau getragne Absicht, die verstimmt, auch ohne Schablone, nur
wie die Mannigfaltigkeit des Lebens die Gelegenheit gibt, human, aber ohne
gravitätische Herablassung getan sein will.

Wer ernstlich über diese Dinge nachdenkt, muß erkennen, wie unendlich
viel auf diese Weise geschehen könnte, und wie wenig, verhältnismäßig zum
mindesten, in Wirklichkeit geschieht. Darum ist es dankenswert, wenn von
weithin sichtbarer Stelle mit überzeugender Wärme darauf hingewiesen wird.
Jeder sollte an diesem Werke mitarbeiten, denn jeder, wenn er nur will, hat
die Möglichkeit dazu. Und auch der schlichteste, aber ehrliche Mitarbeiter darf die
Genugtuung empfinden, für die körperliche und geistige Gesundheit der Einzelnen
und des ganzen Volkes mehr getan zu haben als mancher, der in hochmütigem
Dünkel für alles soziale Weh der Menschheit die erlösende wissenschaftliche
Formel gefunden zu haben behauptet.




Wolkenkuckucksheim
Aus der bibliothekarischen Praxis

i cum jemand den Ast abzusägen versucht, auf dem er sitzt, so
macht das in der Regel auf den Zuschauer einen tragikomischen
Eindruck; wenn es ihm aber trotz aller Mühe durchaus nicht ge¬
lingen will, so überwiegt die Komik. Das wird der Fall sein, wenn
I wir einen Vorschlag prüfen, der im November vorigen Jahres
auftauchte, und den eigentlich niemand ernst nehmen sollte. Es handelt sich
nämlich um den Vorschlag einer "Zentralisierung aller Katalogarbeit" (zunächst
der preußischen Staatsbibliotheken), den der Breslauer Bibliothekdirektor
Erman, der verdienstvolle Mitbegründer des Vereins deutscher Bibliothekare,
im Zentralblatt für Bibliothekswesen 1904, S. 481 bis 491 veröffentlicht hat,
zu dem sich in den folgenden Heften schon ein halbes Dutzend Fachgenossen
geäußert hat, und der obendrein auf der nächsten Bibliothekarversammlung in
Posen zu Pfingsten dieses Jahres zur Erörterung gestellt ist. Hoffentlich läßt
sich dort die Mehrheit nicht darauf ein, an dem vergeblichen Astabsägen mit¬
zuhelfen. Denn anders kann und darf man den Vorschlag nicht bezeichnen,
der in seinen letzten Konsequenzen wissenschaftlich gebildete Bibliothekare gänz¬
lich überflüssig macht, da die Hauptarbeit besser von gelehrten Spezialisten für
jedes einzelne Wissenschaftsgebiet geleistet werden kann. Der Geschäftsgang,


Wolkenkuckucksheim

wollen. Wie oft verbirgt sich hinter diesem Vorwande der Widerwille, in
Regionen hinabzusteigen, deren Anschauungen und Gepflogenheiten unserm
Empfinden ein Mißbehagen einflößen! Dieser ästhetischen Bequemlichkeit muß
man mit Bethmann-Hollweg das alte Wort entgegensetzen: nidil liunrani a, ins
alisnurri xuto. Wer die edle Vorurteilslosigkeit dieses Ausspruchs im tiefsten
Grunde erfaßt und in sich selbst verwirklicht, der wird leicht die Brücke zu den
scheinbar verstockten Herzen finden- Es ist soziale Kleinarbeit, die unauffällig,
ohne zur Schau getragne Absicht, die verstimmt, auch ohne Schablone, nur
wie die Mannigfaltigkeit des Lebens die Gelegenheit gibt, human, aber ohne
gravitätische Herablassung getan sein will.

Wer ernstlich über diese Dinge nachdenkt, muß erkennen, wie unendlich
viel auf diese Weise geschehen könnte, und wie wenig, verhältnismäßig zum
mindesten, in Wirklichkeit geschieht. Darum ist es dankenswert, wenn von
weithin sichtbarer Stelle mit überzeugender Wärme darauf hingewiesen wird.
Jeder sollte an diesem Werke mitarbeiten, denn jeder, wenn er nur will, hat
die Möglichkeit dazu. Und auch der schlichteste, aber ehrliche Mitarbeiter darf die
Genugtuung empfinden, für die körperliche und geistige Gesundheit der Einzelnen
und des ganzen Volkes mehr getan zu haben als mancher, der in hochmütigem
Dünkel für alles soziale Weh der Menschheit die erlösende wissenschaftliche
Formel gefunden zu haben behauptet.




Wolkenkuckucksheim
Aus der bibliothekarischen Praxis

i cum jemand den Ast abzusägen versucht, auf dem er sitzt, so
macht das in der Regel auf den Zuschauer einen tragikomischen
Eindruck; wenn es ihm aber trotz aller Mühe durchaus nicht ge¬
lingen will, so überwiegt die Komik. Das wird der Fall sein, wenn
I wir einen Vorschlag prüfen, der im November vorigen Jahres
auftauchte, und den eigentlich niemand ernst nehmen sollte. Es handelt sich
nämlich um den Vorschlag einer „Zentralisierung aller Katalogarbeit" (zunächst
der preußischen Staatsbibliotheken), den der Breslauer Bibliothekdirektor
Erman, der verdienstvolle Mitbegründer des Vereins deutscher Bibliothekare,
im Zentralblatt für Bibliothekswesen 1904, S. 481 bis 491 veröffentlicht hat,
zu dem sich in den folgenden Heften schon ein halbes Dutzend Fachgenossen
geäußert hat, und der obendrein auf der nächsten Bibliothekarversammlung in
Posen zu Pfingsten dieses Jahres zur Erörterung gestellt ist. Hoffentlich läßt
sich dort die Mehrheit nicht darauf ein, an dem vergeblichen Astabsägen mit¬
zuhelfen. Denn anders kann und darf man den Vorschlag nicht bezeichnen,
der in seinen letzten Konsequenzen wissenschaftlich gebildete Bibliothekare gänz¬
lich überflüssig macht, da die Hauptarbeit besser von gelehrten Spezialisten für
jedes einzelne Wissenschaftsgebiet geleistet werden kann. Der Geschäftsgang,


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[0476] Wolkenkuckucksheim wollen. Wie oft verbirgt sich hinter diesem Vorwande der Widerwille, in Regionen hinabzusteigen, deren Anschauungen und Gepflogenheiten unserm Empfinden ein Mißbehagen einflößen! Dieser ästhetischen Bequemlichkeit muß man mit Bethmann-Hollweg das alte Wort entgegensetzen: nidil liunrani a, ins alisnurri xuto. Wer die edle Vorurteilslosigkeit dieses Ausspruchs im tiefsten Grunde erfaßt und in sich selbst verwirklicht, der wird leicht die Brücke zu den scheinbar verstockten Herzen finden- Es ist soziale Kleinarbeit, die unauffällig, ohne zur Schau getragne Absicht, die verstimmt, auch ohne Schablone, nur wie die Mannigfaltigkeit des Lebens die Gelegenheit gibt, human, aber ohne gravitätische Herablassung getan sein will. Wer ernstlich über diese Dinge nachdenkt, muß erkennen, wie unendlich viel auf diese Weise geschehen könnte, und wie wenig, verhältnismäßig zum mindesten, in Wirklichkeit geschieht. Darum ist es dankenswert, wenn von weithin sichtbarer Stelle mit überzeugender Wärme darauf hingewiesen wird. Jeder sollte an diesem Werke mitarbeiten, denn jeder, wenn er nur will, hat die Möglichkeit dazu. Und auch der schlichteste, aber ehrliche Mitarbeiter darf die Genugtuung empfinden, für die körperliche und geistige Gesundheit der Einzelnen und des ganzen Volkes mehr getan zu haben als mancher, der in hochmütigem Dünkel für alles soziale Weh der Menschheit die erlösende wissenschaftliche Formel gefunden zu haben behauptet. Wolkenkuckucksheim Aus der bibliothekarischen Praxis i cum jemand den Ast abzusägen versucht, auf dem er sitzt, so macht das in der Regel auf den Zuschauer einen tragikomischen Eindruck; wenn es ihm aber trotz aller Mühe durchaus nicht ge¬ lingen will, so überwiegt die Komik. Das wird der Fall sein, wenn I wir einen Vorschlag prüfen, der im November vorigen Jahres auftauchte, und den eigentlich niemand ernst nehmen sollte. Es handelt sich nämlich um den Vorschlag einer „Zentralisierung aller Katalogarbeit" (zunächst der preußischen Staatsbibliotheken), den der Breslauer Bibliothekdirektor Erman, der verdienstvolle Mitbegründer des Vereins deutscher Bibliothekare, im Zentralblatt für Bibliothekswesen 1904, S. 481 bis 491 veröffentlicht hat, zu dem sich in den folgenden Heften schon ein halbes Dutzend Fachgenossen geäußert hat, und der obendrein auf der nächsten Bibliothekarversammlung in Posen zu Pfingsten dieses Jahres zur Erörterung gestellt ist. Hoffentlich läßt sich dort die Mehrheit nicht darauf ein, an dem vergeblichen Astabsägen mit¬ zuhelfen. Denn anders kann und darf man den Vorschlag nicht bezeichnen, der in seinen letzten Konsequenzen wissenschaftlich gebildete Bibliothekare gänz¬ lich überflüssig macht, da die Hauptarbeit besser von gelehrten Spezialisten für jedes einzelne Wissenschaftsgebiet geleistet werden kann. Der Geschäftsgang,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/476>, abgerufen am 08.05.2024.