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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli lW5
George Lleinow vonin
(Fortsetzung)
Z. Die bürgerlichen Fortschrittsparteien

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ez^)lie bürgerlichen Fortschrittsparteien haben sich abseits und unab-
I hängig von den Sozialisten entwickelt. Es ist mir kein einziger
Fall bekannt, wo sich ein Sozialist zu einem bürgerlichen Demo¬
kraten durchgemausert hätte, wogegen ich unzählige Personen vor
I Augen habe, die aus ruhigen Demokraten revolutionäre Sozia¬
listen geworden sind. Die ersten Anfänge der Bürgerparteien liegen in der
alten Richtung der 8avg,ÄniKi; in den sechziger Jahren traten sie zum erstenmal
reformatorisch hervor, und seit der Einführung der Selbstverwaltung sind bei
ihnen zwei bis heute dauernd getrennt marschierende Kolonnen zu berücksichtigen:
die der wirklichen Intelligenz und daraus hervorgegangen und durch liberale
Gutsbesitzer ergänzt die der Sjemstwo.




In meinen Betrachtungen nehme ich die Sjemstwo vorweg, weil sie als
politische Organisation früher auf dem heutigen Kampfplatz erschien als die
Intelligenz. Die Sjemstwo, vorwiegend Repräsentanten der gebildeten und
der besitzenden Landbevölkerung, sind, wenn wir von ihrem Jahrzehnte währenden,
in den Kanzleien geführten Kampf gegen die Bureaukratie absehen wollen, zur
offnen Opposition gegen die Negierung erst getrieben worden durch das Ver¬
halten der Negierung seit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten. Erst
unter Plehwe kam es zum offnen Bruch.

Sypjagin und Plehwe begnügten sich nicht mehr damit, die Institution
der Sjemstwo als solche zu bedrängen und zu bevormunden, sie konzentrierter
vielmehr ihre ganze Tätigkeit darauf, einzelne ihnen unbequeme Persönlich¬
keiten aus den Sjemstwo zu vertreiben. Dadurch verletzten sie aber die Eitelkeit
der ganzen Gesellschaft. Wie unangebracht solches Vorgehn war, ergibt sich
schon ganz allein aus dem Umstände, daß die Zusammensetzung der Sjemstwo
seit dem Wahlgesetz von 1890 schon so konservativ garantiert war, wie
das in Rußland überhaupt nur möglich sein konnte. Die Grundlage des
Gesetzes beruhte einmal in der Vorschrift, daß nur Besitzer von mindestens
dreihundert Hektaren Land zu Abgeordneten gewählt werden konnten, und
zweitens in der Bestimmung, daß sämtliche Adelsmarschälle des Gouvernements
so iz>80 auch Landschaftsvertreter sein mußten. Wenn die Regierung selbst
mit einer solchen Körperschaft nicht auszukommen vermochte, so ist das meines
Erachtens trotz allen Fehlern, die die Sjemstwo gemacht haben, trotz manchen




Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli lW5
George Lleinow vonin
(Fortsetzung)
Z. Die bürgerlichen Fortschrittsparteien

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ez^)lie bürgerlichen Fortschrittsparteien haben sich abseits und unab-
I hängig von den Sozialisten entwickelt. Es ist mir kein einziger
Fall bekannt, wo sich ein Sozialist zu einem bürgerlichen Demo¬
kraten durchgemausert hätte, wogegen ich unzählige Personen vor
I Augen habe, die aus ruhigen Demokraten revolutionäre Sozia¬
listen geworden sind. Die ersten Anfänge der Bürgerparteien liegen in der
alten Richtung der 8avg,ÄniKi; in den sechziger Jahren traten sie zum erstenmal
reformatorisch hervor, und seit der Einführung der Selbstverwaltung sind bei
ihnen zwei bis heute dauernd getrennt marschierende Kolonnen zu berücksichtigen:
die der wirklichen Intelligenz und daraus hervorgegangen und durch liberale
Gutsbesitzer ergänzt die der Sjemstwo.




In meinen Betrachtungen nehme ich die Sjemstwo vorweg, weil sie als
politische Organisation früher auf dem heutigen Kampfplatz erschien als die
Intelligenz. Die Sjemstwo, vorwiegend Repräsentanten der gebildeten und
der besitzenden Landbevölkerung, sind, wenn wir von ihrem Jahrzehnte währenden,
in den Kanzleien geführten Kampf gegen die Bureaukratie absehen wollen, zur
offnen Opposition gegen die Negierung erst getrieben worden durch das Ver¬
halten der Negierung seit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten. Erst
unter Plehwe kam es zum offnen Bruch.

Sypjagin und Plehwe begnügten sich nicht mehr damit, die Institution
der Sjemstwo als solche zu bedrängen und zu bevormunden, sie konzentrierter
vielmehr ihre ganze Tätigkeit darauf, einzelne ihnen unbequeme Persönlich¬
keiten aus den Sjemstwo zu vertreiben. Dadurch verletzten sie aber die Eitelkeit
der ganzen Gesellschaft. Wie unangebracht solches Vorgehn war, ergibt sich
schon ganz allein aus dem Umstände, daß die Zusammensetzung der Sjemstwo
seit dem Wahlgesetz von 1890 schon so konservativ garantiert war, wie
das in Rußland überhaupt nur möglich sein konnte. Die Grundlage des
Gesetzes beruhte einmal in der Vorschrift, daß nur Besitzer von mindestens
dreihundert Hektaren Land zu Abgeordneten gewählt werden konnten, und
zweitens in der Bestimmung, daß sämtliche Adelsmarschälle des Gouvernements
so iz>80 auch Landschaftsvertreter sein mußten. Wenn die Regierung selbst
mit einer solchen Körperschaft nicht auszukommen vermochte, so ist das meines
Erachtens trotz allen Fehlern, die die Sjemstwo gemacht haben, trotz manchen


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[0531] [Abbildung] Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli lW5 George Lleinow vonin (Fortsetzung) Z. Die bürgerlichen Fortschrittsparteien «' F ez^)lie bürgerlichen Fortschrittsparteien haben sich abseits und unab- I hängig von den Sozialisten entwickelt. Es ist mir kein einziger Fall bekannt, wo sich ein Sozialist zu einem bürgerlichen Demo¬ kraten durchgemausert hätte, wogegen ich unzählige Personen vor I Augen habe, die aus ruhigen Demokraten revolutionäre Sozia¬ listen geworden sind. Die ersten Anfänge der Bürgerparteien liegen in der alten Richtung der 8avg,ÄniKi; in den sechziger Jahren traten sie zum erstenmal reformatorisch hervor, und seit der Einführung der Selbstverwaltung sind bei ihnen zwei bis heute dauernd getrennt marschierende Kolonnen zu berücksichtigen: die der wirklichen Intelligenz und daraus hervorgegangen und durch liberale Gutsbesitzer ergänzt die der Sjemstwo. In meinen Betrachtungen nehme ich die Sjemstwo vorweg, weil sie als politische Organisation früher auf dem heutigen Kampfplatz erschien als die Intelligenz. Die Sjemstwo, vorwiegend Repräsentanten der gebildeten und der besitzenden Landbevölkerung, sind, wenn wir von ihrem Jahrzehnte währenden, in den Kanzleien geführten Kampf gegen die Bureaukratie absehen wollen, zur offnen Opposition gegen die Negierung erst getrieben worden durch das Ver¬ halten der Negierung seit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten. Erst unter Plehwe kam es zum offnen Bruch. Sypjagin und Plehwe begnügten sich nicht mehr damit, die Institution der Sjemstwo als solche zu bedrängen und zu bevormunden, sie konzentrierter vielmehr ihre ganze Tätigkeit darauf, einzelne ihnen unbequeme Persönlich¬ keiten aus den Sjemstwo zu vertreiben. Dadurch verletzten sie aber die Eitelkeit der ganzen Gesellschaft. Wie unangebracht solches Vorgehn war, ergibt sich schon ganz allein aus dem Umstände, daß die Zusammensetzung der Sjemstwo seit dem Wahlgesetz von 1890 schon so konservativ garantiert war, wie das in Rußland überhaupt nur möglich sein konnte. Die Grundlage des Gesetzes beruhte einmal in der Vorschrift, daß nur Besitzer von mindestens dreihundert Hektaren Land zu Abgeordneten gewählt werden konnten, und zweitens in der Bestimmung, daß sämtliche Adelsmarschälle des Gouvernements so iz>80 auch Landschaftsvertreter sein mußten. Wenn die Regierung selbst mit einer solchen Körperschaft nicht auszukommen vermochte, so ist das meines Erachtens trotz allen Fehlern, die die Sjemstwo gemacht haben, trotz manchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/531>, abgerufen am 02.05.2024.