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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Andrerseits muß der Führer aber auch lernen, ungesäumt da einzugreifen, wo
ein offenbares Mißverständnis seine Absichten zu gefährden droht. Diese
Friktionen überwinden lernt nur der, der mitten darin steht. Dafür ist das
Manöver unersetzlich.




Pascal

ivntaigne hat noch altmodisches Französisch geschrieben. Das
heutige findet man zuerst bei Corneille, Moliere, Pascal,
Larochefoucauld und Lafontaine. Mit diesen pflegt die Aus¬
wahl von Musterstücken in unsern Schullesebüchern zu beginnen.
I Und da von den Werken der genannten drei Prosaiker Pascals
Pwvinzialbriefe zuerst erschienen sind, so haben sie ohne Zweifel in der Ent¬
wicklung der französischen Sprache Epoche gemacht; doch ist es wohl etwas
zu stark ausgedrückt, wenn Bruno von Herber-Rohow in seiner deutschen
Ausgabe von Pascals Gedanken (Leipzig, Eugen Diederichs, 1905) meint,
Pascal nehme in Frankreichs Literaturgeschichte dieselbe Stellung ein wie
Luther in der deutschen. An Popularität werden ja seine Jesuitenbriefe den
Reform- und Streitschriften Luthers gleichgekommen sein (die nach seinem Tode
herausgegebnen ?su8öW konnten ihrer Natur nach keine große Verbreitung
finden), aber was will die eine satirische Streitschrift bedeuten gegen die
deutsche Bibel und die ganze Bibliothek, die Luther außerdem noch geschaffen
hat! Immerhin bleibt uns Pascal auch literarisch interessant, in höherm
Grade freilich als Ncligionsphilvsoph und Jesuitengegner. Es sind Fragen
der Christenheit, der Menschheit, die der geniale Mathematiker zu beantworten
sucht, nicht Fragen eines vergänglichen Zeitinteresses, wie Rudolf Eucken her¬
vorhebt, der eine "Einführung in Pascal" zu der deutschen Ausgabe der Ge¬
danken beigesteuert hat. Die Art und Weise allerdings, wie Pascal diese
Fragen behandelt, ist unsrer heutigen Zeit fremd. Im sechzehnten und im
siebzehnten Jahrhundert war der Glaube an Teufel und Hölle mächtig, was
sich aus dem Umstand erklärt, daß überall Scheiterhaufen lohten, und daß
die greuliche sogenannte Justiz und die barbarische Kriegsart dem Volke überall
Höllenszenen vorführten. Wer darum Ursache zu Gewissensangst zu haben
glaubte, bei dem steigerte sie sich leicht zum Wahnsinn, oder sie umhüllte
wenigstens sein ganzes Gemüt mit Düsterkeit. Und in den feinern Seelen mußte
der Anblick der Menschen, die diese Höllenszenen aufführten, Abscheu vor der
Menschheit erregen. Im Jahre 1778, wo schon die Humanität zum Durchbruch
gekommen war, schrieb der Herzog von Larochefoucauld, den 1789 ein Steinwurf
getötet hat, an Adam Smith einen Brief, worin er seines Großvaters pessi¬
mistische Beurteilung der Menschennatur entschuldigt: der Verfasser der Maximen
habe die Menschen vorzugsweise bei Hofe und im Bürgerkriege beobachtet, also
auf zwei Schauplätzen, in denen sie ihre schlechtesten Eigenschaften zu entfalten
pflegen. Pascal hatte kein andres Beobachtungsmaterial, und dazu kam samt


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Andrerseits muß der Führer aber auch lernen, ungesäumt da einzugreifen, wo
ein offenbares Mißverständnis seine Absichten zu gefährden droht. Diese
Friktionen überwinden lernt nur der, der mitten darin steht. Dafür ist das
Manöver unersetzlich.




Pascal

ivntaigne hat noch altmodisches Französisch geschrieben. Das
heutige findet man zuerst bei Corneille, Moliere, Pascal,
Larochefoucauld und Lafontaine. Mit diesen pflegt die Aus¬
wahl von Musterstücken in unsern Schullesebüchern zu beginnen.
I Und da von den Werken der genannten drei Prosaiker Pascals
Pwvinzialbriefe zuerst erschienen sind, so haben sie ohne Zweifel in der Ent¬
wicklung der französischen Sprache Epoche gemacht; doch ist es wohl etwas
zu stark ausgedrückt, wenn Bruno von Herber-Rohow in seiner deutschen
Ausgabe von Pascals Gedanken (Leipzig, Eugen Diederichs, 1905) meint,
Pascal nehme in Frankreichs Literaturgeschichte dieselbe Stellung ein wie
Luther in der deutschen. An Popularität werden ja seine Jesuitenbriefe den
Reform- und Streitschriften Luthers gleichgekommen sein (die nach seinem Tode
herausgegebnen ?su8öW konnten ihrer Natur nach keine große Verbreitung
finden), aber was will die eine satirische Streitschrift bedeuten gegen die
deutsche Bibel und die ganze Bibliothek, die Luther außerdem noch geschaffen
hat! Immerhin bleibt uns Pascal auch literarisch interessant, in höherm
Grade freilich als Ncligionsphilvsoph und Jesuitengegner. Es sind Fragen
der Christenheit, der Menschheit, die der geniale Mathematiker zu beantworten
sucht, nicht Fragen eines vergänglichen Zeitinteresses, wie Rudolf Eucken her¬
vorhebt, der eine „Einführung in Pascal" zu der deutschen Ausgabe der Ge¬
danken beigesteuert hat. Die Art und Weise allerdings, wie Pascal diese
Fragen behandelt, ist unsrer heutigen Zeit fremd. Im sechzehnten und im
siebzehnten Jahrhundert war der Glaube an Teufel und Hölle mächtig, was
sich aus dem Umstand erklärt, daß überall Scheiterhaufen lohten, und daß
die greuliche sogenannte Justiz und die barbarische Kriegsart dem Volke überall
Höllenszenen vorführten. Wer darum Ursache zu Gewissensangst zu haben
glaubte, bei dem steigerte sie sich leicht zum Wahnsinn, oder sie umhüllte
wenigstens sein ganzes Gemüt mit Düsterkeit. Und in den feinern Seelen mußte
der Anblick der Menschen, die diese Höllenszenen aufführten, Abscheu vor der
Menschheit erregen. Im Jahre 1778, wo schon die Humanität zum Durchbruch
gekommen war, schrieb der Herzog von Larochefoucauld, den 1789 ein Steinwurf
getötet hat, an Adam Smith einen Brief, worin er seines Großvaters pessi¬
mistische Beurteilung der Menschennatur entschuldigt: der Verfasser der Maximen
habe die Menschen vorzugsweise bei Hofe und im Bürgerkriege beobachtet, also
auf zwei Schauplätzen, in denen sie ihre schlechtesten Eigenschaften zu entfalten
pflegen. Pascal hatte kein andres Beobachtungsmaterial, und dazu kam samt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/604>, abgerufen am 02.05.2024.