Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Historisch - dramatisches Fignrenkabinett

Pessimisten ist ein wunderliches Schauspiel. Auch ich halte eine Fortent¬
wicklung der Religion für wünschenswert, notwendig und möglich, aber nur
auf der bewährten Grundlage des Christentums.




Historisch - dramatisches Figurenkabinett

>el Gelegenheit der durch die hundertste Wiederkehr des Schillerschen
Todestages veranlaßten Besprechungen ist unter andern: auch die
! Frage erörtert worden, ob das deutsche Volk in seinen weitern
Kreisen mit Schiller bekannt und vertraut sei, und ob es also
!den großen Dichter auch in diesem Sinne den "seinen" nennen
dürfe. Statistische Erhebungen, durch die nachgewiesen worden ist, daß ein
großer Teil einer Nekrutenquote nur sehr dunkle, ja grundfalsche Begriffe von
Schillers Persönlichkeit und Werken gehabt hatte, haben mir, was diese
Gewissensfrage anlangt, wenig Eindruck gemacht, weil mir aus Erfahrung
bekannt ist, wie eng begrenzt manchenorts das Gebiet der geistigen Interessen
ist, für das der zwanzigjährigen männlichen Jugend eines Aushebungsbezirks
inmitten der Sorgen und der Vergnügungen des Alltagslebens Zeit und
Muße verbleibe". Ich bin vielmehr nach wie vor überzeugt, daß Schiller
nicht bloß für die weitesten Bolkskrcise der eigentliche deutsche Dichterfürst ist,
sondern auch, so unwahrscheinlich das einigen von uns vorkommen wird, der
Geschichtslehrer, dessen historisch-dramatische Figuren für viele von ihnen neben
Friedrich dem Großen, Napoleon und den Helden der Freiheitskriege den
einzigen Schatz geschichtlichen Wissens ausmachen, der ihnen zu Gebote steht.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß der Geschichtsunterricht in den Volks¬
schulen vernachlässigt werde, nur daß er es oft nicht dazu bringt, in den mit
so vielem andern beschäftigten und nicht immer mit sehr lebhafter Phantasie
begabten Köpfen Vorstellungen rege zu machen, die über die Exmnentage
hinaus andauern, während sich das den jungen Leuten auf der Bühne ent¬
gegentretende Bild in Verbindung mit den schon ohnehin im Volksmnnde
heimischen "geflügelten" Worten des Dichters nachhaltig einprägt.

Fiesco, Philipp der Zweite von Spanien, der den meisten freilich auch
durch Goethes Egmont näher gebrachte Herzog Alba, Tell, Wallenstein, die
Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Elisabeth von England und Lord
Burleigh sind unter diesen historisch-dramatischen Figuren die bekanntesten,
und zwar beherrscht die Schillersche Darstellung, auch wo sie aus dramatische"
Gründen von der geschichtlichen Tatsache abweicht, den Vorstellungskreis der
Menge so unbedingt, daß zum Beispiel in Friedland den Besuchern des
Gräflich Clam-Gallasschen Schlosses von dem Kastellan ein Bild der Prinzessin
Thekla von Friedland gezeigt wird, obgleich diese junge Dame bekanntlich
nie wo anders als in der Phantasie des Dichters und auf den Brettern, die


Historisch - dramatisches Fignrenkabinett

Pessimisten ist ein wunderliches Schauspiel. Auch ich halte eine Fortent¬
wicklung der Religion für wünschenswert, notwendig und möglich, aber nur
auf der bewährten Grundlage des Christentums.




Historisch - dramatisches Figurenkabinett

>el Gelegenheit der durch die hundertste Wiederkehr des Schillerschen
Todestages veranlaßten Besprechungen ist unter andern: auch die
! Frage erörtert worden, ob das deutsche Volk in seinen weitern
Kreisen mit Schiller bekannt und vertraut sei, und ob es also
!den großen Dichter auch in diesem Sinne den „seinen" nennen
dürfe. Statistische Erhebungen, durch die nachgewiesen worden ist, daß ein
großer Teil einer Nekrutenquote nur sehr dunkle, ja grundfalsche Begriffe von
Schillers Persönlichkeit und Werken gehabt hatte, haben mir, was diese
Gewissensfrage anlangt, wenig Eindruck gemacht, weil mir aus Erfahrung
bekannt ist, wie eng begrenzt manchenorts das Gebiet der geistigen Interessen
ist, für das der zwanzigjährigen männlichen Jugend eines Aushebungsbezirks
inmitten der Sorgen und der Vergnügungen des Alltagslebens Zeit und
Muße verbleibe». Ich bin vielmehr nach wie vor überzeugt, daß Schiller
nicht bloß für die weitesten Bolkskrcise der eigentliche deutsche Dichterfürst ist,
sondern auch, so unwahrscheinlich das einigen von uns vorkommen wird, der
Geschichtslehrer, dessen historisch-dramatische Figuren für viele von ihnen neben
Friedrich dem Großen, Napoleon und den Helden der Freiheitskriege den
einzigen Schatz geschichtlichen Wissens ausmachen, der ihnen zu Gebote steht.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß der Geschichtsunterricht in den Volks¬
schulen vernachlässigt werde, nur daß er es oft nicht dazu bringt, in den mit
so vielem andern beschäftigten und nicht immer mit sehr lebhafter Phantasie
begabten Köpfen Vorstellungen rege zu machen, die über die Exmnentage
hinaus andauern, während sich das den jungen Leuten auf der Bühne ent¬
gegentretende Bild in Verbindung mit den schon ohnehin im Volksmnnde
heimischen „geflügelten" Worten des Dichters nachhaltig einprägt.

Fiesco, Philipp der Zweite von Spanien, der den meisten freilich auch
durch Goethes Egmont näher gebrachte Herzog Alba, Tell, Wallenstein, die
Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Elisabeth von England und Lord
Burleigh sind unter diesen historisch-dramatischen Figuren die bekanntesten,
und zwar beherrscht die Schillersche Darstellung, auch wo sie aus dramatische«
Gründen von der geschichtlichen Tatsache abweicht, den Vorstellungskreis der
Menge so unbedingt, daß zum Beispiel in Friedland den Besuchern des
Gräflich Clam-Gallasschen Schlosses von dem Kastellan ein Bild der Prinzessin
Thekla von Friedland gezeigt wird, obgleich diese junge Dame bekanntlich
nie wo anders als in der Phantasie des Dichters und auf den Brettern, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0659" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/298178"/>
          <fw type="header" place="top"> Historisch - dramatisches Fignrenkabinett</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3406" prev="#ID_3405"> Pessimisten ist ein wunderliches Schauspiel. Auch ich halte eine Fortent¬<lb/>
wicklung der Religion für wünschenswert, notwendig und möglich, aber nur<lb/>
auf der bewährten Grundlage des Christentums.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Historisch - dramatisches Figurenkabinett</head><lb/>
          <p xml:id="ID_3407"> &gt;el Gelegenheit der durch die hundertste Wiederkehr des Schillerschen<lb/>
Todestages veranlaßten Besprechungen ist unter andern: auch die<lb/>
! Frage erörtert worden, ob das deutsche Volk in seinen weitern<lb/>
Kreisen mit Schiller bekannt und vertraut sei, und ob es also<lb/>
!den großen Dichter auch in diesem Sinne den &#x201E;seinen" nennen<lb/>
dürfe. Statistische Erhebungen, durch die nachgewiesen worden ist, daß ein<lb/>
großer Teil einer Nekrutenquote nur sehr dunkle, ja grundfalsche Begriffe von<lb/>
Schillers Persönlichkeit und Werken gehabt hatte, haben mir, was diese<lb/>
Gewissensfrage anlangt, wenig Eindruck gemacht, weil mir aus Erfahrung<lb/>
bekannt ist, wie eng begrenzt manchenorts das Gebiet der geistigen Interessen<lb/>
ist, für das der zwanzigjährigen männlichen Jugend eines Aushebungsbezirks<lb/>
inmitten der Sorgen und der Vergnügungen des Alltagslebens Zeit und<lb/>
Muße verbleibe». Ich bin vielmehr nach wie vor überzeugt, daß Schiller<lb/>
nicht bloß für die weitesten Bolkskrcise der eigentliche deutsche Dichterfürst ist,<lb/>
sondern auch, so unwahrscheinlich das einigen von uns vorkommen wird, der<lb/>
Geschichtslehrer, dessen historisch-dramatische Figuren für viele von ihnen neben<lb/>
Friedrich dem Großen, Napoleon und den Helden der Freiheitskriege den<lb/>
einzigen Schatz geschichtlichen Wissens ausmachen, der ihnen zu Gebote steht.<lb/>
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß der Geschichtsunterricht in den Volks¬<lb/>
schulen vernachlässigt werde, nur daß er es oft nicht dazu bringt, in den mit<lb/>
so vielem andern beschäftigten und nicht immer mit sehr lebhafter Phantasie<lb/>
begabten Köpfen Vorstellungen rege zu machen, die über die Exmnentage<lb/>
hinaus andauern, während sich das den jungen Leuten auf der Bühne ent¬<lb/>
gegentretende Bild in Verbindung mit den schon ohnehin im Volksmnnde<lb/>
heimischen &#x201E;geflügelten" Worten des Dichters nachhaltig einprägt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3408" next="#ID_3409"> Fiesco, Philipp der Zweite von Spanien, der den meisten freilich auch<lb/>
durch Goethes Egmont näher gebrachte Herzog Alba, Tell, Wallenstein, die<lb/>
Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Elisabeth von England und Lord<lb/>
Burleigh sind unter diesen historisch-dramatischen Figuren die bekanntesten,<lb/>
und zwar beherrscht die Schillersche Darstellung, auch wo sie aus dramatische«<lb/>
Gründen von der geschichtlichen Tatsache abweicht, den Vorstellungskreis der<lb/>
Menge so unbedingt, daß zum Beispiel in Friedland den Besuchern des<lb/>
Gräflich Clam-Gallasschen Schlosses von dem Kastellan ein Bild der Prinzessin<lb/>
Thekla von Friedland gezeigt wird, obgleich diese junge Dame bekanntlich<lb/>
nie wo anders als in der Phantasie des Dichters und auf den Brettern, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0659] Historisch - dramatisches Fignrenkabinett Pessimisten ist ein wunderliches Schauspiel. Auch ich halte eine Fortent¬ wicklung der Religion für wünschenswert, notwendig und möglich, aber nur auf der bewährten Grundlage des Christentums. Historisch - dramatisches Figurenkabinett >el Gelegenheit der durch die hundertste Wiederkehr des Schillerschen Todestages veranlaßten Besprechungen ist unter andern: auch die ! Frage erörtert worden, ob das deutsche Volk in seinen weitern Kreisen mit Schiller bekannt und vertraut sei, und ob es also !den großen Dichter auch in diesem Sinne den „seinen" nennen dürfe. Statistische Erhebungen, durch die nachgewiesen worden ist, daß ein großer Teil einer Nekrutenquote nur sehr dunkle, ja grundfalsche Begriffe von Schillers Persönlichkeit und Werken gehabt hatte, haben mir, was diese Gewissensfrage anlangt, wenig Eindruck gemacht, weil mir aus Erfahrung bekannt ist, wie eng begrenzt manchenorts das Gebiet der geistigen Interessen ist, für das der zwanzigjährigen männlichen Jugend eines Aushebungsbezirks inmitten der Sorgen und der Vergnügungen des Alltagslebens Zeit und Muße verbleibe». Ich bin vielmehr nach wie vor überzeugt, daß Schiller nicht bloß für die weitesten Bolkskrcise der eigentliche deutsche Dichterfürst ist, sondern auch, so unwahrscheinlich das einigen von uns vorkommen wird, der Geschichtslehrer, dessen historisch-dramatische Figuren für viele von ihnen neben Friedrich dem Großen, Napoleon und den Helden der Freiheitskriege den einzigen Schatz geschichtlichen Wissens ausmachen, der ihnen zu Gebote steht. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß der Geschichtsunterricht in den Volks¬ schulen vernachlässigt werde, nur daß er es oft nicht dazu bringt, in den mit so vielem andern beschäftigten und nicht immer mit sehr lebhafter Phantasie begabten Köpfen Vorstellungen rege zu machen, die über die Exmnentage hinaus andauern, während sich das den jungen Leuten auf der Bühne ent¬ gegentretende Bild in Verbindung mit den schon ohnehin im Volksmnnde heimischen „geflügelten" Worten des Dichters nachhaltig einprägt. Fiesco, Philipp der Zweite von Spanien, der den meisten freilich auch durch Goethes Egmont näher gebrachte Herzog Alba, Tell, Wallenstein, die Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Elisabeth von England und Lord Burleigh sind unter diesen historisch-dramatischen Figuren die bekanntesten, und zwar beherrscht die Schillersche Darstellung, auch wo sie aus dramatische« Gründen von der geschichtlichen Tatsache abweicht, den Vorstellungskreis der Menge so unbedingt, daß zum Beispiel in Friedland den Besuchern des Gräflich Clam-Gallasschen Schlosses von dem Kastellan ein Bild der Prinzessin Thekla von Friedland gezeigt wird, obgleich diese junge Dame bekanntlich nie wo anders als in der Phantasie des Dichters und auf den Brettern, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/659
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/659>, abgerufen am 03.05.2024.