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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Historisch - dramatisches Figurenkabinett

Begabung und ihrer Ziele besser verstehn, als was sie darüber zueinander und
voneinander gesagt haben.

Wo Schiller davon spricht, daß er mit dem Wallenstein in Goethes
Gebiet gerate, und in bescheidenster Weise zugibt, daß er neben ihm verlieren
werde, sagt er ein paar Zeilen weiter sehr richtig: "Man wird uns, wie ich
in meinen mutvollsten Augenblicken mir verspreche, verschieden spezifizieren,
aber unsre Arten einander nicht unterordnen, sondern unter einem höhern
idealischen Gattungsbegriff einander koordinieren." Und so könnte man den
Urteilen beider eine überaus treffende Charakterisierung nicht bloß ihrer beider¬
seitigen Vorzüge und Mängel, sondern weit allgemeiner der noch heute geltenden
idealsten Kunstpostulate entnehmen.

Es soll hier nur an Schillers Urteil über Goethes Egmont, das Muster
einer wohlwollenden, sachlichen, alle Vorzüge mit Bewunderung hervorhebenden,
das Prinzip mit klaren Worten Hinschreibenden Kritik, erinnert werden. Wo
Schiller die Bedenken hervorhebt, die ihm in einigen Punkten gegen die
Goethische Heldenfigur des Egmont beigegangen sind, sagt er von Klärchcn,
dessen meisterhafter Zeichnung das Drama drei Viertel seiner Popularität
verdankt, unter anderm auch folgendes: "Hätte die Einmischung dieser Liebes¬
angelegenheit dem Interesse wirklich Schaden getan, so wäre dieses doppelt
zu beklagen, da der Dichter noch obendrein der historischen Wahrheit Gewalt
antun mußte, um sie hervorzubringen. In der Geschichte nämlich war Egmont
verheiratet und hinterließ neun (andre sagen elf) Kinder, als er starb. Diesen
Umstand konnte der Dichter wissen und nicht wissen, wie es sein Interesse
mit sich brachte; aber er hätte ihn nicht vernachlässigen sollen, sobald er
Handlungen, welche natürliche Folgen davon waren, in sein Trauerspiel auf¬
nahm." Und etwas weiter unten gibt uus Schiller in gedrängtester Kürze
die Grenzen an, innerhalb deren der Dichter die historische Treue der drama¬
tischen Wirkung zum Opfer bringen darf, nachdem er auseinandergesetzt hat,
wie sich der geschichtliche Egmont durch die Rücksicht auf seine Einkünfte, die
von der Willkür Philipps des Zweiten abhängig, ihm aber zum standes¬
gemäßen Unterhalt seiner selbst und der Seinigen unentbehrlich waren, trotz
der ihm von Oranien klar gemachten Gefahr zum Verbleiben in den nieder¬
ländischen Provinzen gezwungen sah. "Und alles dieses, sagt er, kann er
noch außerdem erst nur auf Kosten der historischen Treue möglich machen,
die der dramatische Dichter allerdings hintansetzen kann, um das Interesse
seines Gegenstandes zu erheben, aber nicht um es zu schwächen." Wir werden
auf diesen Punkt zurückkommen müssen und uns überzeugen, daß Schiller dieser
Theorie jederzeit eingedenk war.

Die Beobachtung der Fälle, in denen Schiller nach obigem Grundsatze
von der geschichtlichen Tatsache abweichen zu müssen glaubte, ist aber auch
deshalb lehrreich, weil wir dabei an Beispielen erläutert sehen, was ein
Meister wie Schiller als der Bühnenwirkung günstig oder schädlich ansah.

Fiesco.

Ein jugendliches weibliches Gemüt könnte vielleicht bei ober¬
flächlicher Betrachtung den Fiesco für einen südländischen Egmont ansehen,
dem an Stelle der blonden Locken schwarze gewachsen sind, und glauben, da


Historisch - dramatisches Figurenkabinett

Begabung und ihrer Ziele besser verstehn, als was sie darüber zueinander und
voneinander gesagt haben.

Wo Schiller davon spricht, daß er mit dem Wallenstein in Goethes
Gebiet gerate, und in bescheidenster Weise zugibt, daß er neben ihm verlieren
werde, sagt er ein paar Zeilen weiter sehr richtig: „Man wird uns, wie ich
in meinen mutvollsten Augenblicken mir verspreche, verschieden spezifizieren,
aber unsre Arten einander nicht unterordnen, sondern unter einem höhern
idealischen Gattungsbegriff einander koordinieren." Und so könnte man den
Urteilen beider eine überaus treffende Charakterisierung nicht bloß ihrer beider¬
seitigen Vorzüge und Mängel, sondern weit allgemeiner der noch heute geltenden
idealsten Kunstpostulate entnehmen.

Es soll hier nur an Schillers Urteil über Goethes Egmont, das Muster
einer wohlwollenden, sachlichen, alle Vorzüge mit Bewunderung hervorhebenden,
das Prinzip mit klaren Worten Hinschreibenden Kritik, erinnert werden. Wo
Schiller die Bedenken hervorhebt, die ihm in einigen Punkten gegen die
Goethische Heldenfigur des Egmont beigegangen sind, sagt er von Klärchcn,
dessen meisterhafter Zeichnung das Drama drei Viertel seiner Popularität
verdankt, unter anderm auch folgendes: „Hätte die Einmischung dieser Liebes¬
angelegenheit dem Interesse wirklich Schaden getan, so wäre dieses doppelt
zu beklagen, da der Dichter noch obendrein der historischen Wahrheit Gewalt
antun mußte, um sie hervorzubringen. In der Geschichte nämlich war Egmont
verheiratet und hinterließ neun (andre sagen elf) Kinder, als er starb. Diesen
Umstand konnte der Dichter wissen und nicht wissen, wie es sein Interesse
mit sich brachte; aber er hätte ihn nicht vernachlässigen sollen, sobald er
Handlungen, welche natürliche Folgen davon waren, in sein Trauerspiel auf¬
nahm." Und etwas weiter unten gibt uus Schiller in gedrängtester Kürze
die Grenzen an, innerhalb deren der Dichter die historische Treue der drama¬
tischen Wirkung zum Opfer bringen darf, nachdem er auseinandergesetzt hat,
wie sich der geschichtliche Egmont durch die Rücksicht auf seine Einkünfte, die
von der Willkür Philipps des Zweiten abhängig, ihm aber zum standes¬
gemäßen Unterhalt seiner selbst und der Seinigen unentbehrlich waren, trotz
der ihm von Oranien klar gemachten Gefahr zum Verbleiben in den nieder¬
ländischen Provinzen gezwungen sah. „Und alles dieses, sagt er, kann er
noch außerdem erst nur auf Kosten der historischen Treue möglich machen,
die der dramatische Dichter allerdings hintansetzen kann, um das Interesse
seines Gegenstandes zu erheben, aber nicht um es zu schwächen." Wir werden
auf diesen Punkt zurückkommen müssen und uns überzeugen, daß Schiller dieser
Theorie jederzeit eingedenk war.

Die Beobachtung der Fälle, in denen Schiller nach obigem Grundsatze
von der geschichtlichen Tatsache abweichen zu müssen glaubte, ist aber auch
deshalb lehrreich, weil wir dabei an Beispielen erläutert sehen, was ein
Meister wie Schiller als der Bühnenwirkung günstig oder schädlich ansah.

Fiesco.

Ein jugendliches weibliches Gemüt könnte vielleicht bei ober¬
flächlicher Betrachtung den Fiesco für einen südländischen Egmont ansehen,
dem an Stelle der blonden Locken schwarze gewachsen sind, und glauben, da


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[0661] Historisch - dramatisches Figurenkabinett Begabung und ihrer Ziele besser verstehn, als was sie darüber zueinander und voneinander gesagt haben. Wo Schiller davon spricht, daß er mit dem Wallenstein in Goethes Gebiet gerate, und in bescheidenster Weise zugibt, daß er neben ihm verlieren werde, sagt er ein paar Zeilen weiter sehr richtig: „Man wird uns, wie ich in meinen mutvollsten Augenblicken mir verspreche, verschieden spezifizieren, aber unsre Arten einander nicht unterordnen, sondern unter einem höhern idealischen Gattungsbegriff einander koordinieren." Und so könnte man den Urteilen beider eine überaus treffende Charakterisierung nicht bloß ihrer beider¬ seitigen Vorzüge und Mängel, sondern weit allgemeiner der noch heute geltenden idealsten Kunstpostulate entnehmen. Es soll hier nur an Schillers Urteil über Goethes Egmont, das Muster einer wohlwollenden, sachlichen, alle Vorzüge mit Bewunderung hervorhebenden, das Prinzip mit klaren Worten Hinschreibenden Kritik, erinnert werden. Wo Schiller die Bedenken hervorhebt, die ihm in einigen Punkten gegen die Goethische Heldenfigur des Egmont beigegangen sind, sagt er von Klärchcn, dessen meisterhafter Zeichnung das Drama drei Viertel seiner Popularität verdankt, unter anderm auch folgendes: „Hätte die Einmischung dieser Liebes¬ angelegenheit dem Interesse wirklich Schaden getan, so wäre dieses doppelt zu beklagen, da der Dichter noch obendrein der historischen Wahrheit Gewalt antun mußte, um sie hervorzubringen. In der Geschichte nämlich war Egmont verheiratet und hinterließ neun (andre sagen elf) Kinder, als er starb. Diesen Umstand konnte der Dichter wissen und nicht wissen, wie es sein Interesse mit sich brachte; aber er hätte ihn nicht vernachlässigen sollen, sobald er Handlungen, welche natürliche Folgen davon waren, in sein Trauerspiel auf¬ nahm." Und etwas weiter unten gibt uus Schiller in gedrängtester Kürze die Grenzen an, innerhalb deren der Dichter die historische Treue der drama¬ tischen Wirkung zum Opfer bringen darf, nachdem er auseinandergesetzt hat, wie sich der geschichtliche Egmont durch die Rücksicht auf seine Einkünfte, die von der Willkür Philipps des Zweiten abhängig, ihm aber zum standes¬ gemäßen Unterhalt seiner selbst und der Seinigen unentbehrlich waren, trotz der ihm von Oranien klar gemachten Gefahr zum Verbleiben in den nieder¬ ländischen Provinzen gezwungen sah. „Und alles dieses, sagt er, kann er noch außerdem erst nur auf Kosten der historischen Treue möglich machen, die der dramatische Dichter allerdings hintansetzen kann, um das Interesse seines Gegenstandes zu erheben, aber nicht um es zu schwächen." Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen müssen und uns überzeugen, daß Schiller dieser Theorie jederzeit eingedenk war. Die Beobachtung der Fälle, in denen Schiller nach obigem Grundsatze von der geschichtlichen Tatsache abweichen zu müssen glaubte, ist aber auch deshalb lehrreich, weil wir dabei an Beispielen erläutert sehen, was ein Meister wie Schiller als der Bühnenwirkung günstig oder schädlich ansah. Fiesco. Ein jugendliches weibliches Gemüt könnte vielleicht bei ober¬ flächlicher Betrachtung den Fiesco für einen südländischen Egmont ansehen, dem an Stelle der blonden Locken schwarze gewachsen sind, und glauben, da

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/661>, abgerufen am 02.05.2024.