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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die österreichisch-ungarische Reichskrise
Julius Patzelt von in

WMM / Vesterreich-Ungarn hat seinen Ruf als Reich der Unwahrscheinlich-
keitcn wieder bewährt. Das Ministerium Fejervary, das seit
Monaten mit Wissen und Willen der Krone den Plan vorbereitet
hatte, die Macht der magyarischen Oligarchie durch eine Wahlreform
niederzuwerfen, fiel plötzlich, zwei Tage bevor es im ungarischen
Reichstage sein Programm entwickeln konnte. Aber noch mehr,
es fiel, ohne daß irgendein andrer Plan, wie die magyarische Opposition zu
brechen wäre, oder wie man sich mit ihr verstündigen könnte, vorhanden war.
Die Krone schien die Flagge schon zu streichen: die Führer der oppositionellen
Parteien des ungarischen Reichstags wurden in die Wiener Hofburg zum Kaiser
beschieden, und in der ungarischen Hauptstadt rechnete man schon damit, daß
in dieser Audienz ein Kompromiß angebahnt werde, der, wenn auch nicht der
Form nach, so doch in der Sache, die magyarisch-oppositionellen Forderungen
erfüllen werde; da trat wieder das Unerwartete ein: die Herren, die ans Buda¬
pest nach Wien gekommen waren, vernahmen aus dem Munde des Kaisers
nichts andres, als daß er fest entschlossen sei, auf seinem Standpunkt zu be¬
harren. Dieser rasche Szeneriewechsel deutet auf ganz außergewöhnliche Ver-
Hältnisse hin, die nur für die verständlich sind, die die Entwicklung der
ungarischen Krise genau verfolgt haben.

Der Punkt des Streites ist bekanntlich die Einführung der magyarischen
Kommandosprache bei den ungarländischen Regimentern und die Übertragung
der Majestätsrechte über den ungarischen Teil der Armee auf den ungarischen
Reichstag. Der Kaiser hat bisher allen darauf gerichteten Pressionen wider¬
standen, und wie aus seiner letzten Kundgebung hervorgeht, denkt er nicht
daran, nachzugeben. Aber dieser feste Wille trägt allein noch nicht die Bürg¬
schaft des Erfolgs in sich. Auch König Oskar von Schweden war fest ent¬
schlossen, in dem Streite mit Norwegen von dem, was er als im Interesse
seines Gesamtreichs notwendig erkannt hatte, uicht abzugehn. Als konsti¬
tutioneller Herrscher glaubte er sich jedoch auf den passiven Widerstand be¬
schränken zu müssen, bis eines schönen Tages das norwegische Storthing über
diesen Widerstand zur Tagesordnung hinwegging. Das war ein Ereignis,
dessen allgemeine Bedeutung noch immer unterschätzt wird.

Entthronungen sind auch früher vorgekommen, aber die Tatsache, daß sich
diesesmal ein so tiefer revolutionärer Eingriff ohne den üblichen Apparat eines
lärmenden Aufstandes vollzog, die Tatsache, daß man einen König seines Amtes
entsetzte, wie man sonst einen Gutsverwalter entläßt, und daß die europäische
Öffentlichkeit ohne aufzubrausen davou Akt nahm, diese Tatsachen bezeugen,
daß verbriefte Rechte allein nicht mehr den Bestand der Monarchien verbürgen,
sondern daß die persönliche Energie des Herrschers diese Rechte beständig ver-


Grenzbotcn III 1903 36


Die österreichisch-ungarische Reichskrise
Julius Patzelt von in

WMM / Vesterreich-Ungarn hat seinen Ruf als Reich der Unwahrscheinlich-
keitcn wieder bewährt. Das Ministerium Fejervary, das seit
Monaten mit Wissen und Willen der Krone den Plan vorbereitet
hatte, die Macht der magyarischen Oligarchie durch eine Wahlreform
niederzuwerfen, fiel plötzlich, zwei Tage bevor es im ungarischen
Reichstage sein Programm entwickeln konnte. Aber noch mehr,
es fiel, ohne daß irgendein andrer Plan, wie die magyarische Opposition zu
brechen wäre, oder wie man sich mit ihr verstündigen könnte, vorhanden war.
Die Krone schien die Flagge schon zu streichen: die Führer der oppositionellen
Parteien des ungarischen Reichstags wurden in die Wiener Hofburg zum Kaiser
beschieden, und in der ungarischen Hauptstadt rechnete man schon damit, daß
in dieser Audienz ein Kompromiß angebahnt werde, der, wenn auch nicht der
Form nach, so doch in der Sache, die magyarisch-oppositionellen Forderungen
erfüllen werde; da trat wieder das Unerwartete ein: die Herren, die ans Buda¬
pest nach Wien gekommen waren, vernahmen aus dem Munde des Kaisers
nichts andres, als daß er fest entschlossen sei, auf seinem Standpunkt zu be¬
harren. Dieser rasche Szeneriewechsel deutet auf ganz außergewöhnliche Ver-
Hältnisse hin, die nur für die verständlich sind, die die Entwicklung der
ungarischen Krise genau verfolgt haben.

Der Punkt des Streites ist bekanntlich die Einführung der magyarischen
Kommandosprache bei den ungarländischen Regimentern und die Übertragung
der Majestätsrechte über den ungarischen Teil der Armee auf den ungarischen
Reichstag. Der Kaiser hat bisher allen darauf gerichteten Pressionen wider¬
standen, und wie aus seiner letzten Kundgebung hervorgeht, denkt er nicht
daran, nachzugeben. Aber dieser feste Wille trägt allein noch nicht die Bürg¬
schaft des Erfolgs in sich. Auch König Oskar von Schweden war fest ent¬
schlossen, in dem Streite mit Norwegen von dem, was er als im Interesse
seines Gesamtreichs notwendig erkannt hatte, uicht abzugehn. Als konsti¬
tutioneller Herrscher glaubte er sich jedoch auf den passiven Widerstand be¬
schränken zu müssen, bis eines schönen Tages das norwegische Storthing über
diesen Widerstand zur Tagesordnung hinwegging. Das war ein Ereignis,
dessen allgemeine Bedeutung noch immer unterschätzt wird.

Entthronungen sind auch früher vorgekommen, aber die Tatsache, daß sich
diesesmal ein so tiefer revolutionärer Eingriff ohne den üblichen Apparat eines
lärmenden Aufstandes vollzog, die Tatsache, daß man einen König seines Amtes
entsetzte, wie man sonst einen Gutsverwalter entläßt, und daß die europäische
Öffentlichkeit ohne aufzubrausen davou Akt nahm, diese Tatsachen bezeugen,
daß verbriefte Rechte allein nicht mehr den Bestand der Monarchien verbürgen,
sondern daß die persönliche Energie des Herrschers diese Rechte beständig ver-


Grenzbotcn III 1903 36
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[0689] [Abbildung] Die österreichisch-ungarische Reichskrise Julius Patzelt von in WMM / Vesterreich-Ungarn hat seinen Ruf als Reich der Unwahrscheinlich- keitcn wieder bewährt. Das Ministerium Fejervary, das seit Monaten mit Wissen und Willen der Krone den Plan vorbereitet hatte, die Macht der magyarischen Oligarchie durch eine Wahlreform niederzuwerfen, fiel plötzlich, zwei Tage bevor es im ungarischen Reichstage sein Programm entwickeln konnte. Aber noch mehr, es fiel, ohne daß irgendein andrer Plan, wie die magyarische Opposition zu brechen wäre, oder wie man sich mit ihr verstündigen könnte, vorhanden war. Die Krone schien die Flagge schon zu streichen: die Führer der oppositionellen Parteien des ungarischen Reichstags wurden in die Wiener Hofburg zum Kaiser beschieden, und in der ungarischen Hauptstadt rechnete man schon damit, daß in dieser Audienz ein Kompromiß angebahnt werde, der, wenn auch nicht der Form nach, so doch in der Sache, die magyarisch-oppositionellen Forderungen erfüllen werde; da trat wieder das Unerwartete ein: die Herren, die ans Buda¬ pest nach Wien gekommen waren, vernahmen aus dem Munde des Kaisers nichts andres, als daß er fest entschlossen sei, auf seinem Standpunkt zu be¬ harren. Dieser rasche Szeneriewechsel deutet auf ganz außergewöhnliche Ver- Hältnisse hin, die nur für die verständlich sind, die die Entwicklung der ungarischen Krise genau verfolgt haben. Der Punkt des Streites ist bekanntlich die Einführung der magyarischen Kommandosprache bei den ungarländischen Regimentern und die Übertragung der Majestätsrechte über den ungarischen Teil der Armee auf den ungarischen Reichstag. Der Kaiser hat bisher allen darauf gerichteten Pressionen wider¬ standen, und wie aus seiner letzten Kundgebung hervorgeht, denkt er nicht daran, nachzugeben. Aber dieser feste Wille trägt allein noch nicht die Bürg¬ schaft des Erfolgs in sich. Auch König Oskar von Schweden war fest ent¬ schlossen, in dem Streite mit Norwegen von dem, was er als im Interesse seines Gesamtreichs notwendig erkannt hatte, uicht abzugehn. Als konsti¬ tutioneller Herrscher glaubte er sich jedoch auf den passiven Widerstand be¬ schränken zu müssen, bis eines schönen Tages das norwegische Storthing über diesen Widerstand zur Tagesordnung hinwegging. Das war ein Ereignis, dessen allgemeine Bedeutung noch immer unterschätzt wird. Entthronungen sind auch früher vorgekommen, aber die Tatsache, daß sich diesesmal ein so tiefer revolutionärer Eingriff ohne den üblichen Apparat eines lärmenden Aufstandes vollzog, die Tatsache, daß man einen König seines Amtes entsetzte, wie man sonst einen Gutsverwalter entläßt, und daß die europäische Öffentlichkeit ohne aufzubrausen davou Akt nahm, diese Tatsachen bezeugen, daß verbriefte Rechte allein nicht mehr den Bestand der Monarchien verbürgen, sondern daß die persönliche Energie des Herrschers diese Rechte beständig ver- Grenzbotcn III 1903 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/689>, abgerufen am 03.05.2024.