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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bourgeoisie zu erreichen, und sie rechnet dabei auf die Nachgiebigkeit der Regierung,
nicht auf gewalttätiger Umsturz. Und in der Tat, alle Hoffnung beruht offenbar
darauf, daß die reformfreundliche Strömung in der Umgebung des Zaren über die
Vertreter der brutalen Schreckensherrschaft, die den 22. Januar verschuldet haben,
die Oberhand behält. Erst wenn sich der Zar davon überzeugt, daß es in der
bisherigen Weise nicht weiter geht, daß die korrumpierte Bureaukratie, die in seinem
Namen Rußland regiert, es zugrunde richtet, und daß die gebildete Welt Rußlands sie
nicht mehr ertragen will, erst dann darf man auf eine friedliche Lösung der furcht¬
baren Krisis hoffen, in die das Reich hineingetrieben ist. Jedenfalls hat die russische
Autokratie in der bisherigen Form nach innen wie nach außen abgewirtschaftet,
so gut wie der französische Absolutismus vor der großen Revolution, denn keine
Staatsverfassung ist ans die Dauer haltbar, sobald sie den Überzeugungen und den
Bedürfnissen der Gebildeten widerspricht und von ihrem Glauben verlassen ist.
Vorläufig freilich scheinen die Machthaber von dieser Ansicht noch sehr weit entfernt
zu sein, denn sie arbeiten mit den alten Mitteln des Despotismus, mit Unterdrückung
der Presse, Haussuchungen, Verhaftung Verdächtiger und Vertuschung unliebsanier
Tatsachen weiter, sie führen den alte" Krieg gegen Symptome, wie jede unfähige
Regierung zu tun pflegt, und es ist wohl möglich, daß es ihnen so gelingt, der
Bewegung noch einmal äußerlich Herr zu werden, namentlich dann, wenn ihnen
ein Kriegserfolg doch noch zu Hilfe kommen sollte und den ausständigen Arbeitern
die Mittel ausgehen. Aber auf wie lange noch? Ist eine Idee auf solche Weise
einmal in das Volk eingedrungen, so verlangt sie Verwirklichung, das zeigt alle
Geschichte, vou der man in Rußland allerdings noch weniger lernen will als
anderwärts. Es ist ein Verhängnis, daß die Reformbewegung im Jnnern mit
einem schweren Kriege zusammenfällt, und es kennzeichnet die verzweiflungsvolle
Lage, daß die Russen, die eine innere Umgestaltung erstreben, den Sieg ihres
Vaterlandes über Japan kaum wünschen können, denn er würde die verhaßte
* wankende Autokratie befestigen.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Weib. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig





Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bourgeoisie zu erreichen, und sie rechnet dabei auf die Nachgiebigkeit der Regierung,
nicht auf gewalttätiger Umsturz. Und in der Tat, alle Hoffnung beruht offenbar
darauf, daß die reformfreundliche Strömung in der Umgebung des Zaren über die
Vertreter der brutalen Schreckensherrschaft, die den 22. Januar verschuldet haben,
die Oberhand behält. Erst wenn sich der Zar davon überzeugt, daß es in der
bisherigen Weise nicht weiter geht, daß die korrumpierte Bureaukratie, die in seinem
Namen Rußland regiert, es zugrunde richtet, und daß die gebildete Welt Rußlands sie
nicht mehr ertragen will, erst dann darf man auf eine friedliche Lösung der furcht¬
baren Krisis hoffen, in die das Reich hineingetrieben ist. Jedenfalls hat die russische
Autokratie in der bisherigen Form nach innen wie nach außen abgewirtschaftet,
so gut wie der französische Absolutismus vor der großen Revolution, denn keine
Staatsverfassung ist ans die Dauer haltbar, sobald sie den Überzeugungen und den
Bedürfnissen der Gebildeten widerspricht und von ihrem Glauben verlassen ist.
Vorläufig freilich scheinen die Machthaber von dieser Ansicht noch sehr weit entfernt
zu sein, denn sie arbeiten mit den alten Mitteln des Despotismus, mit Unterdrückung
der Presse, Haussuchungen, Verhaftung Verdächtiger und Vertuschung unliebsanier
Tatsachen weiter, sie führen den alte» Krieg gegen Symptome, wie jede unfähige
Regierung zu tun pflegt, und es ist wohl möglich, daß es ihnen so gelingt, der
Bewegung noch einmal äußerlich Herr zu werden, namentlich dann, wenn ihnen
ein Kriegserfolg doch noch zu Hilfe kommen sollte und den ausständigen Arbeitern
die Mittel ausgehen. Aber auf wie lange noch? Ist eine Idee auf solche Weise
einmal in das Volk eingedrungen, so verlangt sie Verwirklichung, das zeigt alle
Geschichte, vou der man in Rußland allerdings noch weniger lernen will als
anderwärts. Es ist ein Verhängnis, daß die Reformbewegung im Jnnern mit
einem schweren Kriege zusammenfällt, und es kennzeichnet die verzweiflungsvolle
Lage, daß die Russen, die eine innere Umgestaltung erstreben, den Sieg ihres
Vaterlandes über Japan kaum wünschen können, denn er würde die verhaßte
* wankende Autokratie befestigen.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Weib. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig





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[0308] Maßgebliches und Unmaßgebliches Bourgeoisie zu erreichen, und sie rechnet dabei auf die Nachgiebigkeit der Regierung, nicht auf gewalttätiger Umsturz. Und in der Tat, alle Hoffnung beruht offenbar darauf, daß die reformfreundliche Strömung in der Umgebung des Zaren über die Vertreter der brutalen Schreckensherrschaft, die den 22. Januar verschuldet haben, die Oberhand behält. Erst wenn sich der Zar davon überzeugt, daß es in der bisherigen Weise nicht weiter geht, daß die korrumpierte Bureaukratie, die in seinem Namen Rußland regiert, es zugrunde richtet, und daß die gebildete Welt Rußlands sie nicht mehr ertragen will, erst dann darf man auf eine friedliche Lösung der furcht¬ baren Krisis hoffen, in die das Reich hineingetrieben ist. Jedenfalls hat die russische Autokratie in der bisherigen Form nach innen wie nach außen abgewirtschaftet, so gut wie der französische Absolutismus vor der großen Revolution, denn keine Staatsverfassung ist ans die Dauer haltbar, sobald sie den Überzeugungen und den Bedürfnissen der Gebildeten widerspricht und von ihrem Glauben verlassen ist. Vorläufig freilich scheinen die Machthaber von dieser Ansicht noch sehr weit entfernt zu sein, denn sie arbeiten mit den alten Mitteln des Despotismus, mit Unterdrückung der Presse, Haussuchungen, Verhaftung Verdächtiger und Vertuschung unliebsanier Tatsachen weiter, sie führen den alte» Krieg gegen Symptome, wie jede unfähige Regierung zu tun pflegt, und es ist wohl möglich, daß es ihnen so gelingt, der Bewegung noch einmal äußerlich Herr zu werden, namentlich dann, wenn ihnen ein Kriegserfolg doch noch zu Hilfe kommen sollte und den ausständigen Arbeitern die Mittel ausgehen. Aber auf wie lange noch? Ist eine Idee auf solche Weise einmal in das Volk eingedrungen, so verlangt sie Verwirklichung, das zeigt alle Geschichte, vou der man in Rußland allerdings noch weniger lernen will als anderwärts. Es ist ein Verhängnis, daß die Reformbewegung im Jnnern mit einem schweren Kriege zusammenfällt, und es kennzeichnet die verzweiflungsvolle Lage, daß die Russen, die eine innere Umgestaltung erstreben, den Sieg ihres Vaterlandes über Japan kaum wünschen können, denn er würde die verhaßte * wankende Autokratie befestigen. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Weib. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/308>, abgerufen am 04.05.2024.