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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Otto Raemmels Deutsche Geschichte

daß ein junger Mann, der nur knapp den juristischen Vorbereitungsdienst
durchgemacht und einige Arbeiten über das Erbrecht des Sachsenspiegels oder
über ein mittelalterliches Stadtrecht geschrieben hat, auch befähigt sei, eine
Professur des "Deutschen Rechts," d. h. des geltenden Rechts, zu bekleiden.
Denkbar wäre es ja, daß jemand, der ein deutsches Grundbuch oder eine Ver¬
fügung des Nachlaßgerichts kaum von weitem gesehen hat, den Studenten die
für die zukünftige Praxis nötige Kenntnis des Liegenschaftsrechts und des Erb¬
rechts in geistvoller Weise beibringt; aber solche Männer werden nur äußerst
selten geboren. Die Studenten haben so die richtige Empfindung, daß man
ohne eingehende praktische Betätigung im geltenden Rechte das geltende Recht
eben auch nicht lehre" kann, und sie wissen, daß ihren Professoren diese
praktische Betätigung zumeist gänzlich abgeht. Daher die auffallende Ähnlich¬
keit der juristischen Hörsäle mit dem Sitzungssaal des deutschen Reichstags:
in beiden findet man -- leere Bänke.




Gelo Kaemmels Deutsche Geschichte

ZM^9!in Jahre 1889 erschien die erste Auflage der Deutschen Geschichte
von Otto Kaemmel, seit dem Weihnachtsfeste des Jahres 1904
liegt die zweite Auflage vor. Man muß sich eigentlich wundern,
daß ein so vortreffliches, von einem auch schon vor fünfzehn
! Jahren als Historiker und Publizisten so bekannten Manne ge¬
schaffnes Werk, das bei seinem Erscheinen kaum eine Konkurrenz zu besteh"
hatte, erst jetzt die zweite Auslage erlebt. Aber was nutzt es, nach den Ur¬
sachen der verhältnismäßig langsamen Verbreitung des Buchs zu forschen --
b^diznt sua ka-tü. libslll! Jedenfalls waren es nicht innere Mängel, die dein
für alle gebildeten Kreise Deutschlands geschriebnen Buche den äußern Erfolg
Schmälerten. Denn unsers Wissens war Kaemmel der erste deutsche Historiker,
der die sich aus der Wiederaufrichtung des deutschen Nationalstaats ergebenden
Konsequenzen für die Auffassung und Bewertung der frühern Perioden deutscher
Geschichte klar und deutlich zog. "Da die deutsche Geschichte, sagt er im Vor¬
wort, als ein zweimaliger Anlauf zur Bildung einer leistungsfähigen Gesamt¬
verfassung für die Nation, gewissermaßen als ein einziger großer Verfassungs¬
kampf erscheint, der nach dem Zerfall unsers mittelalterlichen Reichs erst in der
Gegenwart wieder zum Abschluß gelangt ist, so mußte die politische Gestaltung
nicht nur in den Vordergrund gerückt, sondern von ihr auch die ganze Gliederung
des Stoffs abhängig gemacht werden." Er behandelt deshalb als eine Art von
Vorspiel "Die germanischen Stämme im Kampfe mit dem römischen Reiche"
(bis 476 n. Chr.) und teilt den ganzen übrigen Stoff nur in zwei Hauptzeit¬
räume: "Die Reichsbildungen auf germanisch-römischer Grundlage" (476 bis
1273) und "Die Auflösung des römisch-deutschen Kaisertums und die Entstehung
des deutschen Bnndesreichs" (1273 bis 1871).,


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daß ein junger Mann, der nur knapp den juristischen Vorbereitungsdienst
durchgemacht und einige Arbeiten über das Erbrecht des Sachsenspiegels oder
über ein mittelalterliches Stadtrecht geschrieben hat, auch befähigt sei, eine
Professur des „Deutschen Rechts," d. h. des geltenden Rechts, zu bekleiden.
Denkbar wäre es ja, daß jemand, der ein deutsches Grundbuch oder eine Ver¬
fügung des Nachlaßgerichts kaum von weitem gesehen hat, den Studenten die
für die zukünftige Praxis nötige Kenntnis des Liegenschaftsrechts und des Erb¬
rechts in geistvoller Weise beibringt; aber solche Männer werden nur äußerst
selten geboren. Die Studenten haben so die richtige Empfindung, daß man
ohne eingehende praktische Betätigung im geltenden Rechte das geltende Recht
eben auch nicht lehre» kann, und sie wissen, daß ihren Professoren diese
praktische Betätigung zumeist gänzlich abgeht. Daher die auffallende Ähnlich¬
keit der juristischen Hörsäle mit dem Sitzungssaal des deutschen Reichstags:
in beiden findet man — leere Bänke.




Gelo Kaemmels Deutsche Geschichte

ZM^9!in Jahre 1889 erschien die erste Auflage der Deutschen Geschichte
von Otto Kaemmel, seit dem Weihnachtsfeste des Jahres 1904
liegt die zweite Auflage vor. Man muß sich eigentlich wundern,
daß ein so vortreffliches, von einem auch schon vor fünfzehn
! Jahren als Historiker und Publizisten so bekannten Manne ge¬
schaffnes Werk, das bei seinem Erscheinen kaum eine Konkurrenz zu besteh»
hatte, erst jetzt die zweite Auslage erlebt. Aber was nutzt es, nach den Ur¬
sachen der verhältnismäßig langsamen Verbreitung des Buchs zu forschen —
b^diznt sua ka-tü. libslll! Jedenfalls waren es nicht innere Mängel, die dein
für alle gebildeten Kreise Deutschlands geschriebnen Buche den äußern Erfolg
Schmälerten. Denn unsers Wissens war Kaemmel der erste deutsche Historiker,
der die sich aus der Wiederaufrichtung des deutschen Nationalstaats ergebenden
Konsequenzen für die Auffassung und Bewertung der frühern Perioden deutscher
Geschichte klar und deutlich zog. „Da die deutsche Geschichte, sagt er im Vor¬
wort, als ein zweimaliger Anlauf zur Bildung einer leistungsfähigen Gesamt¬
verfassung für die Nation, gewissermaßen als ein einziger großer Verfassungs¬
kampf erscheint, der nach dem Zerfall unsers mittelalterlichen Reichs erst in der
Gegenwart wieder zum Abschluß gelangt ist, so mußte die politische Gestaltung
nicht nur in den Vordergrund gerückt, sondern von ihr auch die ganze Gliederung
des Stoffs abhängig gemacht werden." Er behandelt deshalb als eine Art von
Vorspiel „Die germanischen Stämme im Kampfe mit dem römischen Reiche"
(bis 476 n. Chr.) und teilt den ganzen übrigen Stoff nur in zwei Hauptzeit¬
räume: „Die Reichsbildungen auf germanisch-römischer Grundlage" (476 bis
1273) und „Die Auflösung des römisch-deutschen Kaisertums und die Entstehung
des deutschen Bnndesreichs" (1273 bis 1871).,


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[0612] Otto Raemmels Deutsche Geschichte daß ein junger Mann, der nur knapp den juristischen Vorbereitungsdienst durchgemacht und einige Arbeiten über das Erbrecht des Sachsenspiegels oder über ein mittelalterliches Stadtrecht geschrieben hat, auch befähigt sei, eine Professur des „Deutschen Rechts," d. h. des geltenden Rechts, zu bekleiden. Denkbar wäre es ja, daß jemand, der ein deutsches Grundbuch oder eine Ver¬ fügung des Nachlaßgerichts kaum von weitem gesehen hat, den Studenten die für die zukünftige Praxis nötige Kenntnis des Liegenschaftsrechts und des Erb¬ rechts in geistvoller Weise beibringt; aber solche Männer werden nur äußerst selten geboren. Die Studenten haben so die richtige Empfindung, daß man ohne eingehende praktische Betätigung im geltenden Rechte das geltende Recht eben auch nicht lehre» kann, und sie wissen, daß ihren Professoren diese praktische Betätigung zumeist gänzlich abgeht. Daher die auffallende Ähnlich¬ keit der juristischen Hörsäle mit dem Sitzungssaal des deutschen Reichstags: in beiden findet man — leere Bänke. Gelo Kaemmels Deutsche Geschichte ZM^9!in Jahre 1889 erschien die erste Auflage der Deutschen Geschichte von Otto Kaemmel, seit dem Weihnachtsfeste des Jahres 1904 liegt die zweite Auflage vor. Man muß sich eigentlich wundern, daß ein so vortreffliches, von einem auch schon vor fünfzehn ! Jahren als Historiker und Publizisten so bekannten Manne ge¬ schaffnes Werk, das bei seinem Erscheinen kaum eine Konkurrenz zu besteh» hatte, erst jetzt die zweite Auslage erlebt. Aber was nutzt es, nach den Ur¬ sachen der verhältnismäßig langsamen Verbreitung des Buchs zu forschen — b^diznt sua ka-tü. libslll! Jedenfalls waren es nicht innere Mängel, die dein für alle gebildeten Kreise Deutschlands geschriebnen Buche den äußern Erfolg Schmälerten. Denn unsers Wissens war Kaemmel der erste deutsche Historiker, der die sich aus der Wiederaufrichtung des deutschen Nationalstaats ergebenden Konsequenzen für die Auffassung und Bewertung der frühern Perioden deutscher Geschichte klar und deutlich zog. „Da die deutsche Geschichte, sagt er im Vor¬ wort, als ein zweimaliger Anlauf zur Bildung einer leistungsfähigen Gesamt¬ verfassung für die Nation, gewissermaßen als ein einziger großer Verfassungs¬ kampf erscheint, der nach dem Zerfall unsers mittelalterlichen Reichs erst in der Gegenwart wieder zum Abschluß gelangt ist, so mußte die politische Gestaltung nicht nur in den Vordergrund gerückt, sondern von ihr auch die ganze Gliederung des Stoffs abhängig gemacht werden." Er behandelt deshalb als eine Art von Vorspiel „Die germanischen Stämme im Kampfe mit dem römischen Reiche" (bis 476 n. Chr.) und teilt den ganzen übrigen Stoff nur in zwei Hauptzeit¬ räume: „Die Reichsbildungen auf germanisch-römischer Grundlage" (476 bis 1273) und „Die Auflösung des römisch-deutschen Kaisertums und die Entstehung des deutschen Bnndesreichs" (1273 bis 1871).,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/612>, abgerufen am 04.05.2024.