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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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Innere Freiheit

ente, die glauben, die griechische Philosophie sei ein so abge-
droschncr Gegenstand, daß sich nichts neues und interessantes
mehr darüber sagen ließe, mögen sich eines bessern belehren lassen
von einem aus akademischen Vorträgen entstandnen Buche: Die
Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das
Ideal der innern Freiheit von Heinrich Gomperz. Feine psychologische
Analysen -- am meisten hat uns die des Epikur überrascht -- schließen uns
das innerste Wesen unsrer alten Bekannten auf und machen, daß sie uns neu
erscheinen, und ebenso neu erscheint uns manches in ihren Beziehungen unter¬
einander und zu ihrer Zeit. So das Jneinanderspielen der drei Ideale: des
aristokratischen Ideals der Kalokagathie, des edeln Maßes, des demokratischen
Ideals der durch Sühnung zu erringenden Heiligkeit, des philosophischen Ideals
der Freiheit. Und von diesem aus gesehen kommt Aristoteles zu unterst zu
stehn, während die Stoiker, die Philosophen der Verfallzeit, den Gipfel ein¬
nehmen. Vor allem aber gliedern sich die Philosophen hier in zwei Klassen:
in solche, die, wie Sokrates, Diogenes und Aristipp, ihre Philosophie gelebt
haben, ohne sie aufzuschreiben, und in solche, die Bücher geschrieben haben, mit
deren Inhalt ihr Leben nicht durchweg oder auch gar nicht übereinstimmte, also
in wirkliche Philosophen und in Philosophieprofessoren. Plato macht den
Übergang, dürfte aber wohl nicht so viel vom pedantischen Schulmeister gehabt
haben, wie Gomperz vermutet; schildert er ihn doch zugleich als den großen
Enthusiasten. Hier könnten wir schließen, wenn wir das Buch bloß empfehlen
wollten; aber wir fühlen uns verpflichtet, der Empfehlung eine Warnung an¬
zuheften, und diese müssen wir begründen.

In der Theorie der Freiheit, die Gomperz entwickelt, ist vieles, dem wir
beistimmen. Bei manchem, worin wir abweichen, handelt es sich vielleicht bloß
um Worte, wie wenn er Glück und Lust mit kantischer Strenge voneinander
scheidet und jenes in den Willen, diese ins Gefühl verlegt. Wir meinen, die
Seele lasse sich nicht in zwei voneinander unabhängige Provinzen zerreißen;
der Glückliche empfinde Lust, und der Genießende wolle den Lust erzeugenden
Genuß. Ju Beziehung auf manche andre seiner Ansichten würde sich vielleicht
durch Erörterung eine Einigung herbeiführen lassen, so in seiner Unterscheidung
von Moral und Ethik. Die Moral beurteile nicht den Menschen als Ganzes,
sondern seine einzelnen Gesinnungsweisen, und zwar nicht auf Grund von
Achtung und Verachtung, sondern auf Grund von Anerkennung und Entrüstung.
Gegen eine Gesinnung, aus der leicht Schädigungen des Nächsten fließen,
reagieren wir mit Entrttstuug; in der Ethik aber, meint der Verfasser, kommt
es nur an auf das Maß von Kraft, das einen Charakter auszeichnet; und




Innere Freiheit

ente, die glauben, die griechische Philosophie sei ein so abge-
droschncr Gegenstand, daß sich nichts neues und interessantes
mehr darüber sagen ließe, mögen sich eines bessern belehren lassen
von einem aus akademischen Vorträgen entstandnen Buche: Die
Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das
Ideal der innern Freiheit von Heinrich Gomperz. Feine psychologische
Analysen — am meisten hat uns die des Epikur überrascht — schließen uns
das innerste Wesen unsrer alten Bekannten auf und machen, daß sie uns neu
erscheinen, und ebenso neu erscheint uns manches in ihren Beziehungen unter¬
einander und zu ihrer Zeit. So das Jneinanderspielen der drei Ideale: des
aristokratischen Ideals der Kalokagathie, des edeln Maßes, des demokratischen
Ideals der durch Sühnung zu erringenden Heiligkeit, des philosophischen Ideals
der Freiheit. Und von diesem aus gesehen kommt Aristoteles zu unterst zu
stehn, während die Stoiker, die Philosophen der Verfallzeit, den Gipfel ein¬
nehmen. Vor allem aber gliedern sich die Philosophen hier in zwei Klassen:
in solche, die, wie Sokrates, Diogenes und Aristipp, ihre Philosophie gelebt
haben, ohne sie aufzuschreiben, und in solche, die Bücher geschrieben haben, mit
deren Inhalt ihr Leben nicht durchweg oder auch gar nicht übereinstimmte, also
in wirkliche Philosophen und in Philosophieprofessoren. Plato macht den
Übergang, dürfte aber wohl nicht so viel vom pedantischen Schulmeister gehabt
haben, wie Gomperz vermutet; schildert er ihn doch zugleich als den großen
Enthusiasten. Hier könnten wir schließen, wenn wir das Buch bloß empfehlen
wollten; aber wir fühlen uns verpflichtet, der Empfehlung eine Warnung an¬
zuheften, und diese müssen wir begründen.

In der Theorie der Freiheit, die Gomperz entwickelt, ist vieles, dem wir
beistimmen. Bei manchem, worin wir abweichen, handelt es sich vielleicht bloß
um Worte, wie wenn er Glück und Lust mit kantischer Strenge voneinander
scheidet und jenes in den Willen, diese ins Gefühl verlegt. Wir meinen, die
Seele lasse sich nicht in zwei voneinander unabhängige Provinzen zerreißen;
der Glückliche empfinde Lust, und der Genießende wolle den Lust erzeugenden
Genuß. Ju Beziehung auf manche andre seiner Ansichten würde sich vielleicht
durch Erörterung eine Einigung herbeiführen lassen, so in seiner Unterscheidung
von Moral und Ethik. Die Moral beurteile nicht den Menschen als Ganzes,
sondern seine einzelnen Gesinnungsweisen, und zwar nicht auf Grund von
Achtung und Verachtung, sondern auf Grund von Anerkennung und Entrüstung.
Gegen eine Gesinnung, aus der leicht Schädigungen des Nächsten fließen,
reagieren wir mit Entrttstuug; in der Ethik aber, meint der Verfasser, kommt
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/24>, abgerufen am 08.05.2024.