Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches gewählt Werden, so muß er entweder Versprechungen machen, von denen er im Bahndienst und Alkohol. Herr de Terra in Marburg, der bekanntlich Maßgebliches und Unmaßgebliches gewählt Werden, so muß er entweder Versprechungen machen, von denen er im Bahndienst und Alkohol. Herr de Terra in Marburg, der bekanntlich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/298631"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1766" prev="#ID_1765"> gewählt Werden, so muß er entweder Versprechungen machen, von denen er im<lb/> voraus weiß, daß er sie nicht halten wird, oder er muß die Leute dahin bringen,<lb/> sich einzubilden, sie wollten niedrigen Lohn und lange Arbeitszeit, und dazu würde<lb/> ein Grad demagogischer Kunstfertigkeit gehören, die sogar ein Bebel nicht zu er¬<lb/> reichen vermöchte. Es ist möglich, daß die Ziele, die unsre Unternehmerparteien<lb/> verfolgen, zuguderletzt auch den Lohnarbeitern so viel Wohlbefinden sichern, als die<lb/> Zustände unsrer Volkswirtschaft erlauben. Aber was sich möglicherweise in ferner<lb/> Zukunft enthüllt, das lockt nicht einmal die Gebildeten, geschweige denn das Volk.<lb/> Wollen also die Besitzenden und die Gebildeten im Staate herrschen, ohne zur<lb/> Lüge genötigt zu sein, so dürfen sie nicht in die Lage kommen, sich von Personen<lb/> der abhängigen Klassen zu Gesetzgebern wählen lassen zu müssen. Jeder Beruf¬<lb/> stand muß, ungestört von den andern, seine eignen Vertrauensmänner wählen; dazu<lb/> gehört gar keine Demagogik. Und den Abgeordneten der ungebildeten oder wenig<lb/> gebildeten Berufstände muß nur das Recht, Beschwerden, Wünsche und Forderungen<lb/> vorzutragen, aber nicht das Recht, an der Gesetzgebung durch entscheidendes Votum<lb/> mitzuwirken, eingeräumt werden.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Bahndienst und Alkohol.</head> <p xml:id="ID_1767" next="#ID_1768"> Herr de Terra in Marburg, der bekanntlich<lb/> sein Amt als Eisenbahndirektor aufgegeben hat, um sich ganz der Ausbreitung des<lb/> von ihm gegründeten Deutschen Vereins enthaltsamer Eisenbahner zu widmen, über¬<lb/> sendet uns eine Eingabe, die der Vereinsvorstand an den Reichstag und an die<lb/> Landtage der mit Staatsbahnen ausgestatteten größern Bundesstaaten gerichtet hat.<lb/> Die Eingabe geht von einigen Eisenbahnunfällen der letzten Zeit aus, die erwiesener¬<lb/> maßen durch übermäßigen Alkoholgenuß verschuldet worden sind, und stellt die Be¬<lb/> hauptung auf, daß dieser auch in sehr vielen andern Fällen schuld sei, wo das<lb/> nicht herauskomme oder vertuscht werde. Sie weist auf Nordamerika hin, wo die<lb/> Leute, die sich nicht zur Abstinenz verpflichten wollen, mehr und mehr aus dem<lb/> Eisenbahndienst verdrängt würden, sodaß dieser binnen kurzem ausschließlich von<lb/> Enthaltsamen besorgt werden wird, und auf Carnegie, der erklärt hat: „Die Arbeiter<lb/> in unsern Werken sind nicht verpflichtet, abstinent zu leben, die es aber tun, er¬<lb/> halten eine Prämie von Zehn vom Hundert ihres Jahresverdienstes. Denn ich bin<lb/> der Meinung, daß die Abstinenten so viel mehr wert sind als die Nichtabstinenten,<lb/> besonders wenn sie als Kutscher, Matrosen oder bei Maschinen tätig sind." Der<lb/> Deutsche Verein hat sich nun die Aufgabe gestellt: „1. das Eisenbahnpersonal durch<lb/> Vorträge und Schriften über den Unwert der alkoholischen Getränke als »Stärkungs¬<lb/> mittel« sowie über ihre Entbehrlichkeit als Genußmittel aufzuklären und auf die<lb/> Gefahren hinzuweisen, die auch mit dem mäßigen Genuß solcher Getränke für den<lb/> verantwortungsvollen Bahndienst verbunden sind; 2. möglichst viele Berufsgenossen<lb/> für das Beispiel der völligen Enthaltung zu gewinnen; 3. durch Veröffentlichungen<lb/> und Eingaben Maßnahmen vorbeugender Art anzuregen; insbesondre Ausdehnung<lb/> der Fürsorge für Wohnungen, Aufenthalts- und Übernachtungsräume, zweckmäßige<lb/> Verpflegung, ausreichende Beschaffung guten Trinkwassers und billiger, guter Er¬<lb/> frischungen." Eine solche Agitation aber kostet Geld. „Deu meist knapp besoldeten,<lb/> zu einem großen Teile dem Arbeiterstande angehörigen Mitgliedern des Vereins<lb/> können nennenswerte Geldopfer für die nicht allein dem Eisenbahnpersonal selbst,<lb/> sondern in hervorragendem Maße auch den Verwaltungen und der Gesamtheit<lb/> zugute kommenden Vereinsbestrebungen billigerweise nicht zugemutet werden. Freudig<lb/> stellt der Vorsitzende und Gründer des Vereins seine volle Arbeitskraft in den<lb/> Dienst dieser Tätigkeit; aber weitere Geldopfer dafür zu bringen, ist er zu seinem<lb/> Leidwesen außerstande." Deshalb werden die Staaten und das Reich um eine jähr¬<lb/> liche Beihilfe gebeten, wie solche die Schweiz dem dortigen Verein gewährt. Außerdem<lb/> bittet der Verein: „1. daß dem Eisenbahnpersonal, auch den obern Beamten, der<lb/> Genuß alkoholischer Getränke während des Dienstes und mindestens acht Stunden<lb/> vor Antritt des Dienstes untersagt, daß 2. die freiwillige völlige Enthaltsamkeit</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0356]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
gewählt Werden, so muß er entweder Versprechungen machen, von denen er im
voraus weiß, daß er sie nicht halten wird, oder er muß die Leute dahin bringen,
sich einzubilden, sie wollten niedrigen Lohn und lange Arbeitszeit, und dazu würde
ein Grad demagogischer Kunstfertigkeit gehören, die sogar ein Bebel nicht zu er¬
reichen vermöchte. Es ist möglich, daß die Ziele, die unsre Unternehmerparteien
verfolgen, zuguderletzt auch den Lohnarbeitern so viel Wohlbefinden sichern, als die
Zustände unsrer Volkswirtschaft erlauben. Aber was sich möglicherweise in ferner
Zukunft enthüllt, das lockt nicht einmal die Gebildeten, geschweige denn das Volk.
Wollen also die Besitzenden und die Gebildeten im Staate herrschen, ohne zur
Lüge genötigt zu sein, so dürfen sie nicht in die Lage kommen, sich von Personen
der abhängigen Klassen zu Gesetzgebern wählen lassen zu müssen. Jeder Beruf¬
stand muß, ungestört von den andern, seine eignen Vertrauensmänner wählen; dazu
gehört gar keine Demagogik. Und den Abgeordneten der ungebildeten oder wenig
gebildeten Berufstände muß nur das Recht, Beschwerden, Wünsche und Forderungen
vorzutragen, aber nicht das Recht, an der Gesetzgebung durch entscheidendes Votum
mitzuwirken, eingeräumt werden.
Bahndienst und Alkohol. Herr de Terra in Marburg, der bekanntlich
sein Amt als Eisenbahndirektor aufgegeben hat, um sich ganz der Ausbreitung des
von ihm gegründeten Deutschen Vereins enthaltsamer Eisenbahner zu widmen, über¬
sendet uns eine Eingabe, die der Vereinsvorstand an den Reichstag und an die
Landtage der mit Staatsbahnen ausgestatteten größern Bundesstaaten gerichtet hat.
Die Eingabe geht von einigen Eisenbahnunfällen der letzten Zeit aus, die erwiesener¬
maßen durch übermäßigen Alkoholgenuß verschuldet worden sind, und stellt die Be¬
hauptung auf, daß dieser auch in sehr vielen andern Fällen schuld sei, wo das
nicht herauskomme oder vertuscht werde. Sie weist auf Nordamerika hin, wo die
Leute, die sich nicht zur Abstinenz verpflichten wollen, mehr und mehr aus dem
Eisenbahndienst verdrängt würden, sodaß dieser binnen kurzem ausschließlich von
Enthaltsamen besorgt werden wird, und auf Carnegie, der erklärt hat: „Die Arbeiter
in unsern Werken sind nicht verpflichtet, abstinent zu leben, die es aber tun, er¬
halten eine Prämie von Zehn vom Hundert ihres Jahresverdienstes. Denn ich bin
der Meinung, daß die Abstinenten so viel mehr wert sind als die Nichtabstinenten,
besonders wenn sie als Kutscher, Matrosen oder bei Maschinen tätig sind." Der
Deutsche Verein hat sich nun die Aufgabe gestellt: „1. das Eisenbahnpersonal durch
Vorträge und Schriften über den Unwert der alkoholischen Getränke als »Stärkungs¬
mittel« sowie über ihre Entbehrlichkeit als Genußmittel aufzuklären und auf die
Gefahren hinzuweisen, die auch mit dem mäßigen Genuß solcher Getränke für den
verantwortungsvollen Bahndienst verbunden sind; 2. möglichst viele Berufsgenossen
für das Beispiel der völligen Enthaltung zu gewinnen; 3. durch Veröffentlichungen
und Eingaben Maßnahmen vorbeugender Art anzuregen; insbesondre Ausdehnung
der Fürsorge für Wohnungen, Aufenthalts- und Übernachtungsräume, zweckmäßige
Verpflegung, ausreichende Beschaffung guten Trinkwassers und billiger, guter Er¬
frischungen." Eine solche Agitation aber kostet Geld. „Deu meist knapp besoldeten,
zu einem großen Teile dem Arbeiterstande angehörigen Mitgliedern des Vereins
können nennenswerte Geldopfer für die nicht allein dem Eisenbahnpersonal selbst,
sondern in hervorragendem Maße auch den Verwaltungen und der Gesamtheit
zugute kommenden Vereinsbestrebungen billigerweise nicht zugemutet werden. Freudig
stellt der Vorsitzende und Gründer des Vereins seine volle Arbeitskraft in den
Dienst dieser Tätigkeit; aber weitere Geldopfer dafür zu bringen, ist er zu seinem
Leidwesen außerstande." Deshalb werden die Staaten und das Reich um eine jähr¬
liche Beihilfe gebeten, wie solche die Schweiz dem dortigen Verein gewährt. Außerdem
bittet der Verein: „1. daß dem Eisenbahnpersonal, auch den obern Beamten, der
Genuß alkoholischer Getränke während des Dienstes und mindestens acht Stunden
vor Antritt des Dienstes untersagt, daß 2. die freiwillige völlige Enthaltsamkeit
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