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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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Historisches zur Katastrophe des Deutschtums in den
Ostseeprovinzen

rschüttcrnd, für deutsche Gemüter betrübender als alle andern Nach¬
richten aus dem brodelnden Hexenkessel im zusammenstürzenden
Zarenreiche sind die ans Kurland, Livland und Estland, die man
die deutschen Ostseeprovinzen nennt. So lange sie dem Zaren
Untertan sind -- bei Kurland ist das erst ein Jahrhundert, bei
den beiden andern Provinzen sind es zwei Jahrhunderte --, sind sie nicht
nur die am besten Vermalteten in ganz Rußland gewesen, sondern auch in
ihrer Treue niemals wankend geworden. Nun gleichen sie mit einemmal
einem Vulkan, der in unerwartetem Ausbruch furchtbare Verwüstungen an¬
richtet. Und der allmächtige Zar ist das Bild der Ohnmacht. Während
ringsum die Schlösser der deutschen Gutsbesitzer in Flammen auflodern, während
Letten und Ehlen zu rasenden Mordtaten übergehn, und in den alten Pflanz¬
stätten deutscher Kultur der Straßenkampf tobt, hat er weder die Autorität
noch die paar treuen Regimenter, die zur Aufrechterhaltung der äußern Ord¬
nung nötig wären.

Wir sagen: für deutsche Gemüter sind die düstern Nachrichten aus den
Ostseeprovinzen erschütternder als alle andern. Aber da schon wieder Versuche
gemacht werden, Deutschland politisch mit der Sache zu verwickeln, so wollen
wir doch nicht versäumen, zu betonen, daß das eine Unmöglichkeit wäre. Die
Deutschen jener Landesteile sind politisch Russen, sie müssen sich mit ihrem
Heimatland abfinden. Wir können nicht aus ethnographischen, aus nationalen
Rücksichten eine Eroberungspolitik treiben, deren Gelingen nur möglich wäre,
wenn Rußland völlig und ans die Dauer zerschellte. Rußland, so lange es
eine wirkliche Macht ist, kann die Küsten seines Reichs nicht wieder in fremde
Hände geraten lassen. Würde das Gestade von Liban bis in die Nähe Peters¬
burgs deutsch, so versiele damit auch die Reichshauptstadt, der einzige Zugang
des eigentlichen Reichs zur Ostsee, fremder Gewalt. Das wird und kann
Rußland niemals dulden. Die Friedenspolitik Deutschlands verbietet, so etwas
mich nur ernstlich zu behandeln. Auch unser eignes Interesse würde es schlechtweg


Grenzboten I 1906 63


Historisches zur Katastrophe des Deutschtums in den
Ostseeprovinzen

rschüttcrnd, für deutsche Gemüter betrübender als alle andern Nach¬
richten aus dem brodelnden Hexenkessel im zusammenstürzenden
Zarenreiche sind die ans Kurland, Livland und Estland, die man
die deutschen Ostseeprovinzen nennt. So lange sie dem Zaren
Untertan sind — bei Kurland ist das erst ein Jahrhundert, bei
den beiden andern Provinzen sind es zwei Jahrhunderte —, sind sie nicht
nur die am besten Vermalteten in ganz Rußland gewesen, sondern auch in
ihrer Treue niemals wankend geworden. Nun gleichen sie mit einemmal
einem Vulkan, der in unerwartetem Ausbruch furchtbare Verwüstungen an¬
richtet. Und der allmächtige Zar ist das Bild der Ohnmacht. Während
ringsum die Schlösser der deutschen Gutsbesitzer in Flammen auflodern, während
Letten und Ehlen zu rasenden Mordtaten übergehn, und in den alten Pflanz¬
stätten deutscher Kultur der Straßenkampf tobt, hat er weder die Autorität
noch die paar treuen Regimenter, die zur Aufrechterhaltung der äußern Ord¬
nung nötig wären.

Wir sagen: für deutsche Gemüter sind die düstern Nachrichten aus den
Ostseeprovinzen erschütternder als alle andern. Aber da schon wieder Versuche
gemacht werden, Deutschland politisch mit der Sache zu verwickeln, so wollen
wir doch nicht versäumen, zu betonen, daß das eine Unmöglichkeit wäre. Die
Deutschen jener Landesteile sind politisch Russen, sie müssen sich mit ihrem
Heimatland abfinden. Wir können nicht aus ethnographischen, aus nationalen
Rücksichten eine Eroberungspolitik treiben, deren Gelingen nur möglich wäre,
wenn Rußland völlig und ans die Dauer zerschellte. Rußland, so lange es
eine wirkliche Macht ist, kann die Küsten seines Reichs nicht wieder in fremde
Hände geraten lassen. Würde das Gestade von Liban bis in die Nähe Peters¬
burgs deutsch, so versiele damit auch die Reichshauptstadt, der einzige Zugang
des eigentlichen Reichs zur Ostsee, fremder Gewalt. Das wird und kann
Rußland niemals dulden. Die Friedenspolitik Deutschlands verbietet, so etwas
mich nur ernstlich zu behandeln. Auch unser eignes Interesse würde es schlechtweg


Grenzboten I 1906 63
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[0417] [Abbildung] Historisches zur Katastrophe des Deutschtums in den Ostseeprovinzen rschüttcrnd, für deutsche Gemüter betrübender als alle andern Nach¬ richten aus dem brodelnden Hexenkessel im zusammenstürzenden Zarenreiche sind die ans Kurland, Livland und Estland, die man die deutschen Ostseeprovinzen nennt. So lange sie dem Zaren Untertan sind — bei Kurland ist das erst ein Jahrhundert, bei den beiden andern Provinzen sind es zwei Jahrhunderte —, sind sie nicht nur die am besten Vermalteten in ganz Rußland gewesen, sondern auch in ihrer Treue niemals wankend geworden. Nun gleichen sie mit einemmal einem Vulkan, der in unerwartetem Ausbruch furchtbare Verwüstungen an¬ richtet. Und der allmächtige Zar ist das Bild der Ohnmacht. Während ringsum die Schlösser der deutschen Gutsbesitzer in Flammen auflodern, während Letten und Ehlen zu rasenden Mordtaten übergehn, und in den alten Pflanz¬ stätten deutscher Kultur der Straßenkampf tobt, hat er weder die Autorität noch die paar treuen Regimenter, die zur Aufrechterhaltung der äußern Ord¬ nung nötig wären. Wir sagen: für deutsche Gemüter sind die düstern Nachrichten aus den Ostseeprovinzen erschütternder als alle andern. Aber da schon wieder Versuche gemacht werden, Deutschland politisch mit der Sache zu verwickeln, so wollen wir doch nicht versäumen, zu betonen, daß das eine Unmöglichkeit wäre. Die Deutschen jener Landesteile sind politisch Russen, sie müssen sich mit ihrem Heimatland abfinden. Wir können nicht aus ethnographischen, aus nationalen Rücksichten eine Eroberungspolitik treiben, deren Gelingen nur möglich wäre, wenn Rußland völlig und ans die Dauer zerschellte. Rußland, so lange es eine wirkliche Macht ist, kann die Küsten seines Reichs nicht wieder in fremde Hände geraten lassen. Würde das Gestade von Liban bis in die Nähe Peters¬ burgs deutsch, so versiele damit auch die Reichshauptstadt, der einzige Zugang des eigentlichen Reichs zur Ostsee, fremder Gewalt. Das wird und kann Rußland niemals dulden. Die Friedenspolitik Deutschlands verbietet, so etwas mich nur ernstlich zu behandeln. Auch unser eignes Interesse würde es schlechtweg Grenzboten I 1906 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/417>, abgerufen am 08.05.2024.