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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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Literatur

den amtlichen Statistiker werden die des Generals Booth fleißig verwandt. Das
Werk kann als ein Handbuch empfohlen werden, das die Monographien über die
einzelnen Zweige der englischen Arbeitersoziologie: Arbeitslohn, Lebenshaltung, Ar¬
beitsweise, Arbeiterschutz, Koalitionsrecht, Gewerkschaften, Genossenschaften ersetzt.

Zugleich mit Steffens Werke lasen wir die Lebensgeschichte eines mo¬
dernen Fabrikarbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Paul Göhre
(bei Eugen Diederichs in Jena und Leipzig, 1905). Die Leser erinnern sich
vielleicht der Autobiographie des Arbeiters Fischer, die Göhre vor zwei Jahren
herausgegeben hat, und die wir im vorjährigen zweiten Bande der Grenzboten
Seite 602 angezeigt haben. Sein diesmaliger Schützling, Theodor Brömme aus
Ronneburg im Altenburgischen, hat uns den Gegensatz zwischen Deutschland und
England recht lebhaft vergegenwärtigt und aufs neue davon überzeugt, welchen
Segen Deutschland in seinem glücklicherweise noch ungebrochen dastehenden Bauern¬
stande hat. Das tiefe Gemütsleben dieses Brömme, seine Empfindungsweise,
sein starker Familiensinn, seine körperliche und seelische Reinheit und Reinlichkeit
hat er ohne Zweifel dem Umstände zu verdanken, daß er bis zu seinem sieb¬
zehnten Lebensjahre bei seinen Eltern gewohnt hat, und daß beide Eltern dem
Bauernstand entstammten, dessen Traditionen sie in ihren Haushalt mitgebracht
haben. Diese Traditionen verkörperten sich gewissermaßen in den zwölf Gebettelt
Betten, die seine Mutter als Aussteuer bekommen hat. Theodor hat bei der
Verehelichung seinen dürftigen Hausrat auf Abzahlung gekauft und das dritte
Bett angeschafft, als das sechste Kind kam; seine Kinder werden mit proletarischen
Traditionen in das Leben eintreten.




Literatur

in Jahre 1888 schrieb Professor Schönbach in Graz eine nütz¬
liche Anleitung für gebildete Menschen zur Auswahl ihrer Lektüre,
deren sechste Auflage wir in den Grenzboten (1900, II, S. 384)
ausführlich besprochen haben. Damals hatte es das Buch im
ganzen auf zwölftausend Exemplare gebracht. Im Jahre 1905
ist die "Siebente, stark erweiterte Auflage" unter dem bisherigen Titel: "Über
Lesen und Bildung" (Graz, Leuschner und Lubensky; 4,50 Mark) erschienen;
sie ist dreitausend Exemplare stark. Das ist gegenüber der enormen Verbreitung
zahlreicher Schundbücher für ein so nützliches und dabei billiges Buch gewiß
nur ein bescheidner Erfolg, ein Beispiel, wie schwer sich das Gute durchsetzt.
Man kann dem Verfasser wahrlich nicht den Vorwurf machen, daß er in seinen
frühern Auflagen den modernen Literaturrichtungen nicht gerecht geworden würe.
Im Gegenteil, wer mit ihm die Maßstäbe aus der Vergangenheit zu nehmen
gewöhnt ist, wird wohl eher den Eindruck gehabt haben, daß er in Her Schätzung
der Hauptträger der neuesten Literatur reichlich hoch gegriffen habe. In dem
Vorwort der neuen Auflage findet er die Hauptpersönlichkeiten nicht gewachsen,


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den amtlichen Statistiker werden die des Generals Booth fleißig verwandt. Das
Werk kann als ein Handbuch empfohlen werden, das die Monographien über die
einzelnen Zweige der englischen Arbeitersoziologie: Arbeitslohn, Lebenshaltung, Ar¬
beitsweise, Arbeiterschutz, Koalitionsrecht, Gewerkschaften, Genossenschaften ersetzt.

Zugleich mit Steffens Werke lasen wir die Lebensgeschichte eines mo¬
dernen Fabrikarbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Paul Göhre
(bei Eugen Diederichs in Jena und Leipzig, 1905). Die Leser erinnern sich
vielleicht der Autobiographie des Arbeiters Fischer, die Göhre vor zwei Jahren
herausgegeben hat, und die wir im vorjährigen zweiten Bande der Grenzboten
Seite 602 angezeigt haben. Sein diesmaliger Schützling, Theodor Brömme aus
Ronneburg im Altenburgischen, hat uns den Gegensatz zwischen Deutschland und
England recht lebhaft vergegenwärtigt und aufs neue davon überzeugt, welchen
Segen Deutschland in seinem glücklicherweise noch ungebrochen dastehenden Bauern¬
stande hat. Das tiefe Gemütsleben dieses Brömme, seine Empfindungsweise,
sein starker Familiensinn, seine körperliche und seelische Reinheit und Reinlichkeit
hat er ohne Zweifel dem Umstände zu verdanken, daß er bis zu seinem sieb¬
zehnten Lebensjahre bei seinen Eltern gewohnt hat, und daß beide Eltern dem
Bauernstand entstammten, dessen Traditionen sie in ihren Haushalt mitgebracht
haben. Diese Traditionen verkörperten sich gewissermaßen in den zwölf Gebettelt
Betten, die seine Mutter als Aussteuer bekommen hat. Theodor hat bei der
Verehelichung seinen dürftigen Hausrat auf Abzahlung gekauft und das dritte
Bett angeschafft, als das sechste Kind kam; seine Kinder werden mit proletarischen
Traditionen in das Leben eintreten.




Literatur

in Jahre 1888 schrieb Professor Schönbach in Graz eine nütz¬
liche Anleitung für gebildete Menschen zur Auswahl ihrer Lektüre,
deren sechste Auflage wir in den Grenzboten (1900, II, S. 384)
ausführlich besprochen haben. Damals hatte es das Buch im
ganzen auf zwölftausend Exemplare gebracht. Im Jahre 1905
ist die „Siebente, stark erweiterte Auflage" unter dem bisherigen Titel: „Über
Lesen und Bildung" (Graz, Leuschner und Lubensky; 4,50 Mark) erschienen;
sie ist dreitausend Exemplare stark. Das ist gegenüber der enormen Verbreitung
zahlreicher Schundbücher für ein so nützliches und dabei billiges Buch gewiß
nur ein bescheidner Erfolg, ein Beispiel, wie schwer sich das Gute durchsetzt.
Man kann dem Verfasser wahrlich nicht den Vorwurf machen, daß er in seinen
frühern Auflagen den modernen Literaturrichtungen nicht gerecht geworden würe.
Im Gegenteil, wer mit ihm die Maßstäbe aus der Vergangenheit zu nehmen
gewöhnt ist, wird wohl eher den Eindruck gehabt haben, daß er in Her Schätzung
der Hauptträger der neuesten Literatur reichlich hoch gegriffen habe. In dem
Vorwort der neuen Auflage findet er die Hauptpersönlichkeiten nicht gewachsen,


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[0442] Literatur den amtlichen Statistiker werden die des Generals Booth fleißig verwandt. Das Werk kann als ein Handbuch empfohlen werden, das die Monographien über die einzelnen Zweige der englischen Arbeitersoziologie: Arbeitslohn, Lebenshaltung, Ar¬ beitsweise, Arbeiterschutz, Koalitionsrecht, Gewerkschaften, Genossenschaften ersetzt. Zugleich mit Steffens Werke lasen wir die Lebensgeschichte eines mo¬ dernen Fabrikarbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Paul Göhre (bei Eugen Diederichs in Jena und Leipzig, 1905). Die Leser erinnern sich vielleicht der Autobiographie des Arbeiters Fischer, die Göhre vor zwei Jahren herausgegeben hat, und die wir im vorjährigen zweiten Bande der Grenzboten Seite 602 angezeigt haben. Sein diesmaliger Schützling, Theodor Brömme aus Ronneburg im Altenburgischen, hat uns den Gegensatz zwischen Deutschland und England recht lebhaft vergegenwärtigt und aufs neue davon überzeugt, welchen Segen Deutschland in seinem glücklicherweise noch ungebrochen dastehenden Bauern¬ stande hat. Das tiefe Gemütsleben dieses Brömme, seine Empfindungsweise, sein starker Familiensinn, seine körperliche und seelische Reinheit und Reinlichkeit hat er ohne Zweifel dem Umstände zu verdanken, daß er bis zu seinem sieb¬ zehnten Lebensjahre bei seinen Eltern gewohnt hat, und daß beide Eltern dem Bauernstand entstammten, dessen Traditionen sie in ihren Haushalt mitgebracht haben. Diese Traditionen verkörperten sich gewissermaßen in den zwölf Gebettelt Betten, die seine Mutter als Aussteuer bekommen hat. Theodor hat bei der Verehelichung seinen dürftigen Hausrat auf Abzahlung gekauft und das dritte Bett angeschafft, als das sechste Kind kam; seine Kinder werden mit proletarischen Traditionen in das Leben eintreten. Literatur in Jahre 1888 schrieb Professor Schönbach in Graz eine nütz¬ liche Anleitung für gebildete Menschen zur Auswahl ihrer Lektüre, deren sechste Auflage wir in den Grenzboten (1900, II, S. 384) ausführlich besprochen haben. Damals hatte es das Buch im ganzen auf zwölftausend Exemplare gebracht. Im Jahre 1905 ist die „Siebente, stark erweiterte Auflage" unter dem bisherigen Titel: „Über Lesen und Bildung" (Graz, Leuschner und Lubensky; 4,50 Mark) erschienen; sie ist dreitausend Exemplare stark. Das ist gegenüber der enormen Verbreitung zahlreicher Schundbücher für ein so nützliches und dabei billiges Buch gewiß nur ein bescheidner Erfolg, ein Beispiel, wie schwer sich das Gute durchsetzt. Man kann dem Verfasser wahrlich nicht den Vorwurf machen, daß er in seinen frühern Auflagen den modernen Literaturrichtungen nicht gerecht geworden würe. Im Gegenteil, wer mit ihm die Maßstäbe aus der Vergangenheit zu nehmen gewöhnt ist, wird wohl eher den Eindruck gehabt haben, daß er in Her Schätzung der Hauptträger der neuesten Literatur reichlich hoch gegriffen habe. In dem Vorwort der neuen Auflage findet er die Hauptpersönlichkeiten nicht gewachsen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/442>, abgerufen am 08.05.2024.