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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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Menschenfrühling

von ihren Brüdern im Jenseits trennen möchten, wollen sie ihren alten Glauben
lieber nicht aufgeben. Der Christianisierung steht ferner auch die Polygamie
entgegen. Viele würden sich vielleicht taufen lassen, wenn sie ihre Weiber be¬
halten dürften, aber auch viele in den Missionen als Christen erzogne Araukaner
fallen rasch wieder ins Heidentum zurück, nachdem sie zu den Ihren zurück¬
gekehrt sind.

Das Andenken an eine Sintflut ist merkwürdigerweise bei ihnen erhalten.
Tödliche Krankheiten schrieben sie früher einer Vergiftung oder einer Hexerei
zu. Die angeblich schuldige Person wurde unter großen Feierlichkeiten und
unter Anrufung eines ihrer Orakel (Mandi) zu ermitteln gesucht. War sie er¬
mittelt, so wurde sie ergriffen, vor einen aus Kaziken und Stammesnltestcn ge¬
bildeten Rat gestellt und meist zum Feuertode verurteilt. Antiquitäten, die von
den Ureinwohnern herstammen, finden sich wenig mehr vor. Wahrscheinlich
haben die Spanier in blindem Fanatismus bei ihren Eroberungszttgen alles
zerstört, was ihrer Meinung nach auf das Heidentum Bezug hatte.

Die ganze Lebensanschauung wie Lebensführung der Indianer hat offenbar
einen großen Wandel erlitten. Daran ist hauptsächlich das von den Europäern
eingeführte Pferd schuld, dessen Benützung und Züchtung, wie ich schon erwähnt
habe, die Araukaner so schnell von ihren Feinden erlernten, daß sie wenig
Jahre nach dem Beginn der Eroberung die Spanier mit Reiterei schlagen konnten.
Erst der Gebrauch des Pferdes machte sie auch zu Herren der argentinischen
Pampas, die sie bis vor wenig Jahrzehnten geblieben sind. Noch heute ist
der Besitz eines gesattelten Pferdes der höchste Wunsch des Indianers, und
Pferdefleisch ist der feinste Festtagsbraten.

Mehr und mehr schmilzt die Zahl der chilenischen Indianer zusammen.
Sie dürsten heute kaum noch 50000 Köpfe betragen. Hauptsächlich wirkten und
wirken noch an dieser Dezimiernng europäische Laster und Krankheiten mit.
Die Zeit ist nicht mehr allzu fern, wo Chiles Ureinwohner der Geschichte an¬
gehören werden.




Menschenfrühling
Lharlotte Niese von(Fortsetzung)

!M andern Morgen waren alle Grübeleien vergessen, und als die
Sonne schien, wurden auch die Sorgen kleiner.

Rike Blüthen benahm sich auch im ganzen anständig.

I Also du bist gestern nicht gekommen, weil du keine Lust zum
Nähen hattest? fragte sie mit ihrer etwas zirpenden Stimme. Man
!muß immer Lust haben!

Hast du immer Lust zu allem? erkundigte sich Anneli, und die kleine Mamsell
sah sie betroffen an.

Liebes Kind, solche Fragen darf man nicht tun!

Ach nein. Anneli setzte sich an das Fenster und holte ihre Näharbeit hervor.
Natürlich, ich darf nicht fragen; Kinder dürfen gar nichts. Sie müssen immer
artig sein. Ich wollte, ich wäre kein Kind mehrt


Menschenfrühling

von ihren Brüdern im Jenseits trennen möchten, wollen sie ihren alten Glauben
lieber nicht aufgeben. Der Christianisierung steht ferner auch die Polygamie
entgegen. Viele würden sich vielleicht taufen lassen, wenn sie ihre Weiber be¬
halten dürften, aber auch viele in den Missionen als Christen erzogne Araukaner
fallen rasch wieder ins Heidentum zurück, nachdem sie zu den Ihren zurück¬
gekehrt sind.

Das Andenken an eine Sintflut ist merkwürdigerweise bei ihnen erhalten.
Tödliche Krankheiten schrieben sie früher einer Vergiftung oder einer Hexerei
zu. Die angeblich schuldige Person wurde unter großen Feierlichkeiten und
unter Anrufung eines ihrer Orakel (Mandi) zu ermitteln gesucht. War sie er¬
mittelt, so wurde sie ergriffen, vor einen aus Kaziken und Stammesnltestcn ge¬
bildeten Rat gestellt und meist zum Feuertode verurteilt. Antiquitäten, die von
den Ureinwohnern herstammen, finden sich wenig mehr vor. Wahrscheinlich
haben die Spanier in blindem Fanatismus bei ihren Eroberungszttgen alles
zerstört, was ihrer Meinung nach auf das Heidentum Bezug hatte.

Die ganze Lebensanschauung wie Lebensführung der Indianer hat offenbar
einen großen Wandel erlitten. Daran ist hauptsächlich das von den Europäern
eingeführte Pferd schuld, dessen Benützung und Züchtung, wie ich schon erwähnt
habe, die Araukaner so schnell von ihren Feinden erlernten, daß sie wenig
Jahre nach dem Beginn der Eroberung die Spanier mit Reiterei schlagen konnten.
Erst der Gebrauch des Pferdes machte sie auch zu Herren der argentinischen
Pampas, die sie bis vor wenig Jahrzehnten geblieben sind. Noch heute ist
der Besitz eines gesattelten Pferdes der höchste Wunsch des Indianers, und
Pferdefleisch ist der feinste Festtagsbraten.

Mehr und mehr schmilzt die Zahl der chilenischen Indianer zusammen.
Sie dürsten heute kaum noch 50000 Köpfe betragen. Hauptsächlich wirkten und
wirken noch an dieser Dezimiernng europäische Laster und Krankheiten mit.
Die Zeit ist nicht mehr allzu fern, wo Chiles Ureinwohner der Geschichte an¬
gehören werden.




Menschenfrühling
Lharlotte Niese von(Fortsetzung)

!M andern Morgen waren alle Grübeleien vergessen, und als die
Sonne schien, wurden auch die Sorgen kleiner.

Rike Blüthen benahm sich auch im ganzen anständig.

I Also du bist gestern nicht gekommen, weil du keine Lust zum
Nähen hattest? fragte sie mit ihrer etwas zirpenden Stimme. Man
!muß immer Lust haben!

Hast du immer Lust zu allem? erkundigte sich Anneli, und die kleine Mamsell
sah sie betroffen an.

Liebes Kind, solche Fragen darf man nicht tun!

Ach nein. Anneli setzte sich an das Fenster und holte ihre Näharbeit hervor.
Natürlich, ich darf nicht fragen; Kinder dürfen gar nichts. Sie müssen immer
artig sein. Ich wollte, ich wäre kein Kind mehrt


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[0744] Menschenfrühling von ihren Brüdern im Jenseits trennen möchten, wollen sie ihren alten Glauben lieber nicht aufgeben. Der Christianisierung steht ferner auch die Polygamie entgegen. Viele würden sich vielleicht taufen lassen, wenn sie ihre Weiber be¬ halten dürften, aber auch viele in den Missionen als Christen erzogne Araukaner fallen rasch wieder ins Heidentum zurück, nachdem sie zu den Ihren zurück¬ gekehrt sind. Das Andenken an eine Sintflut ist merkwürdigerweise bei ihnen erhalten. Tödliche Krankheiten schrieben sie früher einer Vergiftung oder einer Hexerei zu. Die angeblich schuldige Person wurde unter großen Feierlichkeiten und unter Anrufung eines ihrer Orakel (Mandi) zu ermitteln gesucht. War sie er¬ mittelt, so wurde sie ergriffen, vor einen aus Kaziken und Stammesnltestcn ge¬ bildeten Rat gestellt und meist zum Feuertode verurteilt. Antiquitäten, die von den Ureinwohnern herstammen, finden sich wenig mehr vor. Wahrscheinlich haben die Spanier in blindem Fanatismus bei ihren Eroberungszttgen alles zerstört, was ihrer Meinung nach auf das Heidentum Bezug hatte. Die ganze Lebensanschauung wie Lebensführung der Indianer hat offenbar einen großen Wandel erlitten. Daran ist hauptsächlich das von den Europäern eingeführte Pferd schuld, dessen Benützung und Züchtung, wie ich schon erwähnt habe, die Araukaner so schnell von ihren Feinden erlernten, daß sie wenig Jahre nach dem Beginn der Eroberung die Spanier mit Reiterei schlagen konnten. Erst der Gebrauch des Pferdes machte sie auch zu Herren der argentinischen Pampas, die sie bis vor wenig Jahrzehnten geblieben sind. Noch heute ist der Besitz eines gesattelten Pferdes der höchste Wunsch des Indianers, und Pferdefleisch ist der feinste Festtagsbraten. Mehr und mehr schmilzt die Zahl der chilenischen Indianer zusammen. Sie dürsten heute kaum noch 50000 Köpfe betragen. Hauptsächlich wirkten und wirken noch an dieser Dezimiernng europäische Laster und Krankheiten mit. Die Zeit ist nicht mehr allzu fern, wo Chiles Ureinwohner der Geschichte an¬ gehören werden. Menschenfrühling Lharlotte Niese von(Fortsetzung) !M andern Morgen waren alle Grübeleien vergessen, und als die Sonne schien, wurden auch die Sorgen kleiner. Rike Blüthen benahm sich auch im ganzen anständig. I Also du bist gestern nicht gekommen, weil du keine Lust zum Nähen hattest? fragte sie mit ihrer etwas zirpenden Stimme. Man !muß immer Lust haben! Hast du immer Lust zu allem? erkundigte sich Anneli, und die kleine Mamsell sah sie betroffen an. Liebes Kind, solche Fragen darf man nicht tun! Ach nein. Anneli setzte sich an das Fenster und holte ihre Näharbeit hervor. Natürlich, ich darf nicht fragen; Kinder dürfen gar nichts. Sie müssen immer artig sein. Ich wollte, ich wäre kein Kind mehrt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/744>, abgerufen am 08.05.2024.