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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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Frankreich vor den Wahlen

trinkt, wird mit Mißtrauen betrachtet, und es bedarf dann häufig nur noch
der Andeutung, daß er nicht regierungstreu oder daß er ein Ketzer sei, ihn zu
verderben.

Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das Elend der Bauern zum
großen Teil ihrer krassen Unwissenheit zuzuschreiben sei. Ohne Zweifel würde
eine bessere Schulbildung der Bauernbevölkerung die Augen öffnen und dazu
beitragen, sie allmählich in eine menschenwürdigere Lebenshaltung hinüber¬
zuführen. Hier aber muß man der Regierung wieder den Vorwurf machen,
daß sie für die Aufklärung ihrer Untertanen kein gleichmäßiges Interesse
zeigte. Hunderte von Schulen wurden unter Alexander dem Zweiten eröffnet,
aber eine ganze Anzahl sind unter Alexander dem Dritten als unnötig wieder
geschlossen worden. Darum herrscht im Volke eine große Unwissenheit, und uns
scheint der Zeitpunkt noch fern, wo es sich wirklich erfolgreich im öffentlichen
Leben beendigen könnte.

Als die Emanzipation verkündigt wurde, wähnte man den Anbruch einer
neuen Zeit. Das russische "System" hat die Hoffnungen zuschanden gemacht:
an Stelle des Grundherrn trat der despotische Staat, ein Tausch, bei dem der
Bauer wenig oder nichts gewann. Kein Volk der Erde hat so viel Geduld
und Ausdauer wie das russische, dessen blinder Gehorsam und vollkommne
Entsagungsfähigkeit fast sprichwörtlich geworden sind; dennoch kann man sich
nicht darüber wundern, wenn es unter so mißlichen Bedingungen unruhig zu
werden beginnt und mit seinem Wogenschlage das Reich zu erschüttern droht,
dessen eigentlichen Grundstein es bildet.


A. Sxanuth


Frankreich vor den Wahlen
(Schluß)

er Streit um Patrie und Armee droht heute die Franzosen noch
mehr zu entzweien als der Kampf um die Freiheit des Glaubens
und jakobinische Unduldsamkeit. Zum mindesten wird um die
Vaterlandsfrage lauter und wilder gerauft als um die Kirchen¬
politik. Der AntiPatriotismus ist die Folgerung aus dem kollek¬
tivistischen und marxistischen Programm, die vielen französischen Genossen als
die wichtigste erscheint. Die eigentlichen Theoretiker des neuen Evangeliums
sind die Lehrer. Sie sind zum großen Teil der Umsturzpartei verfallen und
b^den sog^ ihren verwegensten und unternehmungslustigsten Flügel. Auch
^can Jaures war jn Professor und ebenso Heron, Thalamas und andre
Apostel der Vaterlandsfeindschaft. Die Lehrer waren die verwöhnten Lieb-
ünge der combistischen Negierung, denn sie waren freiwillige Wahlagenten
für den Bion und die leidenschaftlichsten Feinde der Kirche. Da konnte man
sie wohl brauchen. Es begab sich aber, daß die Lehrer weiter vom Baum der
Erkenntnis aßen und fanden, daß die Sozialdemokratie ihnen doch noch viel


Grenzboten I 1906 10
Frankreich vor den Wahlen

trinkt, wird mit Mißtrauen betrachtet, und es bedarf dann häufig nur noch
der Andeutung, daß er nicht regierungstreu oder daß er ein Ketzer sei, ihn zu
verderben.

Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das Elend der Bauern zum
großen Teil ihrer krassen Unwissenheit zuzuschreiben sei. Ohne Zweifel würde
eine bessere Schulbildung der Bauernbevölkerung die Augen öffnen und dazu
beitragen, sie allmählich in eine menschenwürdigere Lebenshaltung hinüber¬
zuführen. Hier aber muß man der Regierung wieder den Vorwurf machen,
daß sie für die Aufklärung ihrer Untertanen kein gleichmäßiges Interesse
zeigte. Hunderte von Schulen wurden unter Alexander dem Zweiten eröffnet,
aber eine ganze Anzahl sind unter Alexander dem Dritten als unnötig wieder
geschlossen worden. Darum herrscht im Volke eine große Unwissenheit, und uns
scheint der Zeitpunkt noch fern, wo es sich wirklich erfolgreich im öffentlichen
Leben beendigen könnte.

Als die Emanzipation verkündigt wurde, wähnte man den Anbruch einer
neuen Zeit. Das russische „System" hat die Hoffnungen zuschanden gemacht:
an Stelle des Grundherrn trat der despotische Staat, ein Tausch, bei dem der
Bauer wenig oder nichts gewann. Kein Volk der Erde hat so viel Geduld
und Ausdauer wie das russische, dessen blinder Gehorsam und vollkommne
Entsagungsfähigkeit fast sprichwörtlich geworden sind; dennoch kann man sich
nicht darüber wundern, wenn es unter so mißlichen Bedingungen unruhig zu
werden beginnt und mit seinem Wogenschlage das Reich zu erschüttern droht,
dessen eigentlichen Grundstein es bildet.


A. Sxanuth


Frankreich vor den Wahlen
(Schluß)

er Streit um Patrie und Armee droht heute die Franzosen noch
mehr zu entzweien als der Kampf um die Freiheit des Glaubens
und jakobinische Unduldsamkeit. Zum mindesten wird um die
Vaterlandsfrage lauter und wilder gerauft als um die Kirchen¬
politik. Der AntiPatriotismus ist die Folgerung aus dem kollek¬
tivistischen und marxistischen Programm, die vielen französischen Genossen als
die wichtigste erscheint. Die eigentlichen Theoretiker des neuen Evangeliums
sind die Lehrer. Sie sind zum großen Teil der Umsturzpartei verfallen und
b^den sog^ ihren verwegensten und unternehmungslustigsten Flügel. Auch
^can Jaures war jn Professor und ebenso Heron, Thalamas und andre
Apostel der Vaterlandsfeindschaft. Die Lehrer waren die verwöhnten Lieb-
ünge der combistischen Negierung, denn sie waren freiwillige Wahlagenten
für den Bion und die leidenschaftlichsten Feinde der Kirche. Da konnte man
sie wohl brauchen. Es begab sich aber, daß die Lehrer weiter vom Baum der
Erkenntnis aßen und fanden, daß die Sozialdemokratie ihnen doch noch viel


Grenzboten I 1906 10
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[0081] Frankreich vor den Wahlen trinkt, wird mit Mißtrauen betrachtet, und es bedarf dann häufig nur noch der Andeutung, daß er nicht regierungstreu oder daß er ein Ketzer sei, ihn zu verderben. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das Elend der Bauern zum großen Teil ihrer krassen Unwissenheit zuzuschreiben sei. Ohne Zweifel würde eine bessere Schulbildung der Bauernbevölkerung die Augen öffnen und dazu beitragen, sie allmählich in eine menschenwürdigere Lebenshaltung hinüber¬ zuführen. Hier aber muß man der Regierung wieder den Vorwurf machen, daß sie für die Aufklärung ihrer Untertanen kein gleichmäßiges Interesse zeigte. Hunderte von Schulen wurden unter Alexander dem Zweiten eröffnet, aber eine ganze Anzahl sind unter Alexander dem Dritten als unnötig wieder geschlossen worden. Darum herrscht im Volke eine große Unwissenheit, und uns scheint der Zeitpunkt noch fern, wo es sich wirklich erfolgreich im öffentlichen Leben beendigen könnte. Als die Emanzipation verkündigt wurde, wähnte man den Anbruch einer neuen Zeit. Das russische „System" hat die Hoffnungen zuschanden gemacht: an Stelle des Grundherrn trat der despotische Staat, ein Tausch, bei dem der Bauer wenig oder nichts gewann. Kein Volk der Erde hat so viel Geduld und Ausdauer wie das russische, dessen blinder Gehorsam und vollkommne Entsagungsfähigkeit fast sprichwörtlich geworden sind; dennoch kann man sich nicht darüber wundern, wenn es unter so mißlichen Bedingungen unruhig zu werden beginnt und mit seinem Wogenschlage das Reich zu erschüttern droht, dessen eigentlichen Grundstein es bildet. A. Sxanuth Frankreich vor den Wahlen (Schluß) er Streit um Patrie und Armee droht heute die Franzosen noch mehr zu entzweien als der Kampf um die Freiheit des Glaubens und jakobinische Unduldsamkeit. Zum mindesten wird um die Vaterlandsfrage lauter und wilder gerauft als um die Kirchen¬ politik. Der AntiPatriotismus ist die Folgerung aus dem kollek¬ tivistischen und marxistischen Programm, die vielen französischen Genossen als die wichtigste erscheint. Die eigentlichen Theoretiker des neuen Evangeliums sind die Lehrer. Sie sind zum großen Teil der Umsturzpartei verfallen und b^den sog^ ihren verwegensten und unternehmungslustigsten Flügel. Auch ^can Jaures war jn Professor und ebenso Heron, Thalamas und andre Apostel der Vaterlandsfeindschaft. Die Lehrer waren die verwöhnten Lieb- ünge der combistischen Negierung, denn sie waren freiwillige Wahlagenten für den Bion und die leidenschaftlichsten Feinde der Kirche. Da konnte man sie wohl brauchen. Es begab sich aber, daß die Lehrer weiter vom Baum der Erkenntnis aßen und fanden, daß die Sozialdemokratie ihnen doch noch viel Grenzboten I 1906 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/81>, abgerufen am 08.05.2024.