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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

sich nähert, um so schwächer wird die Wirkung, macht jedoch, wenn man auf
geringe Entfernung herankommt, einem ganz andern Eindrucke Platz, denn je
weiter der Abhang erstiegen ist, um so mehr verspüren wir Überraschung und
Staunen, und schließlich am Fuße der großen Pyramide angelangt, überkommt
uns ein Gemisch von lebhaft gespannter Erregtheit und dumpfer Beklemmung.
Von dem Gipfel und den Ecken ist hier nichts mehr zu sehen. Unsre Em¬
pfindung ist keineswegs die Bewunderung, die uns vor einem künstlerischen
Meisterwerk überkommt, sondern wir sind im Innersten durchdrungen von der
schlichten Größe der Formen, von dem Gegensatze und dem Mißverhältnisse
zwischen menschlicher Körpergestalt und der Unermeßlichkeit dieses unüberseh¬
baren, ja fast unbegreiflichen Menschenwerkes. Man fängt an, Hochachtung
vor diesem zu ungeheurer Höhe aufgestapelten Haufen von Quadersteinen zu
bekommen, sieht zu Hunderten Schichten von zweihundert Kubikfuß und drei¬
hundert Zentnern schwer, sieht tausend andre, die ihnen nichts nachgeben, be¬
fühlt sie und versucht zu begreifen, welche Kraft diese Unzahl von Riesenblöcken
bewegt, gewälzt und gehoben, welche Menge von Menschen daran gearbeitet,
was für Zeit, was für Maschinen man dazu gebraucht haben mag, und je un¬
erklärlicher das alles wird, um so mehr bewundert man die Macht, der solche
Hindernisse ein Spiel waren."




Menschenfrühling
Lharlotte Niese von(Fortsetzung)

inneli hatte immer noch mit Heimweh nach Falkenhorst zu kämpfen
gehabt. Weshalb war sie eigentlich von dort weggegangen? Sie
konnte es kaum begreifen. Dann aber fiel ihr ein, daß sie doch
Gouvernante werden müßte und also nicht unter die reichen Leute
paßte. Und dann schrieb Bernb ihr einen Brief, der zu ihrer Freude
lebensoviele orthographische Fehler enthielt, als ob sie ihn verfaßt
hätte. Darin meldete er, daß alle Falkenbergs auf Reisen gehn würden. Sogar
die Großmutter begleitete sie und auch, leider, Herr Lindemann. Bernds Mutter
war es in der letzten Zeit nicht gut gegangen. Nun hatte ihr der Arzt zuerst
einen Aufenthalt in den Bergen und dann einen solchen im Süden verordnet, und
sie wollte nicht ohne ihre ganze Familie reisen.

Also war es doch gut, daß Anneli wieder in der kleinen Stadt und bei Onkel
Willi war. Die alte Frau von Falkenberg schrieb ihr einige Worte, sprach diesen
Gedanken aus und ermahnte sie, recht fleißig und artig zu sein.

Anneli hatte die kritzligen Schriftzüge nicht lesen können und zu Onkel Willi
gebracht, der ihr die wenigen Worte vorlas.

Nun nickte sie und sagte: Natürlich!

Was ist natürlich? erkundigte sich der Hofrat.

Dan ich artig sein soll und fleißig. Alle Leute ernähren mich immer.

Es ist die Hauptsache im Leben, sagte der Onkel.

Bist du immer fleißig und artig gewesen, Onkel Willi?

Nein, entgegnete er ernsthaft. Ich bin es auch heute noch nicht. Die meisten
Menschen sind faul und unartig, und ich gehöre zu ihnen. Aber wenn man alt


Menschenfrühling

sich nähert, um so schwächer wird die Wirkung, macht jedoch, wenn man auf
geringe Entfernung herankommt, einem ganz andern Eindrucke Platz, denn je
weiter der Abhang erstiegen ist, um so mehr verspüren wir Überraschung und
Staunen, und schließlich am Fuße der großen Pyramide angelangt, überkommt
uns ein Gemisch von lebhaft gespannter Erregtheit und dumpfer Beklemmung.
Von dem Gipfel und den Ecken ist hier nichts mehr zu sehen. Unsre Em¬
pfindung ist keineswegs die Bewunderung, die uns vor einem künstlerischen
Meisterwerk überkommt, sondern wir sind im Innersten durchdrungen von der
schlichten Größe der Formen, von dem Gegensatze und dem Mißverhältnisse
zwischen menschlicher Körpergestalt und der Unermeßlichkeit dieses unüberseh¬
baren, ja fast unbegreiflichen Menschenwerkes. Man fängt an, Hochachtung
vor diesem zu ungeheurer Höhe aufgestapelten Haufen von Quadersteinen zu
bekommen, sieht zu Hunderten Schichten von zweihundert Kubikfuß und drei¬
hundert Zentnern schwer, sieht tausend andre, die ihnen nichts nachgeben, be¬
fühlt sie und versucht zu begreifen, welche Kraft diese Unzahl von Riesenblöcken
bewegt, gewälzt und gehoben, welche Menge von Menschen daran gearbeitet,
was für Zeit, was für Maschinen man dazu gebraucht haben mag, und je un¬
erklärlicher das alles wird, um so mehr bewundert man die Macht, der solche
Hindernisse ein Spiel waren."




Menschenfrühling
Lharlotte Niese von(Fortsetzung)

inneli hatte immer noch mit Heimweh nach Falkenhorst zu kämpfen
gehabt. Weshalb war sie eigentlich von dort weggegangen? Sie
konnte es kaum begreifen. Dann aber fiel ihr ein, daß sie doch
Gouvernante werden müßte und also nicht unter die reichen Leute
paßte. Und dann schrieb Bernb ihr einen Brief, der zu ihrer Freude
lebensoviele orthographische Fehler enthielt, als ob sie ihn verfaßt
hätte. Darin meldete er, daß alle Falkenbergs auf Reisen gehn würden. Sogar
die Großmutter begleitete sie und auch, leider, Herr Lindemann. Bernds Mutter
war es in der letzten Zeit nicht gut gegangen. Nun hatte ihr der Arzt zuerst
einen Aufenthalt in den Bergen und dann einen solchen im Süden verordnet, und
sie wollte nicht ohne ihre ganze Familie reisen.

Also war es doch gut, daß Anneli wieder in der kleinen Stadt und bei Onkel
Willi war. Die alte Frau von Falkenberg schrieb ihr einige Worte, sprach diesen
Gedanken aus und ermahnte sie, recht fleißig und artig zu sein.

Anneli hatte die kritzligen Schriftzüge nicht lesen können und zu Onkel Willi
gebracht, der ihr die wenigen Worte vorlas.

Nun nickte sie und sagte: Natürlich!

Was ist natürlich? erkundigte sich der Hofrat.

Dan ich artig sein soll und fleißig. Alle Leute ernähren mich immer.

Es ist die Hauptsache im Leben, sagte der Onkel.

Bist du immer fleißig und artig gewesen, Onkel Willi?

Nein, entgegnete er ernsthaft. Ich bin es auch heute noch nicht. Die meisten
Menschen sind faul und unartig, und ich gehöre zu ihnen. Aber wenn man alt


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[0339] Menschenfrühling sich nähert, um so schwächer wird die Wirkung, macht jedoch, wenn man auf geringe Entfernung herankommt, einem ganz andern Eindrucke Platz, denn je weiter der Abhang erstiegen ist, um so mehr verspüren wir Überraschung und Staunen, und schließlich am Fuße der großen Pyramide angelangt, überkommt uns ein Gemisch von lebhaft gespannter Erregtheit und dumpfer Beklemmung. Von dem Gipfel und den Ecken ist hier nichts mehr zu sehen. Unsre Em¬ pfindung ist keineswegs die Bewunderung, die uns vor einem künstlerischen Meisterwerk überkommt, sondern wir sind im Innersten durchdrungen von der schlichten Größe der Formen, von dem Gegensatze und dem Mißverhältnisse zwischen menschlicher Körpergestalt und der Unermeßlichkeit dieses unüberseh¬ baren, ja fast unbegreiflichen Menschenwerkes. Man fängt an, Hochachtung vor diesem zu ungeheurer Höhe aufgestapelten Haufen von Quadersteinen zu bekommen, sieht zu Hunderten Schichten von zweihundert Kubikfuß und drei¬ hundert Zentnern schwer, sieht tausend andre, die ihnen nichts nachgeben, be¬ fühlt sie und versucht zu begreifen, welche Kraft diese Unzahl von Riesenblöcken bewegt, gewälzt und gehoben, welche Menge von Menschen daran gearbeitet, was für Zeit, was für Maschinen man dazu gebraucht haben mag, und je un¬ erklärlicher das alles wird, um so mehr bewundert man die Macht, der solche Hindernisse ein Spiel waren." Menschenfrühling Lharlotte Niese von(Fortsetzung) inneli hatte immer noch mit Heimweh nach Falkenhorst zu kämpfen gehabt. Weshalb war sie eigentlich von dort weggegangen? Sie konnte es kaum begreifen. Dann aber fiel ihr ein, daß sie doch Gouvernante werden müßte und also nicht unter die reichen Leute paßte. Und dann schrieb Bernb ihr einen Brief, der zu ihrer Freude lebensoviele orthographische Fehler enthielt, als ob sie ihn verfaßt hätte. Darin meldete er, daß alle Falkenbergs auf Reisen gehn würden. Sogar die Großmutter begleitete sie und auch, leider, Herr Lindemann. Bernds Mutter war es in der letzten Zeit nicht gut gegangen. Nun hatte ihr der Arzt zuerst einen Aufenthalt in den Bergen und dann einen solchen im Süden verordnet, und sie wollte nicht ohne ihre ganze Familie reisen. Also war es doch gut, daß Anneli wieder in der kleinen Stadt und bei Onkel Willi war. Die alte Frau von Falkenberg schrieb ihr einige Worte, sprach diesen Gedanken aus und ermahnte sie, recht fleißig und artig zu sein. Anneli hatte die kritzligen Schriftzüge nicht lesen können und zu Onkel Willi gebracht, der ihr die wenigen Worte vorlas. Nun nickte sie und sagte: Natürlich! Was ist natürlich? erkundigte sich der Hofrat. Dan ich artig sein soll und fleißig. Alle Leute ernähren mich immer. Es ist die Hauptsache im Leben, sagte der Onkel. Bist du immer fleißig und artig gewesen, Onkel Willi? Nein, entgegnete er ernsthaft. Ich bin es auch heute noch nicht. Die meisten Menschen sind faul und unartig, und ich gehöre zu ihnen. Aber wenn man alt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/339>, abgerufen am 04.05.2024.