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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vom Zukunftsstaat

err Jaures, die wissenschaftliche Leuchte der vereinigten Sozial¬
demokratie Frankreichs, hat es unternommen, das verschleierte
Bild des Zukunftsstaats zu enthüllen. Wochenlang vorher wurde
das große Ereignis angekündigt, und nicht nur die Neugierigen
! waren darauf gespannt. Die Zusammensetzung der neuen fran¬
zösischen Kammer ermöglicht es der gegenwärtigen Regierung, zur Not eine
Majorität ohne die Sozialdemokratie zu bilden; jedoch ist diese Basis zu schmal
und zu unsicher, als daß nicht Wert darauf gelegt werden sollte, die Sozial¬
demokratie, wenn irgend möglich, für die Blockidee und damit für die Negierungs-
politik wieder einzufangen. Andrerseits ist es die Sozialdemokratie müde, immer
nur dem bürgerlichen Radikalismus zur Stütze zu dienen; sie stellt als Preis
für ein ferneres Zusammengehn das Verlangen, daß mit der Verwirklichung
ihrer eigensten Wünsche endlich ein Anfang gemacht werde. Ob und wie weit
dieses im Bereiche der Möglichkeit liege, mußte die Jauressche Rede offen¬
baren. Alle politischen Parteien in Frankreich hatten also an dem Inhalte dieser
Offenbarung ein starkes Interesse. Aber auch die Aufmerksamkeit des Aus¬
landes wurde in Anspruch genommen. Insbesondre uns in Deutschland mußte
es angesichts der nicht nur in der Theorie, sondern auch schon in der Praxis
zik beobachtenden Annäherungsversuche zwischen bürgerlichem Liberalismus und
Sozialdemokratie reizen, zu sehen, wie sich eine solche Annäherung im weitern
Verfolge gestalten werde. In Wirklichkeit ist nun freilich die "große Rede"
des sozialdemokratischen Führers, was ihren programmatischen Teil anlangt,
ziemlich dürftig ausgefallen. Ganz überwiegend war sie eine schonungslose An¬
klage gegen die Regierung, deren Behandlung der streikenden Bergarbeiter nicht
schärfer hätte verurteilt werden können, wenn der Redner statt des sozialistischen
Radikalen Clemencecm einen Minister des Innern aus der schwärzesten Reaktion
vor sich gehabt hätte. Aber der "positive" Kern der Jcmresschen Ausführungen
ist doch interessant genug, eine nähere Beleuchtung zu rechtfertigen.

Herr Jaures ist, obgleich ihn jetzt mit dem zur gewaltsamen Revolution
neigenden Guesde ein gemeinsames Pardelhaut umschließt, auch heute noch der
Vertreter einer möglichst friedlichen Evolution. Seine Kritik des gegenwärtigen
Systems hat demgemäß auch keineswegs den Zweck gehabt, der Regierung den
Krieg bis aufs Messer zu erklären, sondern er hat ohne Zweifel Kons, na"z zeigen
wollen, wie es möglich sei, die heutige Gesellschaft ohne besonders schmerzhafte




Vom Zukunftsstaat

err Jaures, die wissenschaftliche Leuchte der vereinigten Sozial¬
demokratie Frankreichs, hat es unternommen, das verschleierte
Bild des Zukunftsstaats zu enthüllen. Wochenlang vorher wurde
das große Ereignis angekündigt, und nicht nur die Neugierigen
! waren darauf gespannt. Die Zusammensetzung der neuen fran¬
zösischen Kammer ermöglicht es der gegenwärtigen Regierung, zur Not eine
Majorität ohne die Sozialdemokratie zu bilden; jedoch ist diese Basis zu schmal
und zu unsicher, als daß nicht Wert darauf gelegt werden sollte, die Sozial¬
demokratie, wenn irgend möglich, für die Blockidee und damit für die Negierungs-
politik wieder einzufangen. Andrerseits ist es die Sozialdemokratie müde, immer
nur dem bürgerlichen Radikalismus zur Stütze zu dienen; sie stellt als Preis
für ein ferneres Zusammengehn das Verlangen, daß mit der Verwirklichung
ihrer eigensten Wünsche endlich ein Anfang gemacht werde. Ob und wie weit
dieses im Bereiche der Möglichkeit liege, mußte die Jauressche Rede offen¬
baren. Alle politischen Parteien in Frankreich hatten also an dem Inhalte dieser
Offenbarung ein starkes Interesse. Aber auch die Aufmerksamkeit des Aus¬
landes wurde in Anspruch genommen. Insbesondre uns in Deutschland mußte
es angesichts der nicht nur in der Theorie, sondern auch schon in der Praxis
zik beobachtenden Annäherungsversuche zwischen bürgerlichem Liberalismus und
Sozialdemokratie reizen, zu sehen, wie sich eine solche Annäherung im weitern
Verfolge gestalten werde. In Wirklichkeit ist nun freilich die „große Rede"
des sozialdemokratischen Führers, was ihren programmatischen Teil anlangt,
ziemlich dürftig ausgefallen. Ganz überwiegend war sie eine schonungslose An¬
klage gegen die Regierung, deren Behandlung der streikenden Bergarbeiter nicht
schärfer hätte verurteilt werden können, wenn der Redner statt des sozialistischen
Radikalen Clemencecm einen Minister des Innern aus der schwärzesten Reaktion
vor sich gehabt hätte. Aber der „positive" Kern der Jcmresschen Ausführungen
ist doch interessant genug, eine nähere Beleuchtung zu rechtfertigen.

Herr Jaures ist, obgleich ihn jetzt mit dem zur gewaltsamen Revolution
neigenden Guesde ein gemeinsames Pardelhaut umschließt, auch heute noch der
Vertreter einer möglichst friedlichen Evolution. Seine Kritik des gegenwärtigen
Systems hat demgemäß auch keineswegs den Zweck gehabt, der Regierung den
Krieg bis aufs Messer zu erklären, sondern er hat ohne Zweifel Kons, na«z zeigen
wollen, wie es möglich sei, die heutige Gesellschaft ohne besonders schmerzhafte


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[0130] [Abbildung] Vom Zukunftsstaat err Jaures, die wissenschaftliche Leuchte der vereinigten Sozial¬ demokratie Frankreichs, hat es unternommen, das verschleierte Bild des Zukunftsstaats zu enthüllen. Wochenlang vorher wurde das große Ereignis angekündigt, und nicht nur die Neugierigen ! waren darauf gespannt. Die Zusammensetzung der neuen fran¬ zösischen Kammer ermöglicht es der gegenwärtigen Regierung, zur Not eine Majorität ohne die Sozialdemokratie zu bilden; jedoch ist diese Basis zu schmal und zu unsicher, als daß nicht Wert darauf gelegt werden sollte, die Sozial¬ demokratie, wenn irgend möglich, für die Blockidee und damit für die Negierungs- politik wieder einzufangen. Andrerseits ist es die Sozialdemokratie müde, immer nur dem bürgerlichen Radikalismus zur Stütze zu dienen; sie stellt als Preis für ein ferneres Zusammengehn das Verlangen, daß mit der Verwirklichung ihrer eigensten Wünsche endlich ein Anfang gemacht werde. Ob und wie weit dieses im Bereiche der Möglichkeit liege, mußte die Jauressche Rede offen¬ baren. Alle politischen Parteien in Frankreich hatten also an dem Inhalte dieser Offenbarung ein starkes Interesse. Aber auch die Aufmerksamkeit des Aus¬ landes wurde in Anspruch genommen. Insbesondre uns in Deutschland mußte es angesichts der nicht nur in der Theorie, sondern auch schon in der Praxis zik beobachtenden Annäherungsversuche zwischen bürgerlichem Liberalismus und Sozialdemokratie reizen, zu sehen, wie sich eine solche Annäherung im weitern Verfolge gestalten werde. In Wirklichkeit ist nun freilich die „große Rede" des sozialdemokratischen Führers, was ihren programmatischen Teil anlangt, ziemlich dürftig ausgefallen. Ganz überwiegend war sie eine schonungslose An¬ klage gegen die Regierung, deren Behandlung der streikenden Bergarbeiter nicht schärfer hätte verurteilt werden können, wenn der Redner statt des sozialistischen Radikalen Clemencecm einen Minister des Innern aus der schwärzesten Reaktion vor sich gehabt hätte. Aber der „positive" Kern der Jcmresschen Ausführungen ist doch interessant genug, eine nähere Beleuchtung zu rechtfertigen. Herr Jaures ist, obgleich ihn jetzt mit dem zur gewaltsamen Revolution neigenden Guesde ein gemeinsames Pardelhaut umschließt, auch heute noch der Vertreter einer möglichst friedlichen Evolution. Seine Kritik des gegenwärtigen Systems hat demgemäß auch keineswegs den Zweck gehabt, der Regierung den Krieg bis aufs Messer zu erklären, sondern er hat ohne Zweifel Kons, na«z zeigen wollen, wie es möglich sei, die heutige Gesellschaft ohne besonders schmerzhafte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/130>, abgerufen am 30.04.2024.