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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

bemerken wir, daß Herr Desdevises auch mit großem Eifer die Universitäts¬
ausdehnung betreibt und mit vier Kollegen in Clermont Kurse volkstümlicher
Vorträge organisiert hat. Er findet Frankreich rückständig in Beziehung auf
die Volksbildung und preist die skandinavischen Staaten, weil in ihnen die
Volksbildung am höchsten stehe (und stehn kann, weil ihre Bewohner größten¬
teils wohlhabende Bauern, nicht Lohnarbeiter sind). Gesinnungsgenossen von
ihm haben in Paris eine ^sMviation ?rg,ne,0-8eÄväing,of gegründet, und er
schätzt sich glücklich, daß er eine Abordnung von schwedischen und dänischen
Professoren und Studenten hat in Clermont begrüßen und mit der Auvergne
bekannt machen können.




Die Physiognomie der russischen Sprache
Gustav Weck von(Schluß)

le Schwierigkeit des Russischen bleibt unbestreitbar, auch wenn
man sie nicht an dem Maßstabe messen will, den der Verfasser
der ersten baskischen Grammatik an sein Werk legte, indem er
ihm den Untertitel: "Die überwundne Unmöglichkeit" gab.
Dafür hat die Sprache aber auch ihre ausgeprägte geistige Art.
Obwohl zum Ausdruck jeder Seelenstimmung geschickt, trägt sie doch vor allem
den Stempel des Traulichen und naiven, in vollem Einklang mit dem Volks¬
charakter selbst. Wohl mag es heute, wo die durch Revolution und Gegen¬
revolution hervorgerufnen Greuelszenen die Gemüter der Zeitgenossen belasten,
gewagt erscheinen, von russischer Gutherzigkeit zu reden. Aber auch der ehe¬
malige Tomsker Professor des Staatsrechts, M. von Reußner, der in den
härtesten Ausdrücken -- und nicht immer mit Unrecht -- von der Regierung
und den Tschinowniks im allgemeinen redet, hebt in seinem kürzlich veröffent¬
lichten Buche "Die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit" diesen Grundzug
des nationalen Wesens hervor, der sich in wunderlicher Weise mit den bar¬
barischen Gepflogenheiten des Einzelnen oder der Regierungsform vermischt. *)
Der Russe wird im Rausch der Leidenschaft oder auch des Alkohols, vielleicht
in Ausübung seines fast immer nur mechanisch erfaßten Amtes leicht zum Tot¬
schläger -- selten zum feigen Mörder --, aber er geht mit heißen Tränen



*) "Eine der sonderbarsten Eigentümlichkeiten des russischen Lebens besteht darin, daß
Verbrechen hier von friedliebenden und sogar aufgeklärten Menschen begangen werden. . . . Die
Lage ist darum entsetzlich, weil ein guter Familienvater Kinder niederschießen läßt, weil sich
ein guter Erzieher in einen Spitzel verwandelt und ein eifriger Staatsanwalt seine Rolle mit
,
A. a. O., S. 21. der eines Henkers und Mörders vertauscht."
Die Physiognomie der russischen Sprache

bemerken wir, daß Herr Desdevises auch mit großem Eifer die Universitäts¬
ausdehnung betreibt und mit vier Kollegen in Clermont Kurse volkstümlicher
Vorträge organisiert hat. Er findet Frankreich rückständig in Beziehung auf
die Volksbildung und preist die skandinavischen Staaten, weil in ihnen die
Volksbildung am höchsten stehe (und stehn kann, weil ihre Bewohner größten¬
teils wohlhabende Bauern, nicht Lohnarbeiter sind). Gesinnungsgenossen von
ihm haben in Paris eine ^sMviation ?rg,ne,0-8eÄväing,of gegründet, und er
schätzt sich glücklich, daß er eine Abordnung von schwedischen und dänischen
Professoren und Studenten hat in Clermont begrüßen und mit der Auvergne
bekannt machen können.




Die Physiognomie der russischen Sprache
Gustav Weck von(Schluß)

le Schwierigkeit des Russischen bleibt unbestreitbar, auch wenn
man sie nicht an dem Maßstabe messen will, den der Verfasser
der ersten baskischen Grammatik an sein Werk legte, indem er
ihm den Untertitel: „Die überwundne Unmöglichkeit" gab.
Dafür hat die Sprache aber auch ihre ausgeprägte geistige Art.
Obwohl zum Ausdruck jeder Seelenstimmung geschickt, trägt sie doch vor allem
den Stempel des Traulichen und naiven, in vollem Einklang mit dem Volks¬
charakter selbst. Wohl mag es heute, wo die durch Revolution und Gegen¬
revolution hervorgerufnen Greuelszenen die Gemüter der Zeitgenossen belasten,
gewagt erscheinen, von russischer Gutherzigkeit zu reden. Aber auch der ehe¬
malige Tomsker Professor des Staatsrechts, M. von Reußner, der in den
härtesten Ausdrücken — und nicht immer mit Unrecht — von der Regierung
und den Tschinowniks im allgemeinen redet, hebt in seinem kürzlich veröffent¬
lichten Buche „Die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit" diesen Grundzug
des nationalen Wesens hervor, der sich in wunderlicher Weise mit den bar¬
barischen Gepflogenheiten des Einzelnen oder der Regierungsform vermischt. *)
Der Russe wird im Rausch der Leidenschaft oder auch des Alkohols, vielleicht
in Ausübung seines fast immer nur mechanisch erfaßten Amtes leicht zum Tot¬
schläger — selten zum feigen Mörder —, aber er geht mit heißen Tränen



*) „Eine der sonderbarsten Eigentümlichkeiten des russischen Lebens besteht darin, daß
Verbrechen hier von friedliebenden und sogar aufgeklärten Menschen begangen werden. . . . Die
Lage ist darum entsetzlich, weil ein guter Familienvater Kinder niederschießen läßt, weil sich
ein guter Erzieher in einen Spitzel verwandelt und ein eifriger Staatsanwalt seine Rolle mit
,
A. a. O., S. 21. der eines Henkers und Mörders vertauscht."
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[0206] Die Physiognomie der russischen Sprache bemerken wir, daß Herr Desdevises auch mit großem Eifer die Universitäts¬ ausdehnung betreibt und mit vier Kollegen in Clermont Kurse volkstümlicher Vorträge organisiert hat. Er findet Frankreich rückständig in Beziehung auf die Volksbildung und preist die skandinavischen Staaten, weil in ihnen die Volksbildung am höchsten stehe (und stehn kann, weil ihre Bewohner größten¬ teils wohlhabende Bauern, nicht Lohnarbeiter sind). Gesinnungsgenossen von ihm haben in Paris eine ^sMviation ?rg,ne,0-8eÄväing,of gegründet, und er schätzt sich glücklich, daß er eine Abordnung von schwedischen und dänischen Professoren und Studenten hat in Clermont begrüßen und mit der Auvergne bekannt machen können. Die Physiognomie der russischen Sprache Gustav Weck von(Schluß) le Schwierigkeit des Russischen bleibt unbestreitbar, auch wenn man sie nicht an dem Maßstabe messen will, den der Verfasser der ersten baskischen Grammatik an sein Werk legte, indem er ihm den Untertitel: „Die überwundne Unmöglichkeit" gab. Dafür hat die Sprache aber auch ihre ausgeprägte geistige Art. Obwohl zum Ausdruck jeder Seelenstimmung geschickt, trägt sie doch vor allem den Stempel des Traulichen und naiven, in vollem Einklang mit dem Volks¬ charakter selbst. Wohl mag es heute, wo die durch Revolution und Gegen¬ revolution hervorgerufnen Greuelszenen die Gemüter der Zeitgenossen belasten, gewagt erscheinen, von russischer Gutherzigkeit zu reden. Aber auch der ehe¬ malige Tomsker Professor des Staatsrechts, M. von Reußner, der in den härtesten Ausdrücken — und nicht immer mit Unrecht — von der Regierung und den Tschinowniks im allgemeinen redet, hebt in seinem kürzlich veröffent¬ lichten Buche „Die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit" diesen Grundzug des nationalen Wesens hervor, der sich in wunderlicher Weise mit den bar¬ barischen Gepflogenheiten des Einzelnen oder der Regierungsform vermischt. *) Der Russe wird im Rausch der Leidenschaft oder auch des Alkohols, vielleicht in Ausübung seines fast immer nur mechanisch erfaßten Amtes leicht zum Tot¬ schläger — selten zum feigen Mörder —, aber er geht mit heißen Tränen *) „Eine der sonderbarsten Eigentümlichkeiten des russischen Lebens besteht darin, daß Verbrechen hier von friedliebenden und sogar aufgeklärten Menschen begangen werden. . . . Die Lage ist darum entsetzlich, weil ein guter Familienvater Kinder niederschießen läßt, weil sich ein guter Erzieher in einen Spitzel verwandelt und ein eifriger Staatsanwalt seine Rolle mit , A. a. O., S. 21. der eines Henkers und Mörders vertauscht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/206>, abgerufen am 30.04.2024.