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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Verunstaltung des deutschen Liedes

literatur mit herbeigeführt worden sei. Diese Frage ist unhistorisch, da Zustände
überhaupt nur dann wirken können, wenn von jemand die Aufmerksamkeit darauf
gelenkt wird; jenes besorgen die großen Geister, dieses kann durch gewöhnliche
Menschen geschehn, und so war es auch hier: die französische Revolution war
längst durch große Schriftsteller vorbereitet, aber gemacht und geleitet wurde
sie fast allein durch untergeordnete Menschen, die die öffentliche Meinung
-- kritiklos, aber einmütig und gefürchtet -- vertraten. Bemerkenswert ist hierbei,
daß alle Gebildeten des kmvisn rsAiniö in denselben Gedankenkreisen lebten,
für die Tanne den zusammenfassenden Ausdruck Lsxrit olasLiqnö gefunden hat,
wahrend Adalbert Wahl dafür richtiger Individualismus sagt. Denn schon in
der Renaissance, der Geburtszeit des modernen Menschen, findet man, wenigstens
unter den vornehmsten Vertretern Italiens, den ausgesprochnen Hang, sich von
Staat und Kirche loszusagen und sich seine eignen Normen als Lebenszweck zu
setzen. In Frankreich kam dieser Drang, freie und große Ideale für die eigne
Person aufzustellen, erst später zum Vorschein, im achtzehnten Jahrhundert aber
desto mächtiger und allgemeiner, also demokratischer, wenn auch der Bauer zu¬
nächst noch keinen Teil daran hatte. Nach Voltaire ist "der Staat nichts als
ein Phantom und nichts als die Summe der Einzelnen. Die Kirche und der
Staat haben keinen Zweck, keinen Sinn, wenn sie nicht auch Einzelnen dienen.
Was sie bisher zu unternehmen pflegten, waren meist sinnlose Greuel, Ver¬
folgung und Krieg, grausame Bestrafung und Vernichtung von Einzelnen, wozu
kein Recht vorhanden war; der Wohlfahrt des Einzelnen haben sie selten oder
nie gedient. Lor^s? l'irMins. Nieder mit dem Staat!" Der Gedanke an Re¬
formen trat mehr und mehr hinter dem zurück, die Kirche zu zerstören und den
Staat zu unterjochen; als aber 1793 dieser Gedanke verwirklicht wurde, zeigte
es sich, daß der neue Staat weit härter und grausamer verfuhr als der furcht¬
barste Absolutismus.




Die Verunstaltung des deutschen Liedes

uf den, musikpädagogischen Kongresse in Berlin im April dieses
Jahres wandte sich der Schulinspektor Fricke aus Hamburg gegen
die Verunstaltung der Volkslieder und führte einige Beispiele als
Beweise an. Die Stelle: Was mag der Traum bedeuten, mein
Liebchen, bist dn tot! ist verballhornt in: Was soll das Laub
bedeuten, das fahle Sommerland? In einem andern Liede heißt es: O Mägdlein,
wie falsch ist dein Gemüte! Diese Stelle ist einfach gestrichen worden. Das Lied:
An der Saale Hellem Strande -- darf überhaupt nicht mehr gesungen werden,
weil es darin heißt: Tücher wehen in der Luft! Auch das Lied: O Straßburg --


Die Verunstaltung des deutschen Liedes

literatur mit herbeigeführt worden sei. Diese Frage ist unhistorisch, da Zustände
überhaupt nur dann wirken können, wenn von jemand die Aufmerksamkeit darauf
gelenkt wird; jenes besorgen die großen Geister, dieses kann durch gewöhnliche
Menschen geschehn, und so war es auch hier: die französische Revolution war
längst durch große Schriftsteller vorbereitet, aber gemacht und geleitet wurde
sie fast allein durch untergeordnete Menschen, die die öffentliche Meinung
— kritiklos, aber einmütig und gefürchtet — vertraten. Bemerkenswert ist hierbei,
daß alle Gebildeten des kmvisn rsAiniö in denselben Gedankenkreisen lebten,
für die Tanne den zusammenfassenden Ausdruck Lsxrit olasLiqnö gefunden hat,
wahrend Adalbert Wahl dafür richtiger Individualismus sagt. Denn schon in
der Renaissance, der Geburtszeit des modernen Menschen, findet man, wenigstens
unter den vornehmsten Vertretern Italiens, den ausgesprochnen Hang, sich von
Staat und Kirche loszusagen und sich seine eignen Normen als Lebenszweck zu
setzen. In Frankreich kam dieser Drang, freie und große Ideale für die eigne
Person aufzustellen, erst später zum Vorschein, im achtzehnten Jahrhundert aber
desto mächtiger und allgemeiner, also demokratischer, wenn auch der Bauer zu¬
nächst noch keinen Teil daran hatte. Nach Voltaire ist „der Staat nichts als
ein Phantom und nichts als die Summe der Einzelnen. Die Kirche und der
Staat haben keinen Zweck, keinen Sinn, wenn sie nicht auch Einzelnen dienen.
Was sie bisher zu unternehmen pflegten, waren meist sinnlose Greuel, Ver¬
folgung und Krieg, grausame Bestrafung und Vernichtung von Einzelnen, wozu
kein Recht vorhanden war; der Wohlfahrt des Einzelnen haben sie selten oder
nie gedient. Lor^s? l'irMins. Nieder mit dem Staat!" Der Gedanke an Re¬
formen trat mehr und mehr hinter dem zurück, die Kirche zu zerstören und den
Staat zu unterjochen; als aber 1793 dieser Gedanke verwirklicht wurde, zeigte
es sich, daß der neue Staat weit härter und grausamer verfuhr als der furcht¬
barste Absolutismus.




Die Verunstaltung des deutschen Liedes

uf den, musikpädagogischen Kongresse in Berlin im April dieses
Jahres wandte sich der Schulinspektor Fricke aus Hamburg gegen
die Verunstaltung der Volkslieder und führte einige Beispiele als
Beweise an. Die Stelle: Was mag der Traum bedeuten, mein
Liebchen, bist dn tot! ist verballhornt in: Was soll das Laub
bedeuten, das fahle Sommerland? In einem andern Liede heißt es: O Mägdlein,
wie falsch ist dein Gemüte! Diese Stelle ist einfach gestrichen worden. Das Lied:
An der Saale Hellem Strande — darf überhaupt nicht mehr gesungen werden,
weil es darin heißt: Tücher wehen in der Luft! Auch das Lied: O Straßburg —


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[0258] Die Verunstaltung des deutschen Liedes literatur mit herbeigeführt worden sei. Diese Frage ist unhistorisch, da Zustände überhaupt nur dann wirken können, wenn von jemand die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird; jenes besorgen die großen Geister, dieses kann durch gewöhnliche Menschen geschehn, und so war es auch hier: die französische Revolution war längst durch große Schriftsteller vorbereitet, aber gemacht und geleitet wurde sie fast allein durch untergeordnete Menschen, die die öffentliche Meinung — kritiklos, aber einmütig und gefürchtet — vertraten. Bemerkenswert ist hierbei, daß alle Gebildeten des kmvisn rsAiniö in denselben Gedankenkreisen lebten, für die Tanne den zusammenfassenden Ausdruck Lsxrit olasLiqnö gefunden hat, wahrend Adalbert Wahl dafür richtiger Individualismus sagt. Denn schon in der Renaissance, der Geburtszeit des modernen Menschen, findet man, wenigstens unter den vornehmsten Vertretern Italiens, den ausgesprochnen Hang, sich von Staat und Kirche loszusagen und sich seine eignen Normen als Lebenszweck zu setzen. In Frankreich kam dieser Drang, freie und große Ideale für die eigne Person aufzustellen, erst später zum Vorschein, im achtzehnten Jahrhundert aber desto mächtiger und allgemeiner, also demokratischer, wenn auch der Bauer zu¬ nächst noch keinen Teil daran hatte. Nach Voltaire ist „der Staat nichts als ein Phantom und nichts als die Summe der Einzelnen. Die Kirche und der Staat haben keinen Zweck, keinen Sinn, wenn sie nicht auch Einzelnen dienen. Was sie bisher zu unternehmen pflegten, waren meist sinnlose Greuel, Ver¬ folgung und Krieg, grausame Bestrafung und Vernichtung von Einzelnen, wozu kein Recht vorhanden war; der Wohlfahrt des Einzelnen haben sie selten oder nie gedient. Lor^s? l'irMins. Nieder mit dem Staat!" Der Gedanke an Re¬ formen trat mehr und mehr hinter dem zurück, die Kirche zu zerstören und den Staat zu unterjochen; als aber 1793 dieser Gedanke verwirklicht wurde, zeigte es sich, daß der neue Staat weit härter und grausamer verfuhr als der furcht¬ barste Absolutismus. Die Verunstaltung des deutschen Liedes uf den, musikpädagogischen Kongresse in Berlin im April dieses Jahres wandte sich der Schulinspektor Fricke aus Hamburg gegen die Verunstaltung der Volkslieder und führte einige Beispiele als Beweise an. Die Stelle: Was mag der Traum bedeuten, mein Liebchen, bist dn tot! ist verballhornt in: Was soll das Laub bedeuten, das fahle Sommerland? In einem andern Liede heißt es: O Mägdlein, wie falsch ist dein Gemüte! Diese Stelle ist einfach gestrichen worden. Das Lied: An der Saale Hellem Strande — darf überhaupt nicht mehr gesungen werden, weil es darin heißt: Tücher wehen in der Luft! Auch das Lied: O Straßburg —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/258>, abgerufen am 30.04.2024.